Sechster Teil

Erlösung

» Falschheit heilet Falschheit,

wie das Feuer

in den versengten Adern Feuer kühlt. «

William Shakespeare

KAPITEL 23

Türkische Bäder, Edinburgh

Als Donald Swanson am Tatort eintraf, wimmelte es in dem Bad von lautstark protestierenden Menschen, die sich vor Kälte zitternd in ihre großen, weißen Badetücher wickelten. Inspector Rankin hatte alle Hände voll zu tun, sie zu beruhigen. Sie wollten sich anziehen, sie wollten gehen, sie wollten sich wenigstens in dem Schwimmbecken aufwärmen. Doch ein Mann hatte all das verhindert. Arthur Conan Doyle, der das Zepter in die Hand genommen und den Zugang zum Separee, wo die Leiche lag, notdürftig mit Verbandszeug abgesperrt hatte, wachte über die bunt gemischte Gesellschaft von Männern und Frauen, die er auf der rechten Seite des Badehauses zusammengepfercht hatte. Mit ausgebreiteten Armen stand der große Mann da und erklärte, alles müsse so bleiben, wie es sei, bis die Polizei einträfe.

Als sie es in Gestalt von Chief Inspector Swanson und seinem Sergeant tat, und er sie durch die Tür auf sich zukommen sah, stieß er vor lauter Überraschung einen Freudenschrei aus. »Potztausend! Mr Swanson!«, rief er. »Das kann nicht wahr sein. Wie kommen Sie so schnell von London hier her? Wir haben ja gerade erst Meldung gemacht.«

»Zauberei«, sagte Swanson und ließ seinen Blick durch die Menge schweifen. Zwei Dutzend halbbekleidete Männer und Frauen auf einem Haufen waren ein merkwürdiger Anblick. In ihre dicken, weißen Badetücher gehüllt, erinnerten sie ihn an Schafe, die man auf ihre Schlachtung warten ließ.

»Sprechen Sie es nicht aus, Chief Inspector«, sagte Conan Doyle, hielt sich den Zeigefinger vor die Lippen und senkte die Stimme zu einem Flüstern. »Der Yard benutzt Astralprojektionen, stimmts?« Und als Swanson ihn nur verwirrt anblickte: »Sie dürfen selbstverständlich nicht darüber reden. Geheimsache, was? Das Innenministerium. Im Grunde war klar, dass man sich früher oder später Hilfe aus der spirituellen Welt holen würde. Ich dachte allerdings nicht, dass es schon so bald so weit wäre.«

Swanson, der sich bereits öfter über Conan Doyle gewundert hatte, zog ungeduldig die Augenbrauen zusammen. »Wo ist der Tote?«

Conan Doyle führte sie zu einer Tür, vor der ein hagerer Mann mit hoher Stirn, grauen Haaren und Adlernase stand. Er sah aus wie Sherlock Holmes. »Das ist mein alter Professor Joseph Bell. Ich bat ihn niemanden in den Raum zu lassen.«

»Wie ich sehe, sind Sie im Gegensatz zu Ihrem Sergeant verheiratet, Chief Inspector, jedoch selten zu Hause.« Bell musterte ihn von Kopf bis Fuß. »Zwei Söhne. Nein, warten Sie – eine Tochter und ein Sohn. Ihre Frau ist Linkshänderin.« Er lächelte geheimnisvoll.

»Und Sie sind einer der drei Weisen aus dem Morgenland, nehme ich an«, sagte Swanson, der jetzt für solche Spitzfindigkeiten keine Zeit hatte. Er duckte sich unter der behelfsmäßigen Absperrung hindurch und öffnete die Tür.

Die nackte Leiche lag in einem Separee im blutigen Wasser einer großen Badewanne. Zahllose blutige Fußabdrücke führten um sie herum und von ihr weg zur Tür.

»Wer hat den Toten entdeckt?«

»Einer der Angestellten«, antwortete Conan Doyle. »Professor Bell und ich sind der Überzeugung, der Mörder ist noch im Gebäude. Er tötete den Mann und reinigte sich im großen Schwimmbecken vom Blut. Man sieht noch die verschmierten Fußabdrücke, die zum Beckenrand führen. Wie schade, dass sie nicht deutlicher sind, sonst könnte man sie mit denen der Leute vergleichen. Na, jedenfalls ließen wir umgehend die Türen verschließen und niemanden hinaus.«

»Das war sehr umsichtig von Ihnen.« Swanson sah Bell an. »Hat jemand in der Zwischenzeit die Leiche angefasst oder den Tatort betreten?«

»Niemand«, sagte Conan Doyle. »Oh, nein, nein, das stimmt ja gar nicht. Ein Arzt war für kurze Zeit bei ihm. Er hat seinen Puls gefühlt und ihn für tot erklärt. Sein Name ist Lysander.«

»Lysander?« Swanson stutzte. »Kommt mir bekannt vor.«

»War das nicht der Arzt, der Mrs Hollister betreute?«, überlegte Phelps.

»Ganz recht«, sagte Swanson. »Wo ist der Mann jetzt?«

Conan Doyle wies mit der Hand auf die frierende Gruppe. »Er ist bei den anderen dort drüben.«

Der Arzt sah ohne seine Kleidung ganz anders aus, fand Swanson. Doch es war tatsächlich derselbe Mann, den sie während ihres Besuchs bei Isobell Collins in Bilston getroffen hatten.

»Was für ein Zufall«, meinte Lysander und strich über seinen krausen Backenbart. »Als ich Ihnen die Bäder empfahl, dachte ich nicht, dass wir uns unter solchen Umständen wiedersehen würden.«

»Wir auch nicht, Doktor«, sagte Swanson, der zu Zufällen seine ganz eigene Meinung hatte. »Sie haben den Toten untersucht?«

»Nur oberflächlich. Ich stellte den Tod fest. So, wie es aussieht, wurde er mit dem Handtuch erdrosselt und anschließend im Genitalbereich verstümmelt. Daher das viele Blut. Sein Geschlechtsteil liegt dort drüben neben dem Messer.«

»Abgeschnitten?« Sergeant Phelps hielt sich die Hand vor den Mund und wandte sich mit dem Würgereiz kämpfend ab.

Lysander nickte. »Es ist genau wie bei diesem Mord in London.«

»Der Tote in der Untergrundbahn«, sagte Bell. »Arthur hat eine Theorie dazu.«

Swanson wandte sich an den Arzt. »Sie verwalten den Fairweather Besitz, wie ich hörte?«

»Das ist richtig, Chief Inspector.« Lysander nickte wieder. »Aber was tut das hier zur Sache?«

»Möglicherweise gar nichts«, erwiderte Swanson. »Wir werden sehen. Waren Sie kürzlich in London, Doktor?«

»Das war ich in der Tat. Wieso fragen Sie?«

»Reine Neugier.«

Inspector Rankin kam zu ihnen. »Wir haben die Personalien der Leute aufgenommen«, sagte er. »Ich denke, wir können sie jetzt nach Hause schicken. Niemand hat etwas gesehen oder gehört. Wir lassen dann die Leiche wegbringen, wenn es Ihnen recht ist.«

»Es ist Ihr Fall, Inspector«, sagte Swanson. »Weiß man schon, wer der Tote ist?«

»Noch nicht.« Rankin verzog den Mund, als er einen Blick auf die Leiche warf. »Aber sobald wir seine Habseligkeiten gefunden haben, werden wir es wissen. Er wird schließlich nicht nackt hergekommen sein.«

Fairweather Manor

Percival Lysander war wenig erfreut, als Chief Inspector Donald Swanson und Sergeant Phelps ihn noch am selben Abend um kurz vor neun Uhr aufsuchten. Und sie waren nicht allein. Benjamin Rickman, Frederick Greenland, Badger und Lionel Dale begleiteten ihn.

»Was hat das zu bedeuten, Gentlemen«, fragte Lysander verwundert, als das eingeschüchterte Dienstmädchen sie zu ihm ins Studierzimmer führte. »Hat das nicht bis morgen Zeit?«

»Hat es nicht«, sagte Swanson.

»Sie hätten zumindest anrufen können.« Er kam hinter einem riesenhaften Schreibtisch hervor, auf dem eine Lampe brannte und zahlreiche Papiere lagen. »Ich arbeite noch. Wer sind all diese Leute?«

Swanson sagte es ihm.

»Und worum geht es?« Lysander sah Badger an. »Du meine Güte, warum sagen Sie nicht gleich, dass der Junge verletzt ist? Hat er sich geprügelt?«

»Er wurde zwei Mal überfallen«, sagte Swanson. »Im Zug von London nach Inverness. Und ein zweites Mal in einer Hütte in Dingwall.«

»Das ist ja fürchterlich.« Der Arzt schüttelte den Kopf. »Wer hat das getan? Und warum?«

»Jemand trachtet ihm nach dem Leben, Doktor«, sagte Swanson.

»Mein Gott!«

»Sie wissen genau, wer das ist. Und Sie wissen auch warum.«

Lysander stieß ein kleines, meckerndes Lachen hervor. »Woher sollte ich das bitteschön wissen?«

»Weil Sie derjenige sind, der versuchte, ihn umzubringen.«

»Das ist Unsinn, Mr Swanson. Ich kenne den Jungen ja gar nicht. Wenn es stimmt, was Sie sagen, dann kommt es mir eher so vor, als würden Sie einen Sündenbock suchen, weil sein eigener Vater nicht dazu in der Lage ist, auf den Jungen aufzupassen. Vielleicht interessiert es ihn auch einfach nicht.«

»Reden Sie nicht so, Lysander!« Lionel Dale hob drohend den Zeigefinger. »Freddy hier ist der beste Vater, den man sich denken kann. Also reden Sie nicht so!«

Badgers Gesichtsausdruck veränderte sich schlagartig. Er wurde leichenblass und ging langsam rückwärts zur Tür.

»Was hast du, Badger?« Frederick stellte sich neben ihn. »Was ist mit dir?«

»Sprecht doch nicht so, Lysander, sprecht nicht so«, flüsterte Badger kaum hörbar, aber in einem Ton, als würde er ein Gedicht rezitieren. »Liebt er schon eure Braut: ei nun, seid froh! Sie liebt euch dennoch stets.«

»Das ist Shakespeare«, sagte Frederick. »Eine Passage aus dem Sommernachtstraum.«

Badger hielt sich mit beiden Händen an Frederick fest. Dann hob er den Kopf. »Ich erinnere mich wieder. Der da …« Er deutete mit der Hand auf Lysander. »Das ist der Mann, der mich zum alten Specs gebracht hat.«

»Das ist ja blanker Unsinn.« Der Arzt starrte ihn an. »Was redest du da, Junge? Ich weiß nicht mal, wer der Kerl ist. Das höre ich mir nicht länger an.« Und er machte Anstalten, den Raum zu verlassen.

»Hiergeblieben, Mr Lysander!« Swanson ging auf Lysander zu und stellte sich ihm in den Weg. Und auch Lionel Dale machte ein paar Schritte in seine Richtung. »Sie waren es, der Lady Fairweathers Kind zur Welt brachte. Denn Sie waren der Arzt der Familie.«

»Das tat ich, ja.« Er schüttelte unwillig den Kopf. »Was hat das mit den Verleumdungen dieses Jungen zu tun?«

»Sie behaupteten, das Kind sei unter der Geburt gestorben.«

»Das ist es auch, Chief Inspector.«

»Wir haben das Grab heute im Beisein des Pfarrers geöffnet«, sagte Phelps. »Es ist leer.«

Ehe jemand reagieren konnte, machte der Arzt drei Schritte rückwärts, griff nach der Lampe auf dem Tisch und schleuderte sie in Swansons Richtung. Sie verlosch, ehe sie auf dem Boden zersprang. Dann rannte er zur Tür und riss sie auf.

»Nehmen Sie den Mann fest«, sagte Swanson zu den beiden Polizisten, die dahinterstanden und Lysander den Weg versperrten.

»Ich fragte mich, wie Lysander es fertigbrachte, den Eltern den Tod des Kindes vorzugaukeln. Doch ich nehme an, er gab dem Baby ein Beruhigungsmittel«, meinte Swanson, als sie alle wieder in der Polizeiwache in der Leonard’s Street waren. »Und dann brachte er das Kind nach Dingwall. Da blieb es, bei einer Ziehmutter, bis Gras über die Sache gewachsen war. Mit drei oder vier brachte er den Jungen zu Specs.« Swanson nippte an seinem Tee.

»Und warum hat der Kerl das getan?« Lionel Dale hatte ein Glas Whisky in der Hand.

»Aus demselben Grund, aus dem er Henry Fairweather tötete«, erklärte Swanson. »Denn er wird bei dem Reitunfall zweifellos seine Finger im Spiel gehabt haben. Er hatte ihn in der Trauer über den Verlust seines Kindes ein Papier unterzeichnen lassen, das ihn selbst als Nutznießer des Familienerbes einsetzte. Allerdings musste er die Erbfolge einhalten. Ich kam darauf, als ich den Namen des Toten aus dem Badehaus erfuhr. Reginald Fairweather. Er war Henry Fairweathers Cousin zweiten Grades.«

»Und warum brachte er ihn jetzt erst um?«, fragte Dale.

»Weil er vor drei Tagen erst aus Indien zurückgekehrt ist«, sagte Phelps. »Vorher kam er gar nicht an ihn heran.«

»Und wenn Sie, Mr Rickman, früher mit uns gesprochen hätten, wäre der Mann vermutlich noch am Leben.«

»Mein Auftrag konzentrierte sich auf das Wohl des Jungen, Sergeant. Dass es noch einen Cousin zweiten Grades in der Familie gab, der als Erbe in Betracht kam, war weder mir noch meinem Auftraggeber bekannt.«

Frederick drehte seinen Teebecher zwischen den Händen. »Badger ist also tatsächlich der Erbe eines Vermögens?«

»Eines beträchtlichen sogar«, sagte Rickman. »Sobald er volljährig ist.«

»Dann hat Lysander auch Horatio Ferguson ermordet?«, fragte Phelps später am nächsten Abend. Er war losgeschickt worden, beim Krämer eine Flasche Whisky zu besorgen, um sich bei den schottischen Kollegen für ihre Gastfreundschaft zu bedanken. Leider hatte der Chief Inspector nicht daran gedacht, ihm Geld mitzugeben, und so war es an dem Sergeant hängen geblieben, die Zeche zu zahlen. Sie hatten alle einen Fingerbreit davon getrunken und machten sich nun für die Nacht fertig.

»Das kann ich mir nicht vorstellen«, meinte Swanson, der sein Bettzeug aufschüttelte und eine Kerbe in das Daunenkissen schlug. »Welches Motiv sollte er für den Mord gehabt haben. Er musste Fairweather und Greenlands Jungen aus dem Weg haben, um an das Erbe zu kommen. Niemanden sonst.« Swanson setzte sich auf die Kante seiner Pritsche. »Mit Horatio Ferguson hatte er nichts zu schaffen. Ich denke, Lysander las über den Mord in der Untergrundbahn in der Zeitung. Dummerweise fand er dort ja sämtliche Details der Tat, weil Barnes der Vorarbeiter sie an die Presse verkauft hatte.«

»Und kopierte den Modus Operandi.«

»Exakt, Phelps. Er versuchte von seinem Motiv abzulenken, und den Mord an Fairweather einem anderen in die Schuhe zu schieben. Als ich bei Dr. Portman war und mir die Leiche betrachtete, erwähnte er, ein Kollege aus Schottland habe ihn kürzlich besucht und sich für den Fall interessiert.«

»Lysander«, sagte Phelps.

»Es würde mich nicht wundern, wenn er es gewesen wäre.« Er legte sich hin, die Hände im Nacken verschränkt. »Für den Mord in London, mein lieber Phelps, ist jemand anderes verantwortlich. Ich denke, ich weiß wer. Dummerweise haben wir aber auch nicht den geringsten Beweis dafür.«

Am nächsten Morgen um halb zehn traf ein Telegramm aus London für Swanson ein. Es war von Constable Stewart Evans und las sich wie folgt:

KEINE PERSON NAMENS AURELIA PARAPUZOSIA BEKANNT – STOPP – NUR EINE MOLUSKENART – TUT MIR LEID – STOPP – DC EVANS

Swanson legte das Telegramm auf den Tisch. Und da traf ihn mit einem Mal die Erkenntnis mit all ihrer Macht. »Phelps, mein Gott!«

»Was haben Sie, Sir?«

»Aurelia!«, rief er und schlug sich mit dem Handballen gegen die Stirn. »Wir sind blind gewesen. Wir hatten den Beweis die ganze Zeit über vor Augen. Oder wie Conan Doyles Sherlock Holmes es ausdrücken würde: Wir sahen es, aber wir beobachteten nicht. Besorgen Sie eine Droschke zum Bahnhof. Aurelia ist nicht der Name einer Frau.«

Sie hatten ihren Mörder.

KAPITEL 24

Collins & Collins, Gower Street, London

Chief Inspector Donald Swanson sah Anthony Collins schweigend an, als er in die Tasche griff, und den versteinerten Ammoniten aus Katzengold behutsam auf den Tisch legte.

»Sie haben ihn gefunden, meinen Talisman«, sagte der Tiefbauingenieur. Ein schwaches Lächeln spielte um seine Lippen. »Ich habe ihn schon überall gesucht.«

»Aurelia.« Swanson setzte sich. Die beiden uniformierten Constables, die ihn und Phelps begleitet hatten, standen rechts und links der Tür, bereit, Collins die Handschellen anzulegen. »Sie ist Ihnen am Ende zum Verhängnis geworden.«

»Was soll ich sagen, Chief Inspector. Wir haben beide unser Spiel gemacht – Sie und ich.« Er zuckte mit den Schultern und lehnte sich in seinem Sessel zurück. Die harte Fassade, die er Ihnen bei ihren vorherigen Besuchen gezeigt hatte, bröckelte merklich. »Nun ist es vorbei. Sie haben gewonnen. Ich werde es natürlich wie ein Ehrenmann akzeptieren. Aber sagen Sie – wo haben Sie sie gefunden?«

»Bei der Leiche von Horatio Ferguson«, sagte Swanson. »Sie lag die ganze Zeit über in einem Karton in meinem Büro. Allerdings ist mir erst sehr spät klargeworden, wie wichtig der kleine Ammonit war. Erst als Ihre Gattin erwähnte, dass Sie ohne ihn keinen Schritt machen, wurde es mir klar. Sie hatten ihn bei sich, als Sie Ferguson töteten und seine Leiche in den Lüftungsschacht warfen. Dabei haben Sie ihn verloren.«

»Bravo, Mr Swanson.« Er klatschte drei Mal leicht in die Hände. »Ich fürchte, so ist es wohl. Und ich nahm immer an, das Rauchen würde mich eines Tages umbringen. Wie man sich irren kann.«

»Was geschah an jenem Abend in der Gasse zwischen dem King’s College und dem alten römischen Bad, Mr Collins? Und warum ist es geschehen?«

»Sie wissen von dem Bad? Das ist interessant.«

»Nun, der Tote trug nichts weiter als zwei Tücher am Leib. Wir konnten ihre Spur zum Badehaus zurückverfolgen. Horatio Ferguson rauchte an der Hintertür, als Sie Ihren Club um zehn verließen, entspricht das soweit den Tatsachen?«

»Ferguson, der Bastard!« Collins ballte die Faust und schlug auf den Tisch. Die Arbeitsgeräte und Bleistifte hüpften und ein Papierstapel geriet ins Rutschen und stürzte wie eine Lawine zu Boden. »Ich sah ihn dort stehen, ja. Halbnackt und rauchend. Und ich ging zu ihm und sprach ihn an.«

»Und baten ihn, seine Geldforderungen einzustellen«, sagte Swanson. »Ferguson erpresste Sie, habe ich recht?«

Collins blickte ihn erstaunt an. »Woher wissen Sie das?«

»Es schien mir das Naheliegendste zu sein. Ein anderes Motiv war schwer vorstellbar. Ihrer Frau war der Mann unbekannt, daher schied Eifersucht als Grund für seine Ermordung aus. Und Mr Ferguson verfügte über ein beträchtliches Barvermögen, obwohl er in scheinbar ärmlichen Verhältnissen lebte.«

»Sie wissen, womit er mich erpresste, Mr Swanson?«

»Ich glaube es zu wissen, Mr Collins«, erwiderte er. Im Nachhinein ärgerte er sich über seine Unaufmerksamkeit. Die manikürten Fingernägel, die hellblauen Anzüge, und vor allem die grünen Krawatten. Sie waren ein Erkennungszeichen in diesen Kreisen, das hatte ihm Oscar Wilde einmal erzählt. Kein Wunder, dass er seine Frau kaum angerührt hatte. »Und falls es zutrifft, muss ich sagen, Sie haben mein tiefes Mitgefühl. Wollte Ihr Vater Enkel?«

»Sicher. Einen Erben für das Familienunternehmen. Ich war froh, als er unter der Erde lag.«

»Dann hängt der Grund für die Erpressung mit Ihrer Vorstrafe zusammen, stimmt es nicht?«

»Ja, Sir.« Er schlug die Augen nieder und blickte auf den Tisch.

»Es hätte Ihre Karriere ruiniert, wenn es ans Licht gekommen wäre.«

»Aufhängen hätte ich mich dann können«, sagte er leise.

Swanson war sich sicher, Mr Tellford, der Geschäftsmann aus der Bond Street, der nach der Scheidung von seiner Frau Selbstmord begangen hatte, war ebenfalls von Ferguson erpresst worden. Der Chief Inspector nahm an, dass Tellford sich geweigert hatte, zu zahlen, und Ferguson zur Abschreckung für andere ein Exempel an ihm statuiert hatte. Was immer sein Geheimnis gewesen war, Ferguson hatte es Mrs Tellford erzählt. Damit eine Frau auf einer Scheidung bestand, dachte Swanson bei sich, musste es etwas mehr als Ehrenrühriges gewesen sein. Denn sie verlor damit sämtliche Ansprüche aus dem ehelichen Vermögen.

»Was geschah, als Sie Ferguson an jenem Abend ansprachen?«

»Ich sagte ihm, ich könne nicht länger zahlen«, entgegnete Collins. Die Erinnerung an die Geschehnisse wühlte ihn sichtlich auf. Er begann schwerer zu atmen. »Er hatte Hunderte und Aberhunderte aus mir herausgepresst. Ich bat ihn, mich zu verschonen. Die Firma begann bereits darunter zu leiden.«

Swanson beugte sich vor. »Wie reagierte er?«

»Er war ein Schwein, Chief Inspector. Ein regelrechtes Schwein. Er wolle es sich unter Umständen überlegen, sagte er. Ich solle vor ihm auf die Knie gehen.« Er schluckte. »Ich hab‘s getan. Ich bin vor ihm auf die Knie gefallen und habe ihn angefleht, mich zu verschonen.«

Der Mann tat Swanson leid. »Doch er dachte nicht daran. War es so?«

»Er hielt mir seinen Finger hin. ‚Lutsch daran, Fettsack‘, hat er gesagt. Ich tat’s, Mr Swanson. Ich tat’s.« Mit dem Handrücken wischte er sich die Tränen aus den Augen. »Ich fragte ihn, ob es jetzt vorbei sei. Und da sieht er mich an und lacht. Es fängt gerade erst an, meint er und lacht. Da hab‘ ich das Tuch gepackt, was er um den Hals hängen hatte und hab‘ ihm damit die Kehle zugeschnürt. Dann zog ich ihn daran zu meinem Wagen. Er strampelte wie verrückt. Aber als ich ihn drin hatte, rührte das Schwein sich nicht mehr.«

»Es ist widerlich und abscheulich, was dieser Mann tat. Doch Sie hätten sich uns anvertrauen können, Mr Collins«, sagte Swanson und seufzte. »Vor und nach der Tat.«

»Und mich vor Gericht schleppen lassen?« Er schüttelte müde den Kopf. »Ferguson hatte den Tod verdient, glauben Sie es mir.«

Und Swanson glaubte es. »Dennoch«, sagte er. »Sie hätten vor Gericht auf Totschlag plädieren können. Mit einem guten Verteidiger wären Sie für wenige Jahre ins Gefängnis gegangen. Nun werden Sie sich wegen Mordes verantworten müssen.«

»Für mich kommt es auf dasselbe heraus, Mr Swanson«, sagte er. Seine Stimme klang wieder fester. »Muss die Öffentlichkeit den Grund erfahren, weshalb er mich in der Hand hatte?«

»Nein. Nein, Mr Collins. Das muss Sie nicht.«

»Gut.« Er atmete einmal tief ein und erhob sich dann. »Sie können mich jetzt mitnehmen, Gentlemen«, sagte er.

»Zwei Dinge verstehe ich beim besten Willen nicht, Mr Collins«, meinte Swanson. »Das erste ist die Frage, warum Sie das Glas des Bilderrahmens zerschlugen? Was hatte Ihre Gattin mit der ganzen Angelegenheit zu tun?«

»Nichts«, antwortete er. »Gar nichts.«

»Und doch waren Sie wütend auf sie.«

»Nicht auf Isobell, Mr Swanson. Sie ist ein Engel. Sie hätte einen besseren Mann verdient als mich. Es geschah in einem Anfall purer Hilflosigkeit. Ich war verzweifelt. Mir war klar, dass ich alles verlieren würde, wenn ich nicht weiterzahlte – auch Isobell.«

Swanson nickte. »Und die Verstümmelung der Leiche?«

»Ich kann es Ihnen nicht sagen. Ich weiß es nicht. Vielleicht, weil er es nicht verdient hatte, ein Mann genannt zu werden. Doch ganz genau kann ich Ihnen den Grund nicht nennen. Er war ein Ungeheuer. Und als ich ihn zu dem Loch im Park brachte und seine lächerliche Blöße sah, überkam mich die Wut. Ich holte mein Taschenmesser heraus, packte ihn da unten und schnitt es ihm ab. Ich warf es in irgendein Gebüsch. Die Hunde sollten es fressen.«

»Mr Collins?«

»Ja?«

»Ich möchte mich bei Ihnen entschuldigen. Ich habe Sie vollkommen falsch eingeschätzt, Sir. Es ist nicht recht, was Sie getan haben, auch wenn ich es bis zu einem gewissen Grad nachvollziehen kann, doch ich habe Ihnen Unrecht getan. Sie hatten andere Motive als die, die ich Ihnen unterstellte. Es tut mir aufrichtig leid.« Swanson hielt ihm die Hand hin, und Collins nahm sie. »Ich fürchte, Sie werden uns nun begleiten müssen, Sir.«

»Natürlich.« Er hob den zu Pyrit versteinerten Ammoniten auf und wog ihn in der Hand. »Sagen Sie, darf ich Aurelia behalten, Mr Swanson?«