Mit einem Baby oder Kleinkind waren deine Aufgaben ziemlich klar. Du hast auf seine Ernährung, seine Gesundheit und seinen Schlaf geachtet. Es konnte laufen und sprechen lernen. Du hast ihm Sicherheit und Nähe gegeben und es im Kleinen ermutigt, eigenständig zu handeln und mit anderen Menschen zurechtzukommen. Aber welche Aufgaben hast du nun?
Dein Kind wirkt immer noch klein und hilfsbedürftig, andererseits aber doch irgendwie groß und soll plötzlich auch einen großen Teil des Tages mit ganz neuen Herausforderungen ohne dich bewältigen. Schon im Kindergarten wirkte es am Ende fehl am Platz: so groß im Vergleich zu den Kitaneulingen und ab und zu lustlos in den seit Jahren gewohnten Räumen.
Ja, spätestens ein halbes Jahr vor dem Schulstart spüren die moisten Eltern (und ihre Kinder), dass sich etwas ändert. Du musst mit deinem Kind zur Schuleingangsuntersuchung im Gesundheitsamt und zur Anmeldung in der Grundschule. Das sind oft die ersten Termine, bei denen dein Kind ohne deine Begleitung mit Fremden sprechen oder sich untersuchen lassen soll.
Loslassen wird ein Thema. Manchmal geht das ganz leicht: Dein Kind hat Lust und quatscht die Amtsärztin voll. Du kannst lächelnd im Flur sitzen und hörst stolz durch die Tür zu, wie es das meistert. Manchmal ist es schwieriger. Dann mag dein Kind nicht in den Raum, ist still und besorgt. Und dir geht es ähnlich. Im Kindergarten war noch alles so familiennah. Das wird nun anders.
Gegen Angst und Sorgen helfen Information und Pläne, damit du nicht in einem Ohnmachtsgefühl stecken bleibst. Wichtig ist dabei zu unterscheiden, wer die Bedenken hat: du und das Kind, nur das Kind oder nur du? Wenn du dir viele Gedanken machst und das Bedürfnis hast, viel zu reden und zu überlegen, drück das nicht einfach deinem Kind auf. Sortiere deine Sorgen mit anderen Erwachsenen. Halte sie von deinem Kind fern. Horche nach, ob es selbst Ängste hat, die Begleitung brauchen. Sogar ganz schüchterne Vorschulkinder gehen am ersten Schultag oft breit grinsend, stolz und interessiert in ihren Klassenraum. Manchmal ist es gut, wenn deine Gedanken nicht bei deinem Kind landen.
KINDERANGST
Alle Vorschulkinder kennen das: Gefühlt jede*r Erwachsene spricht sie darauf an, dass sie bald in die Schule kommen. „Hast du schon einen Ranzen?”, „Das wird so toll, wenn du Papa endlich etwas vorlesen kannst!” oder auch „Na, mach dich mal auf den Ernst des Lebens gefasst!”
Nicht alle Kinder gehen locker damit um. Wie auch? Wenn man Erwachsene auf die große Veränderung nach der Verrentung anspricht, können die sich ja auch kaum vorstellen, wie es warden wird. Und dein 5-jähriges Kind kann sich noch deutlich weniger ausmalen, wie der neue Alltag aussehen könnte.
Manche Kinder leben ganz im Gefühl der Vorfreude, und die darfst du mit deinem Kind feiern, wenn sie sich zeigt. Aber wenn es deinem Kind nicht so geht, braucht es deine Unterstützung. Seine Sorge oder auch Unlust ist verständlich.
Mag es sich gar nicht für Gespräche über die Schule öffnen, dann lass ihm diesen Wunsch. Die Einschulung kommt so oder so, dann könnt ihr entstehende Fragen zum Schulalltag klären. Aber über Gefühle solltest du mit deinem Kind sprechen. Angst und Unlust kannst du ohne Bezug zur Schule thematisieren: Kennst du sie auch? Woher? Wie gehst du damit um? Was kann dein Kind sich davon mitnehmen?
Bevor die Schule aber überhaupt startet, steht der Abschied vom Kindergarten an. Dein Kind braucht einen leichten Übergang zum neuen Lebensabschnitt. Input dazu bekommst du im Kapitel „Abschied und Vorfreude” ab S. 40.
Im Grundschulalter braucht dein Kind deine Begleitung, um in mehreren Bereichen reifen zu können. Vieles ist neu und schwierig für dein Kind. Hier zeige ich dir schon mal, welche Entwicklungsaufgaben anstehen.
Dein Kind sollte/wird …
• ein realistisches Selbstbild formen.
• lernen, mit Bewertungen zurechtzukommen.
• sprachlich und intellektuell reifen.
• mit Gefühlen besser umzugehen lernen.
• mit neuen Rechten und Pflichten zurechtkommen.
• sich immer unabhängiger fühlen und mit neuen Wegen, Zeiten, Räumen oder Medien klarkommen.
• gleichaltrige und andere Personen außerhalb der Familie höher gewichten.
• sich mehr Gedanken zu seiner Geschlechterrolle machen.
• eigene Moralvorstellungen ausbilden.
• sein eigenes Weltbild formen.
• motorisch und körperlich reifen.
Es beschäftigt sich mehr mit sich selbst, geht mehr von dir weg, auch zu anderen hin, und wird ein Mensch mit mehr Wissen, Meinung und Individualität. In vielem ist das noch überschaubar, denn schließlich hast du noch keinen Teenie vor dir.
Dennoch ist es notwendig, dass du dich in deiner Elternrolle neu aufstellst. Du bist der Elternteil in der Beziehung und immer noch sehr in der Verantwortung, aber immer mit dem Ziel, Hilfe zur Selbsthilfe zu geben (Beziehungsstärke und Bewältigungskraft).
Das heißt, deine Aufgabe ist Begleitung, die viel Platz für dein Kind, seine Gedanken und die oben aufgezählten Entwicklungsaufgaben lässt. Außerdem sollte es durch dich lernen, wie es vermehrt auch allein Herausforderungen regeln kann.
Du siehst, dass das Grundschulalter eine Veränderung auf sehr vielen Ebenen ist. Die Einschulung gibt oft den Anstoß für neue Entwicklungsschritte, denn dein Kind geht ein bisschen weiter hinaus in die Welt als bisher.
Du warst bislang Schutz und Halt und hast deinem Kind seine direkte Umgebung erklärt. Eure Beziehung wird sich nach und nach verändern. Vielleicht hast du das schon im Vorschuljahr gemerkt, weil dein Kind unzufriedener war und eigenständiger sein wollte. Ich zeige dir, wo der Weg hingeht, damit du sicher Schritt halten kannst.
Gib immer noch Halt und Nähe, aber lass auch viel mehr los. Das ist nicht nur konkret räumlich gemeint, weil du weniger ins Schulleben involviert bist als in den Kitaalltag. Nein, es ist viel allgemeiner gedacht: Loslassen bedeuten in diesem Fall zutrauen, vertrauen, Spielräume lassen. Wenn du deinem Kind nach und nach mehr Verantwortung überträgst (ein eigener Haustürschlüssel, allein einkaufen, selbstständig die Freizeit planen und mehr), kann es Selbstvertrauen entwickeln. Es wird sich stark, sicher und geliebt fühlen. Ihm wird es mit der Zeit leichter fallen, Entscheidungen zu treffen oder auch mit Fehlern umzugehen. Mit eurer Beziehungsstärke im Rücken und der wachsenden Selbstsicherheit kann dein Kind im Umgang mit Gleichaltrigen auch wahrscheinlicher Nein sagen und Gruppendruck widerstehen.
Wie geht das? Dein Kind benötigt Zutrauen von dir. Du bleibst Beschützer* in und Anker in eurer Beziehung. Aber du komm auch immer wieder aus deiner Komfortzone heraus und trau deinem Kind etwas mehr zu, als du spontan dachtest. Dann könnt ihr miteinander wachsen.
Beispiel: Mit der Einschulung ergibt sich erstmals die Situation, dass dein Kind an einem Wochentag zwei Stunden allein zu Hause sein muss, bis du kommst. Das fühlt sich ungut an? Total verständlich. Schau hin: Warum macht dir das Sorgen? Was könnte schlimmstenfalls passieren? Wie käme dein Kind mit dem Notfall zurecht? Baut möglichen Problemen ein bisschen vor und wagt dann den neuen Schritt. Seht nicht den ganzen Berg, der zu schaffen ist, sondern nur den nächsten Schritt. Das gibt Bewältigungskraft.
Wichtige Erkenntnisse fasse ich dir in diesem Ratgeber zusammen. Sie sind mit Herzchen markiert. Du kannst dir den einen oder anderen Satz für dich auf einem Blatt notieren und es dir als Erinnerung aufhängen, wenn dir etwas davon besonders schwerfällt. Zum Beispiel wenn du nicht gut annehmen kannst, dass dein Kind das heimische Nest in kleinen Schritten verlässt, oder aber wenn sein Verhalten sehr herausfordernd und stressend für dich ist. Die Erinnerung hilft dir dabei, dich immer wieder auf Beziehung einzulassen. Du musst nicht hart und autoritär werden.
Du traust deinem Kind zu, Herausforderungen zu bewältigen.
LOSLASSEN
Gibt es Aufgaben, die du bislang immer für dein Kind übernommen hast, die andere Kinder aber schon allein erledigen? Nervt dich das oder signalisiert dein Kind, dass es sie gerne eigenständig übernehmen würde? Fang damit an: Lass los. Übergib Verantwortung.
Wenn es dir schwerfällt, sprich mit deinem Kind offen darüber, was dich daran sorgt. Findet kleine Schritte, damit der große Schritt gelingen kann. Hilfreich ist oft die Frage: „Warum eigentlich nicht?”
Du bist immer noch ein wichtiges Vorbild für dein Kind und wirst es sehr wahrscheinlich auch in der Pubertät noch bleiben, obwohl das kaum ein Teenie jemals zugeben würde. Dennoch wird es als Grundschulkind langsam mehr zu sich selbst finden, anstatt dir einfach vieles nachzuahmen. (Das Ergebnis kann sein, dass es im Erwachsenenalter dennoch vieles wie du machen wird, aber nach reiflicher Überlegung.)
Wie geht das? Dein Kind braucht in eurer Beziehung mehr Platz für sich. Gib ihm diesen. Nicht nur durchs Loslassen, sondern auch indem du deinem Kind Raum lässt…
• es selbst zu sein.
• im Kleinen groß sein zu üben.
Schon im Kleinkindalter hast du sein Wesen bemerkt und ihm sicher dabei geholfen, schüchtern, wild oder eben einfach so zu sein, wie es ist. Jetzt wird es immer wichtiger, dass dein Kind auch in seinen Interessensbereichen sein darf, wie es ist. Gerade mit der Einschulung zieht wieder sehr viel Fremdbestimmung in ein Kinderleben ein und dein Kind muss sich vielleicht mit Sachkunde beschäftigen, obwohl es am liebsten den ganzen Tag nur zählen würde. Lass ihm deshalb die Chance, in seiner Freizeit selbstbestimmt Interessen nachzugehen.
Beispiel: Du bist sehr musikalisch und hast dein Kind bisher gern mitgenommen in die Welt aus Klängen, Stimmen und auch Tanz. Dein Kind war vor Kurzem mit einem Freund oder einer Freundin allerdings auf einer Jugendfarm zu Gast und will seine Zeit nun am liebsten nur noch mit dem Versorgen von Tieren und Bauen von Bretterbuden verbringen. Nimm es an, wenn sein Weg sich jetzt ändert. Die Zeiten in Musikkursen waren dennoch nicht „umsonst”. Investiere Beziehungszeit, um zu sehen und zu verstehen, was dein Kind beschäftigt. Auch wenn die Themen dich nicht so packen. Bislang hast du deinem Kind die Welt gezeigt. Nun wird sich das immer mehr umkehren.
RAUM FÜR DEIN KIND
An welcher Stelle hat dich gepiekt, dass dein Kind etwas anders sieht oder etwas anderes machen will als du? Beginne dort. Gib ihm Raum, sich auszuprobieren. Auch wenn dabei etwas schiefgehen sollte. Füg dich mal seinen Entscheidungen und Wünschen. Dein Kind muss es umgekehrt oft genug tun und unheimlich viel kooperieren.
Im Baby- und Kleinkindalter fand der Austausch zwischen dir und deinem Kind oft ohne viele Worte statt. Ihr habt gezeigt, gekuschelt, gespielt. Mit wachsendem Wortschatz wurde das Miteinander sicher an vielen Stellen leichter, weil du endlich verstanden hast, dass dein Kind eine Banane wollte und nicht singen, als es auf seinen Mund zeigte. Dennoch blieb für dein Kind das Nonverbale sehr wichtig: Guckst du nett, berührst du es lieb? Gerade die Streicheleinheiten fallen auch jetzt sicher nicht komplett weg, aber an manchen Stellen schon. „Hand in Hand durch die Stadt? Hm, mal gucken.”
Miteinander zu sprechen, wird dafür wichtiger. Ihr werdet im Grundschulalter immer mehr reden, oft nicht mehr konkret auf das Hier und Jetzt bezogen: „Was könnte sein? Wie wäre es, wenn …?” Dein Kind wird für sich spüren, dass Reden ihm oft besser dabei hilft, die Welt zu verstehen und Geschehenes zu sortieren, als Spielen. Das Spiel war in den ersten Jahren das Mittel der Wahl. Jetzt braucht es dich zum Quatschen.
Wie geht das? Eure Beziehung wird reifer. Das Reden kann euch noch mehr verbinden und auch dabei helfen, einander noch besser kennenzulernen. Dafür braucht es Zeit: Gelegenheiten, bei denen du und dein Kind reden könnt, obwohl die Tage noch vollgepackter sind durch die Schule. Ein Kind, dem du zuhörst, dem du offen und altersgerecht antwortest, wird sich kompetenter im Umgang mit Gleichaltrigen oder auch Lehrkräften und dem Leben allgemein fühlen.
Hörst du deinem Kind wirklich zu und sprecht ihr häufig miteinander, bist du sicherlich auch in der Schule immer ganz dicht dabei, obwohl du selbst nicht dort bist. Du erfährst vieles oder kannst zumindest spüren, wie die Lage dort ist. Ihr seid beziehungsstark.
Auch bei Unstimmigkeiten kann das Reden euch nun immer besser helfen. Wenn ihr miteinander Lösungen sucht, wächst dein Kind und kann auch an anderer Stelle Kompromisse finden, sinnvoll diskutieren und helfen. Es kann bewältigen. Würdest du dein Kind im Streit beschämen und beschuldigen, anstatt Lösungen und Kompromisse zu suchen, triebe das einen Keil in eure Beziehung und würde auch gutes Konfliktlösen mit anderen Menschen behindern. Frag: „Wie konnte es dazu kommen? Was könnten wir verändern? Was wünschst du dir? Verstehst du, warum ich mir das so vorstelle?”
Beispiel: In den letzten Jahren hat dein Kind sich nach anstrengenden Tagen zurückgezogen und etwas Ruhiges gespielt. Du musstest immer viel Rätsel raten, was hinter dem Verhalten steckt. Langsam habt ihr die Chance, im gemeinsamen Gespräch immer besser herauszufinden, was in deinem Kind los ist. Endlich!
Du sorgst für zahlreiche Gesprächssituationen.
ZEIT FÜR GESPRÄCHE
Gibt es einen festen Moment pro Tag, in dem ihr gut miteinander reden könnt? Das muss keine halbe Stunde sein, aber ungestörte Minuten. Sonst schau mal, wo solch ein Ritual Platz hätte. Mit Kakao oder Tee, mit Kuscheln oder während ihr einander anschaut. Hausaufgaben und Aufräumen sollten nicht die Themen sein. Grundschulkinder leiden darunter, dass ihre Eltern mit ihnen zu viel über Pflichten sprechen. Frag stattdessen zum Beispiel, was dein Kind zuletzt geärgert hat oder was/wen es zuletzt nicht verstanden hat. Kommt dahin, dass ihr so etwas von unten, von oben, von außen, ganz neu betrachtet.
Wenn du schon vor der Grundschulzeit viel Wert auf eure Beziehung gelegt hast, wird sich da nicht viel verändern. Respekt, Augenhöhe, Vertrauen, Mitgefühl, Straffreiheit – all diese Grundpfeiler einer guten Eltern-Kind-Verbindung sind gleich, egal ob du mit einem Kleinkind, einem Teenie oder eben einem Grundschulkind umgehst.
Aber die Themen werden andere. Mit deiner 3-Jährigen diskutierst du über den Umgang mit Lebensmitteln, mit dem 16-Jährigen eher über den Umgang mit Alkohol. Und ab 6 Jahren wird es viel um die Schule gehen. Finde für dich einen Weg, um deinen Blick bei deinem Kind behalten zu können, anstatt zu sehr auf Noten und gesellschaftliche Erwartungen zu schauen. Das macht Miteinander aus!
Wie geht das? Zum guten Miteinander gehört „Aktives Annehmen”: Hinsehen und akzeptieren, wer dein Kind ist, was es ausmacht, was es kann, was ihm schwerfällt. Und nur da ein Problem zu sehen und anzugehen, wo dein Kind oder ihr als Familie einen Leidensdruck spürt.
Aktives Annehmen
Vielen Eltern hilft ein von mir geprägter Begriff – das „Aktive Annehmen”. Er bringt auf dem Punkt, was schwierige Situationen zwischen dir und deinem Kind ganz einfach auflösen kann: Es geht um mehr Gelassenheit, die eurer Beziehungsstärke guttut. Und es geht ums Aktivwerden – um die Bewältigungskraft (S. 12) also.
Annehmen meint, konkret zu verstehen und zu akzeptieren, was dein Kind und du mitbringt, zum Beispiel, dass du ein besonders wildes
Kind hast oder dass dir selbst der Umgang mit Wut schwerfällt. Es ist so. Nimm es an.
Aktiv bedeutet, gleichzeitig zu schauen, was du in der Sache tun kannst, zum Beispiel Unterstützung suchen, um deinem Kind besser zu helfen, mit seiner Wesensart zurechtzukommen. Oder aber um dir zu helfen, weniger schnell aufzubrausen. Es muss nicht so bleiben wie bisher. Geh es an.
Gutes Miteinander bedeutet auch, im Umgang mit deinem Kind nicht zu streng und auch nicht zu eng zu sein:
• Nicht autoritär zu kontrollieren, aber auch nicht zu grenzenlos und konfliktscheu zu sein.
• Nicht drohend, aber auch nicht mit überbordender Fürsorge zu handeln.
• Nicht von oben herab zu reagieren, auch nicht, wenn es noch so liebevoll säuselnd verpackt ist.
• Nicht zu viel zuzumuten und nicht zu viel abzunehmen.
Es zählt der Mittelweg: zugewandt und mitfühlend fordern und fördern. Beziehungsstark sein!
Ein Kind, das schon im Kleinkind- und besonders im Vorschulalter Mitgefühl spürt und im guten Miteinander mit dir ist, kann auch selbst eher mitfühlend und beziehungsstark handeln. Es ist eher sozial und zugewandt. Es spürt wahrscheinlich gut, was okay ist und was nicht, und kann zwischenmenschliche Spielregeln akzeptieren. Es wehrt sich eher respektvoll, aber auch bestimmt gegen Ungerechtigkeiten. Es hinterfragt Aufgaben und Bestrafungen, aber erledigt mündig, was ihm als sinnvoll beschrieben wurde.
Gutes Miteinander bedeutet auch, wohlwollend zu bleiben. Egal wie gemein ein Verhalten deines Kindes wirkt, such seinen guten Grund dahinter. Das ist einer der wichtigsten Beziehungsschlüssel, die du hast. Erwartest du, dass dein Kind dich bösartig hintergehen oder stressen will, ist das keine Basis dafür, mit ihm in gutem Miteinander zu bleiben.
Der gute Grund
Pädagogische oder psychotherapeutische Fachkräfte arbeiten mit dem Konzept vom guten Grund. Kinder entwickeln bestimmte Verhaltensstrategien, die es ihnen möglich machen, Belastungen zu ertragen. Welche Strategie sie nutzen, hängt von ihren Fähigkeiten, ihren Bedürfnissen und Lebensumständen ab. Sie haben einen guten Grund für ihr Verhalten. Es ist nicht niederträchtig.
Im Kindesalter sind diese Strategien nicht selten mit Aggressionen verbunden, denn sie haben noch nicht gelernt, ihre Gefühle in Worte
zu verpacken, um beispielsweise sofort ins Gespräch zu gehen und zu sagen: „Du, Mama, wir haben heute so viel gestritten. Hast du mich noch lieb? Können wir uns mal in den Arm nehmen?”
Beispiel: Schaut dein Kind dich nach einem konfliktreichen Tag durchdringend an, während es die volle Salatschüssel vom Tisch schiebt, sodass sie zu Boden fällt, fühlst du dich wahrscheinlich zuerst provoziert und ungerecht behandelt. Aber dein Kind ist nicht politisch aktiv und will gezielt die Staatsmacht provozieren. Es möchte Sicherheit, Nähe und Kontakt, denn das ist sein emotionales Bedürfnis. Auf dieser Basis kannst du auf dein Kind zugehen: „Was ist denn los? Hattest du einen doofen Tag?” Trotzdem kannst du klarmachen, dass sein Verhalten nicht in Ordnung ist, sowie dein Kind auffordern, mit dir gemeinsam den Salat zu retten: „Ich nehme dich jetzt mal in den Arm, aber dann müssen wir das gemeinsam aufräumen. Es ist zu schade um den Salat.” Ihr bleibt im Miteinander. Würdest du dein Kind als bösartig sehen, wäre die Situation schwer einzufangen. Du würdest schimpfen und strafen, dein Kind beschämen. Es hätte keine Chance, sein Bedürfnis nach Nähe erfüllt zu bekommen und gesund zu kooperieren.
Dein beziehungsstarkes Miteinander mit deinem Grundschulkind kann eure gute Beziehung aus den Jahren davor erhalten, egal wie heftig der Wind euch nun um die Nase weht. Spannend ist, dass Kinder zwischen 6 und 10 Jahren mehrheitlich sehr deutlich sagen, dass sie sich mehr Zeit mit den Eltern wünschen. Bohrt man genauer nach, geht es nicht um acht statt zwei Stunden, sondern um die Aufmerksamkeit: mehr zugewandte, innige Zeit.
Beispiel: Dein Kind hat nicht für einen Test gelernt und bringt eine 6 mit nach Hause. Beschämst und beschimpfst du es, werden Stress und Lernbereitschaft nicht zunehmen, dafür aber die Distanz zu dir. Nimmst du dein Kind nur in den Arm und meckerst über die schweren Aufgaben der Lehrkraft, erfährt dein Kind Trost, aber lernt nichts fürs nächste Mal. Am besten ist der dritte Weg: Tröstest du es, aber schaust auch mit ihm hin, wieso es das Lernen vergessen hatte und wie das in Zukunft besser laufen kann, begegnest du deinem Kind liebevoll schubsend.
Es spürt Nähe und Sicherheit, aber erhält auch Hilfe zur Selbsthilfe – Bewältigungskraft. Du gibst deinem Kind Halt und Orientierung.
Du bleibst interessiert und zugewandt. Du erhältst dir deine beziehungsorientierte Haltung.
VERBINDUNG IM STREIT
Denk an euren letzten Konflikt. Wahrscheinlich siehst du zuerst, was dein Kind anders machen sollte (nicht gleich hauen) oder auch, was du ändern willst (nicht so viel schreien). Aber denk mal neu: Was müsst ihr gemeinsam anders machen im Streit?
Geht als erstes in Beziehung, findet wieder zueinander. Sonst kann sich keiner von euch beiden verändern und ihr könnt auch keine gute Lösung finden. Denn wenn es nur gegenseitige Vorwürfe hagelt, erfährt niemand, was die andere Seite braucht.
Gibt es schon ein Wort, einen Satz oder eine Geste, die euch im Konflikt daran erinnert, dass Beziehung vor Lösung steht? Wenn nicht, sucht gemeinsam danach: zum Beispiel eine Hand reichen, den Arm streicheln, näher zum anderen gehen.
Du hast erfahren, dass dein Kind mehr Raum für sich bekommen soll, du es mehr loslassen solltest und ihr mehr im Reden klären könnt. Das klingt schon leichter, als es die ersten Jahre war. Für dein Kind bedeutet diese Entwicklung auch Abnabelung. Doch was ist mit der anderen Seite der Beziehung? Was ist mit dir? Na, wenn dein Kind sich mehr loslöst, wird auch der Platz wieder größer, den du einnehmen kannst.
Wie geht das? Du darfst dir mehr Raum nehmen – aber fühlst dich damit vielleicht noch unsicher. „Darf ich das?”, fragen sich nicht wenige Eltern, die ihr Kind in den Jahren vor der Einschulung intensiv begleitet haben. Manchmal klopft da ein Schuldgefühl an. Das ist nicht gerechtfertigt. Es wird sicher ohnehin noch eine ganze Weile ein Hin und Her bleiben: mehr Nähe, mehr Freiraum und wieder mehr Nähe. Du bleibst in ganz vielen Bereichen wichtig. Dein Kind ist noch lange keine erwachsene Person und noch nicht mal ein Teenie.
Aber jeden Millimeter, den es sich in die Welt hinauswagt, darfst du für dich besetzen mit Selbstfürsorge, gesundem Egoismus, deinen Interessen und Beziehungen. Und wenn du spürst, dein Kind braucht dich doch wieder mehr, geht es in eurer Beziehung wieder einen Schritt zurück.
Genauso wirst du manchmal merken, dass dein Kind schneller einen Schritt nach vorne will als du gedacht hast. Frag dein Kind, ob es mehr Nähe, Hilfe oder mehr Loslassen benötigt, wenn du unsicher bist.
ANHÄNGLICHKEIT
Vielleicht hast du auch ein Kind, das anhänglicher ist als andere, als „der Durchschnitt”, als die Kinder in eurem Bekanntenkreis, in der Verwandtschaft oder die Kinder der Menschen, die in eurem Umfeld gerne vergleichen. Und vielleicht bist du nicht so selbstsicher und es macht dich unruhig, dass dein Kind da anders ist. Du fragst dich, ob alles gut werden wird. Ich glaube daran, dass sich alles gut entwickelt, wenn du nah an deinem Kind bist, ihm Zeit gibst, hinschaust, was es schon kann, und es nicht dauerhaft kleinhältst oder aber überforderst. Mute ihm kleine Schritte zu. Dann hat auch dein Kind irgendwann breite Flügel auf dem Rücken, marschiert ohne dich los und ist bewältigungskräftig!
Beispiel: Du möchtest ein Wochenende allein wegfahren. Dein Kind hat ohnehin eine enge Freundschaft aufgebaut und kann bei der anderen Familie übernachten. Doch dann wird es nervös, unsicher. Gib deine Pläne nicht sofort auf. Trau der anderen Familie zu, dass sie dein Kind auffangen kann. Versuch nicht nur schwarz-weiß zu sehen: wegfahren oder nicht wegfahren. Es gibt kleine Schritte dazwischen: Was kann dein Kind tun, wenn es dich vermisst? Zu wem könnte es gehen, wenn es bei der befreundeten Familie nicht klappt? Was könnt ihr jetzt schon verabreden fürs Wochenende danach? Trau dich und trau deinem Kind mutige Schritte zu. Und komm wieder mehr bei dir an. Das tut eurer Beziehungsstärke gut.
Du traust dich, dir wieder mehr Freiräume zu nehmen. Du gehst gelassen damit um, wenn dabei etwas nicht ganz rund läuft.
Wann warst du zuletzt in der Stadt und hast keine Hose in Größe 110, kein Kinderpuzzle und keine Backmischung für die Kita gekauft, sondern nur etwas für dich getan? Nimm dir die Zeit, und wenn es nur für ein Heißgetränk in einem schönen Café ist, während dein Kind zum ersten Mal eine Stunde allein zu Hause bleibt. Damit schlägst du zwei Fliegen mit einer Klappe: Du spürst dich und dein Kind darf wachsen. Dabei hast du Schuldgefühle? Wieso? Erstens ist Gammeln wichtig, denn danach hast du wieder Kraft. Und zweitens lernt dein Kind, wenn du es mal allein lässt und nichts tust: Es muss allein klarkommen.
Dir fällt es dennoch schwer, das anzugehen? Dann verknüpfe deine gute Zeit mit einer besonderen für dein Kind: Was darf es tun? Wer kann vielleicht zu Besuch kommen? Was könntest du im Anschluss mit ihm machen, sodass die Vorfreude helfen kann, die Alleinzeit zu schaffen?
Dein Kind reagiert mit großer Angst? Dann bau Sicherheitsnetze ein: Wen außer dir kann es anrufen, wenn es sich nicht wohlfühlt? Was kann es tun, wenn die beängstigende Situation tatsächlich eintreten sollte? Ist das überhaupt wahrscheinlich?
Welche Veränderung braucht eure Beziehung also?
• Trau deinem Kind zu, Herausforderungen zu bewältigen.
• Lass deinem Kind Platz für eigene Entscheidungen.
• Sorge für zahlreiche Gesprächssituationen.
• Bleib interessiert und zugewandt. Erhalte dir deine beziehungsorientierte Haltung.
• Trau dich, dir wieder mehr Freiräume zu nehmen.
• Geh gelassen damit um, wenn dabei etwas nicht ganz rund läuft.
Das klingt nach ganz schön viel? Beziehungsstarkes Miteinander ist viel und doch auch wieder wenig. Investiere deshalb in gute Gewohnheiten. Das ist meist ein ordentlicher Brocken Arbeit. Aber wenn die Strukturen stehen, wird vieles deutlich einfacher. Wenn ihr zum Beispiel feste Gesprächszeiten habt, können diese Gewohnheiten lange bleiben. So kommt ihr beziehungsstark durch die Grundschulzeit und könnt in der Pubertät darauf aufbauen.
Bis hierhin hast du gesehen, wie sich deine Rolle verändern sollte und was eure Beziehung stärken kann, damit dein Kind die Entwicklungsaufgaben im Grundschulalter meistern kann. Was dein Kind ganz konkret in den verschiedenen neuen, veränderten und teilweise schwierigen Bereichen benötigt, zeige ich dir nun.
Die Kapitel, die aus Kindersicht formuliert sind, zum Beispiel „Schüchternheit: Ich will im Kindergarten bleiben!” (ab S. 43) befassen sich mit typischen, aber teilweise sehr individuellen Problemen. So kannst du schnell das finden, was dich vielleicht gerade umtreibt. Liest du das Buch ohne akutes Problem im Hinterkopf, lies am besten alle Kapitel, um dich in der Begleitung deines Kindes rundum sicher zu fühlen. Auch bei einem konkreten Problem können dir alle Kapitel in Summe dabei helfen, die Grundschulzeit mit deinem Kind gut zu meistern.