Prolog:
Audra, Christina und Kyle 1978

Audra Crowther saß im Wohnzimmer des Penthouses ihrer Tochter in Manhattan auf dem Sofa. Sie hielt sich kerzengerade und hatte ihre Hände so fest zu Fäusten geballt, dass die Knöchel ganz weiß waren, während sie von ihrer Tochter Christina zu ihrer Enkelin Kyle blickte.

Die beiden jüngeren Frauen standen mit blassen Gesichtern in der Mitte des Zimmers, und wenn sie einander anschauten, blitzten ihre Augen. Die zornigen Worte, die sie sich vor ein paar Minuten an den Kopf geworfen hatten, hallten immer noch in der warmen Nachmittagsluft wider.

Audra fühlte sich hilflos. Sie wusste, dass es die reine Zeitverschwendung sein würde, ihnen Vorhaltungen zu machen, sie zur Vernunft bringen zu wollen, zumindest in diesem Augenblick. Jede glaubte sich im Recht, und keine Überredungskunst der Welt würde sie dazu bringen, ihren Standpunkt aufzugeben oder sich darum zu bemühen, auch die andere Seite zu bedenken.

Sogar ihre Kleidung war wie eine trennende Uniform und betonte ihre wesentliche Andersartigkeit, entfernte sie noch mehr voneinander: Kyle trug Jeans und Turnschuhe, und ihr einziges Zugeständnis an Eleganz war das weiße Voilehemd aus der Schweiz – diese Kombination verlieh ihr ein seltsam verletzliches, kindliches Aussehen mit ihrem klaren Gesicht und dem langen, offen herabhängenden Haar. Christina dagegen trug ein teures, wunderschön geschneidertes Kleid und eine dazu passende taillierte Jacke aus Rohseide, die sicherlich ihr eigenes Couture-Etikett trug. Die silbergraue Seide passte perfekt zu ihrem kastanienbraunen Haar, auf dem rotgoldene Lichter tanzten, und betonte außerdem ihre hinreißenden, rauchgrauen Augen, die immer das Schönste an ihr gewesen waren. Schlank und untadelig gepflegt, sah man ihr die siebenundvierzig Jahre kein bisschen an.

Industriemagnatin kontra Studentin ... Etablierte kontra Rebellin ... Mutter kontra Tochter, dachte Audra und unterdrückte ein Seufzen. Nun ja, es war nicht das erste Mal, dass eine Mutter und deren Tochter über Kreuz lagen – ein jahrhundertealter Konflikt.

Plötzlich durchbrach Kyle das lange Schweigen und sagte scharf: »Und da ist noch etwas, Mutter – du hattest überhaupt kein Recht, die arme Grandma in alles hineinzuziehen und sie aus England kommen zu lassen, besonders, wo doch ...«

»Habe ich auch gar nicht!«, konterte Christina heftig. »Dein Vater war es, der meine ...«

»Jaja, schieb nur alles auf Dad«, fiel Kyle ihr mit schneidender Stimme ins Wort.

»Aber es war dein Vater, der meine Mutter angerufen hat«, protestierte Christina. Hilfesuchend wandte sie sich an Audra. »Stimmt’s, Mummy?«

Audra richtete ihre ganze Aufmerksamkeit auf ihre Enkelin. »Ja, das stimmt, Kyle.«

Kyle warf ihre schwarze Haarmähne zurück und steckte dann heftig ihre Hände in die Taschen der Jeans, ihre Bewegungen waren abrupt und trotzig. Die großen braunen Augen, die sonst immer so sanft wie ein Reh dreinschauten, blitzten weiterhin aufgebracht. »Er dachte wohl, dass wir jemanden brauchen, der unseren Streit schlichtet. Nun, das ist nicht der Fall ... es gibt nichts zu schlichten ...« Sie hielt inne, schwang ihren langgliedrigen Körper in Audras Richtung und lächelte zögernd. »Tut mir leid, Gran, ich wollte nicht unhöflich sein, aber man hätte dich nicht dazu bewegen sollen, um die halbe Welt zu reisen, bloß weil es meinen Eltern aufgegangen ist, dass sie mich nicht beeinflussen können, nicht mehr im Griff haben.« Kyle ließ ein ungewohnt raues Lachen ertönen. »Verstehst du, das ganze Problem besteht darin, dass mich meine Eltern wie ein Kind behandeln. Grandma. Man sollte denken, ich sei neun Jahre alt, keine neunzehn, wenn man sieht, wie lächerlich sie sich aufführen.«

Bevor Audra auch nur die Gelegenheit hatte, etwas zu diesen heftigen Anschuldigungen zu sagen, wirbelte Kyle herum und sah Christina an. Ihre Stimme wurde schrill, und sie sagte hastig: »Nichts wird mich dazu bringen, dass ich meinen Entschluss aufgebe, Mutter. Nichts und niemand. Nicht einmal Grandma. Ich werde mein Leben so leben, wie ich es will. Es ist mein Leben und gehört niemand anderem. Du und Dad, ihr könnt mich ohne einen Pfennig auf die Straße setzen. Das ist mir völlig egal. Dann besorge ich mir eben einen Job, der mich während meines Studiums über Wasser hält. Ich brauche eure Hilfe nicht!«

»Weder dein Vater noch ich haben jemals etwas davon gesagt, dass wir dich auf die Straße setzen wollen«, rief Christina, wütend darüber, dass Kyle ihr so etwas unterstellte. »Dein Problem ist, dass du offenbar nicht fähig bist, vernünftig über dieses Thema zu sprechen. Und ruhig. Jedes Mal, wenn wir versuchen, uns mit dir darüber zu unterhalten, kriegst du einen Anfall!«

»Ausgerechnet du musst das sagen! Bist du etwa ruhig!«

Christinas Mund wurde schmal vor Zorn, aber sie bemühte sich, ihrer aufsteigenden Entrüstung Herr zu werden. »Das ist auch nur zu verständlich«, entgegnete sie kalt. »Ich habe ein ungeheures Imperium errichtet, eine internationale Modeproduktion, die Millionen Dollar wert ist, und du bist mein einziges Kind, meine Erbin. Wir sind immer davon ausgegangen, dass du eines Tages meine Nachfolgerin werden würdest. Wir alle gingen davon aus. Mit diesem Gedanken bist du ausgebildet worden. Und nun, aus heiterem Himmel, sagst du mir, dass du die Firma nicht haben willst. Ich bin einfach vollkommen ...«

»Nein, ich will sie nicht!«, schrie Kyle. »Hast du das denn immer noch nicht begriffen, Mutter? Ich sage dir das schon tagelang! Ich interessiere mich kein bisschen für dein blödes Imperium! Von mir aus kann sonst was damit passieren, kann es zusammenbrechen! Das ist dein Problem, nicht meins!«

Christina wich zurück und hielt den Atem an. Die wilde Art, mit der Kyle ihr diese Worte entgegengeschleudert hatte, entsetzte sie ebenso wie deren Inhalt.

Audra, die ihre Betroffenheit sah, sagte streng: »Nun reiß dich mal ein bisschen zusammen, Kyle.«

Sofort wurde es Kyle klar, dass sie zu weit gegangen war, und verlegen biss sie sich auf die Lippen. Ihr Hals bedeckte sich mit hektischen roten Flecken, die dann auch auf ihren glatten, jungen Wangen erschienen. Verstohlen blickte sie zu ihrer Großmutter hinüber, die so bleich und still auf dem Sofa saß. Sie sah die Trauer und Enttäuschung, die sich in Audras aufrichtigen blauen Augen spiegelten, sah den milden Vorwurf, der aus ihrem sanften Gesicht sprach. Unbehagen und Scham überfielen sie. Sie hatte sich vor ihrer Großmutter blamiert, die sie so liebte, und das konnte sie nicht ertragen. Sie brach in Tränen aus und lief weg, bevor sie sich selbst noch mehr Schande machen konnte, und knallte die Tür zu.

Christina sah sprachlos hinter ihr her.

Sie war verletzt, wütend und so angespannt, dass man ihre Schulterblätter durch die dünne Seidenjacke hervorstechen sah. »Ist das die Möglichkeit!«, explodierte sie und machte einen Schritt nach vorn, offenbar in der Absicht, Kyle nachzugehen.

»Nein, nein, lass sie«, sagte Audra bestimmt und stand mühsam auf, ging eilig durchs Zimmer. Sie nahm Christina beim Arm und führte sie zum Sofa zurück.

Sanft zwang sie ihre Tochter, neben ihr Platz zu nehmen, und sagte dann: »Es hat keinen Sinn, so weiterzumachen. Ihr heizt euch nur gegenseitig auf, und du weißt selbst, dass das im Zorn Gesagte hinterher schwer zurückzunehmen ist. Du musst zugeben, dass ihr momentan beide überreizt seid.«

»Ja, da hast du wohl recht.« Geistesabwesend fuhr Christina sich durch die Haare und ließ sich dann in die Kissen sinken. Sie fühlte sich elend und ohnmächtig. Aber dann sprang sie wieder auf und fing an, ruhelos vor dem Kamin auf und ab zu schreiten.

Audra beobachtete sie und machte sich noch mehr Sorgen. So hatte sie Christina noch nie gesehen – so erregt, so verstört und mit solch strapazierter Geduld. Normalerweise war sie immer beherrscht, ganz gleich, in welcher Situation. Aber man hatte ihre Welt noch nie derart ins Wanken gebracht wie jetzt, und Audra wusste, dass Kyles Worte, wenn diese auch gedankenlos in der Hitze des Gefechts vorgebracht worden waren und nicht wirklich böse gemeint waren, Christina dennoch verletzt hatten.

Um die Kränkung abzumildern, sagte Audra so tröstlich sie es vermochte: »Kyle hat es nicht so gemeint, Christie. Dass es ihr egal ist, wenn das Geschäft zusammenbricht. Natürlich ist es ihr nicht egal, sie hat dich doch gern, Liebe.«

»Schöne Art, das auszudrücken«, murrte Christina, ohne ihre Mutter anzusehen, und ging weiter im Zimmer auf und ab, noch immer von dem Schmerz betäubt, den ihre Tochter ihr zugefügt hatte.

Audra seufzte, und da sie alles verstand, schwieg sie. Erleichtert, dass das Geschrei ein Ende gefunden hatte, rückte sie in die Ecke des Sofas und wartete darauf, dass Christina sich beruhigen würde. Im Raum fiel kaum ein Laut, nur das leise Rascheln von Seide gegen Seide, wenn Christina die Beine bewegte, das Ticken der großen Messinguhr auf einer Kommode zwischen den Glastüren, der gedämpfte Verkehrslärm, der sich vom Sutton Place zu den Türen emporwand, die an diesem lieblichen Tag in der Mitte des Monats Mai weit offen standen. Sie blickte zur Terrasse, die mit Sonnenflecken gesprenkelt war und in einer Pracht von Grüngewächsen und blühenden Pflanzen erstrahlte. Etwas abwesend, überlegte sie, ob die rosa Azaleen dort hinpassen.

Dann sah sie wieder in den Raum hinein und ließ ihren Blick umherschweifen. Für den Bruchteil einer Sekunde war ihre Besorgnis aufgehoben, als sie das liebliche Interieur auf sich einwirken ließ mit seinen Pfirsich-‍, Aprikosen- und Cremetönen, die Schönheit, die sie umgab ... die unbezahlbaren Kunstschätze an den Wänden: zwei Cézannes, ein Gauguin ... die eleganten alten englischen Möbel mit ihrem dunkelglänzenden Holz ... die Bronzeskulptur von Arp ... diese Blumenfülle in hohen Kristallvasen ... und all das erhellt vom Licht der alten chinesischen Porzellanlampen mit Seidenschirmen.

Was für einen hervorragenden Geschmack Christina und Alex doch haben, dachte Audra und war plötzlich von mütterlichem Stolz auf ihre Tochter und ihren Schwiegersohn erfüllt. Dieser wurde nicht bloß von der Anmut hervorgerufen, mit der sie vor Kurzem diesen Raum eingerichtet hatten, sondern war echter Stolz auf sie als Menschen, auf all das, was sie in ihrem gemeinsamen Leben geschaffen hatten. Ihre Beziehung war harmonisch, ihre Ehe war in all den Jahren nie in Gefahr gewesen, und dafür war Audra dankbar.

Sie ließ ihre Gedanken auf Alex Newman verweilen. Er war ein sanfter Mann, einer der umsichtigsten Menschen, denen sie je begegnet war. Zu ihr war er wie ein liebevoller Sohn gewesen. Sie wünschte, dass er in diesem Augenblick hier sein könnte. Vielleicht hätte er den Streit, der zwischen Mutter und Tochter ausgebrochen war, auch nicht zu schlichten vermocht, aber mit seinem Takt, seiner Fröhlichkeit und seiner Verehrung für Christina hatte er immer eine beruhigende Wirkung auf sie.

Audra wandte den Kopf und sah zur großen Uhr hinüber. Enttäuscht stellte sie fest, dass es erst zehn Minuten vor fünf war. Alex kam nie vor sieben Uhr von der Arbeit. Aber heute würde er vielleicht früher kommen, da sie um acht Uhr essen gehen wollten. Als sie an den vor ihr liegenden Abend dachte, sank ihr der Mut. Falls sich Kyles Gemütsverfassung in den nächsten Stunden nicht radikal änderte, würde es ein unbehaglicher Abend werden.

Als hätte sie Audras Gedanken gelesen, sagte Christina plötzlich: »Ich habe eigentlich gar keine Lust, zu Jack und Betsy Morgan zum Essen zu gehen, obwohl sie sehr nett sind und dich auch so gern mögen, Mummy. Nein, nicht, wenn Kyle so aufsässiger Laune ist.«

Endlich blieb Christina stehen und sah ihrer Mutter in die Augen; sie lächelte traurig, und ihre grauen Augen waren von Sorge erfüllt. Zum ersten Mal bemerkte sie die Erschöpfung in Audras Gesichtsausdruck, und stirnrunzelnd biss sie sich auf die Lippen.

»Du musst ja todmüde und ganz aus dem Rhythmus gebracht sein, Liebe!«, rief sie. »Wie egoistisch wir doch alle gewesen sind, seitdem du gestern angekommen bist! Wir haben dich überhaupt nicht verschnaufen lassen. Ich will dich nun etwas ruhen lassen, bevor wir essen.«

»Nein, jetzt nicht, Christina. Mir geht es gut, wirklich«, sagte Audra.

Christina schritt zum Sofa, setzte sich neben Audra und ergriff ihre Hand. Sie hielt diese ganz fest und sah in das gefurchte Gesicht ihrer Mutter, ganz von der tiefen, treuen Liebe erfüllt, die sie für Audra empfand. Dann schüttelte sie den Kopf, und ihr rauchgrauer Blick war sehr zärtlich, als sie sagte: »Kyle hat zwar in mancher Hinsicht verschrobene Ansichten, aber eigentlich hat sie recht, dass wir dich ganz unnötig hierher geschleift haben ...« Unvermittelt brach sie ab, von Schuldbewusstsein übermannt. Ihre Mutter war siebzig Jahre alt, fast einundsiebzig, und sollte in ihrem Alter nicht mit Problemen konfrontiert werden. Sie und Alex müssten in der Lage sein, allein mit ihrer widerspenstigen Tochter fertig zu werden. Bei dem Gedanken an ihr Versagen rief Christina gereizt: »Wir sind nicht fair zu dir gewesen, haben einfach erwartet, dass du dich um uns und unser Problem kümmerst, wenn du zu Hause sein und den Garten pflegen oder einen deiner kleinen Tagesausflüge an die See unternehmen könntest – auf jeden Fall deine Ruhe hättest. Alex und ich müssen dir wie ein paar Trottel vorkommen.«

»Das ist doch Unsinn.« Audra drückte Christinas schlanke Hand, so anders als ihre, die von Arthritis verkrümmt war. »Ich würde immer kommen, wenn du mich brauchst, auch wenn ich die dreitausend Meilen zu Fuß gehen müsste. Ich liebe dich, Christie, und ich liebe meine Enkelin und Alex. Es ist für mich unerträglich, euch alle so unglücklich zu wissen.«

Mit angespannter Stimme zog Christina sie ins Vertrauen:

»Es ist so falsch von Kyle, ihre Kurse am Modeinstitut abzubrechen und verächtlich meine Firma zurückzuweisen. Es war ein langgehegter Traum von mir, dass ich ihr eines Tages die Firma übergeben könnte.« Diese Worte blieben ihr fast in der Kehle stecken, und sie musste sich erst fassen, bevor sie weiterreden konnte. »Ach Mum, wofür ist denn das alles gewesen? Was ist meine ganze Arbeit wert gewesen, wenn Kyle weggeht?« Christina traten Tränen in die Augen, sie wandte den Kopf ab und blinzelte.

Audra fühlte sich von Mitgefühl überwältigt, ihre Tochter tat ihr sehr leid. Um sie zu trösten, murmelte sie leise: »Aber meine süße Christie, es hat dir doch auch viel Spaß gemacht und Befriedigung geschenkt, Kleider zu entwerfen, und es ist dir doch immer wichtig und eine Herausforderung gewesen, dir einen Namen in der Modewelt zu machen. Das, was dir gelungen ist, deine atemberaubenden Erfolge – das muss dich doch sehr glücklich machen ...« Audra brach ab. Sie war nicht in der Lage, ihren Satz zu beenden. Wie leer die Worte klingen, dachte sie.

Ich, nur ich, weiß, was Christina geopfert hat und was es sie gekostet hat, ihr Imperium zu gründen. Sie hat dafür einen hohen Preis gezahlt, einen schrecklich hohen Preis. Deshalb sieht sie alles so leidenschaftlich und kann es nicht ertragen, dass Kyle ihr Werk zurückweist.

Nachdem es Christina gelungen war, ihre Fassung wiederzugewinnen, sagte sie etwas gelassener: »Die letzten beiden Wochen mit Kyle waren die reine Hölle, Mutter. Sie ist einfach verbohrt, ihre Unnachgiebigkeit erstaunt mich. Macht mich regelrecht verrückt. Ich habe noch nie einen Menschen so erlebt.«

Tatsächlich nicht?, dachte Audra. Sie warf ihrer Tochter einen überraschten Seitenblick zu, schwieg aber weise. Jetzt war nicht die Zeit, alte Geschichten auszugraben; es gab ohnehin schon einen zu großen Konflikt in dieser Familie. Audra setzte eine zuversichtliche Miene auf und sagte: »Seit sie ein kleines Kind war, sind Kyle und ich immer gute Freundinnen gewesen. Das ist doch einer der Gründe, warum wir entschieden haben, dass ich nach New York kommen sollte, nicht wahr? Auf jeden Fall habe ich versprochen, den morgigen Tag mit ihr zu verbringen. Ich bin davon überzeugt, dass sie sich aussprechen möchte, und ich will ihr gern zuhören.«

»Aber du wirst doch auch mit ihr reden, oder? Sie nicht nur anhören?« Ohne auf eine Antwort zu warten, redete Christina hastig weiter: »Sie hört auf dich und will dir gefallen. Du wirst sie doch zur Vernunft bringen, nicht wahr, Mummy?«

Audra nickte, obwohl sie da ihre Zweifel hatte, und es gelang ihr, aufmunternd zu sagen: »Ja, natürlich, wir werden schon alles in den Griff bekommen, Christie.«

Zum ersten Mal seit Tagen fühlte Christina, wie ein Teil der Sorgen von ihr abfiel, und ihre müden Augen strahlten heller. Sie beugte sich dicht zu Audra hinab, küsste ihre runzlige Wange und legte dann den Kopf auf die Schulter ihrer Mutter: »Ich bin so froh, dass du hier bist, Mam. Du bist so ein Trost für mich, und ich weiß, dass es dir gelingen wird, alles wieder in Ordnung zu bringen, so wie immer.«

Mam, wiederholte Audra für sich im Stillen. Schon seit Jahren hieß sie Mummy oder Mum oder Mutter. Mam war ein Kinderwort. Es jetzt, nach all den Jahren, plötzlich zu hören, ließ Audra zusammenzucken. Es rief so viele Erinnerungen hervor, die nicht alle glücklich waren. Dann erfüllten sie Liebe und Herzlichkeit, und sie konnte einen Augenblick lang nicht sprechen. Automatisch hob sie die Hand und streichelte Christinas glänzendes Haar. Es stimmt, alte Gewohnheiten vergehen nur sehr schwer, dachte Audra, beugte sich herab und küsste den Scheitel ihrer Tochter. All das Geld, all die Macht, all der Ruhm, und sie ist immer noch mein kleines Mädchen. Ich kann es nicht ertragen, dass sie so leidet. Aber da ist auch noch Kyle, meine einzige Enkelin, und auch sie soll nicht unglücklich sein. Was für ein Dilemma. Zwischen diesen beiden über dünnes Eis gleiten. O Gott, woher soll ich bloß die Weisheit und Kraft nehmen, der einen zu helfen, ohne der anderen weh zu tun?

Audra merkte, dass ihre Tochter auf eine Antwort wartete, und zwang ihre Sorgen brüsk nieder. »Ich kann nur versuchen, die Sache für dich einzurenken, Christie«, sagte sie leise. »Ich habe dir ja schon bei meiner Ankunft gesagt, dass ich keine Partei ergreifen will. Denn schließlich stimmt es, wenn Kyle sagt, dass es ihr Leben ist. Und sie hat das Recht dazu, es so zu leben, wie sie es will.«

Christina richtete sich auf und nickte langsam. »Ja«, sagte sie maßvoll, »ich verstehe, was du damit sagen willst. Aber sie ist noch so jung und unerfahren, sie kann doch noch gar nicht wissen, was sie will. Zumindest im Augenblick noch nicht.« Christina stand auf, ging zu einer der hohen Glastüren hinüber und sah auf die Terrasse hinaus. Dann drehte sie sich um und warf Audra einen durchdringenden Blick zu. »Meine Firma einfach so abzutun, das ist doch nicht bloß dumm, sondern auch unverantwortlich von ihr, findest du nicht?«

»Jaja«, fühlte sich Audra gezwungen, ihr beizupflichten, trotzdem hatte sie das Bedürfnis, ihre Enkelin zu verteidigen, und fügte hinzu: »Aber Kyle ist ein intelligentes, temperamentvolles und unabhängiges Mädchen. Und weißt du was – für jemanden in ihrem Alter finde ich sie sehr reif.« Audra hielt inne und dachte: Ich habe sowieso schon zu viel gesagt, also kann ich ebenso gut gleich alles loswerden. Sie holte tief Luft und sagte so bestimmt sie konnte: »Ich möchte nur, dass du auch ein bisschen an ihre Bedürfnisse, ihre Wünsche denkst, ebenso wie an deine eigenen. Das musst du mir versprechen.«

Christina war überrascht, und es trat ein kurzes Schweigen ein, bevor sie murmelte: »In Ordnung ... ja ... ich verspreche es.«

Audra merkte etwas Zögerndes, Widerstrebendes in diesem Versprechen. Langsam und bedächtig sagte sie: »Vor ganz langer Zeit habe ich dir gesagt, dass einem ein Kind nur einige Jahre über geliehen ist, Christina. Das darfst du niemals vergessen.«

Christina starrte Audra an, und ein ganz merkwürdiger Ausdruck trat in ihr Gesicht. Sie machte den Mund auf, um etwas zu sagen, und schloss ihn wieder. Dann drehte sie sich um und ließ ihren Blick wieder auf der Terrasse verweilen, während sie über die Worte ihrer Mutter nachdachte.

Gedankenversunken schob sich Audra eine silbrige Haarsträhne aus dem Gesicht und lehnte sich zurück, wartete, beobachtete. Sie sah, wie die Schultern ihrer Tochter mutlos herabsanken, sah sofort den ernsten Zug um ihren hübschen Mund. Ja, sie erinnert sich daran, dachte Audra. Für heute habe ich genug gesagt. Es wäre klüger, die Dinge erst einmal auf sich beruhen zu lassen.

Sie hielt sich an der Sofalehne fest und zog sich etwas unsicher hoch, die Erschöpfung hatte sie nun doch eingeholt. »Ich möchte mich vor dem Abendessen gern ein bisschen hinlegen, vielleicht auch ein wenig schlafen«, sagte sie.

»Ja, natürlich, mach das nur«, erwiderte Christina. Rasch trat sie an Audras Seite, legte ihr liebevoll den Arm um die Schultern und geleitete sie aus dem Zimmer.

Eine halbe Stunde später war Audra immer noch hellwach, was sie sehr ärgerte. Auch wenn sie sich bemüht hatte einzuschlafen, konnte sie es doch nicht. Christina hatte sie zur Gästesuite am anderen Ende des Penthouse begleitet, die Vorhänge zugezogen, die Kissen aufgeschüttelt und sich überall zu schaffen gemacht, bis Audra sie schließlich ungeduldig hinausgewunken hatte. Froh darüber, endlich allein zu sein, hatte Audra sich ausgezogen, einen Morgenrock übergestreift und sich voller Erleichterung auf dem Bett ausgestreckt. Jeder Knochen ihres Körpers schmerzte, sie war von der Zeitverschiebung erschöpft, und in ihren Händen und Knien pulsierte schmerzhaft die Arthritis. Aber sowie ihr Kopf das Kissen berührte, fingen ihre Gedanken an, sich zu überschlagen.

Vor allen Dingen fragte sich Audra, ob sie vielleicht einen Fehler gemacht hatte, nach New York zu kommen. Wäre es nicht klüger gewesen, Alex’ Bitte abzulehnen und sie sich selbst zu überlassen, damit sie ihren Kampf untereinander ausfechten konnten? Und es würde ein Kampf werden, da war Audra sich sicher. Ein Kräftemessen. Christie würde es ausfechten, keinen Rückzieher machen, zäh bis zum Ende; Kyle würde sich festrennen, denn sie war ebenso hartnäckig und entschlossen zu gewinnen, ganz gleich, was es alle kostete. Der Einsatz war so hoch, dass keiner von ihnen anders handeln konnte. Was sollte es bloß für ein Ende nehmen? Sie fürchtete eine Katastrophe. Sie konnten nicht beide siegen. Und die Verliererin wäre bitter und rachsüchtig.

Ich muss einen Weg finden, um ihnen zu helfen, sagte Audra sich; dann fragte sie sich voller Bestürzung, wie. Wenn schon Alex, der so diplomatisch und überzeugend war, nicht vermocht hatte, ihre Differenzen auszugleichen, dann würde es ihr auch nicht gelingen, Einfluss auf die beiden zu nehmen. »Ich muss mir etwas einfallen lassen«, murmelte sie vor sich hin.

Erschöpft seufzend machte Audra ihre Augen wieder auf und stellte sich der Tatsache, dass sie keinen Schlaf finden würde. Das weiträumige Schlafzimmer sah im sanften Licht, das durch die Vorhänge floss, so still aus wie immer. Sonst fühlte sie sich in diesem blau-weißen, mit eleganten Möbeln und üppigem Komfort ausgestatteten Raum sofort wohl. Aber heute Abend stellte sich dieses Gefühl leider nicht ein.

Audra zitterte. Vom East River kam der frühabendliche Wind durchs offene Fenster. Es war jetzt kühl, und es lag eine unangenehme Feuchtigkeit in der Luft, die durch ihre Gelenke zu dringen schien. Sie zitterte wieder, zog die Steppdecke höher und griff nach ihren Tabletten. Sie steckte eine in den Mund und spülte sie mit einem Schluck Wasser hinunter, erinnerte sich, dass es schon die dritte war heute; der Arzt hatte sie davor gewarnt, nicht mehr als vier an einem Tag zu nehmen.

Manchmal machte sie sich über ihre Arthritis Gedanken, fragte sich, ob nicht ihr schweres Leben zu ihrem jetzigen Zustand beigetragen hatte. Doktor Findlay verneinte dies zwar, aber wenn sie an das endlose Schrubben, Saubermachen, Waschen und Bügeln dachte, die Plackerei, die so lange ihr Leben bestimmt hatte, konnte sie sich dieses Gedankens nicht erwehren. Nun ja, diese Zeit war lange vorbei. Jetzt im Alter hatte sie es leicht.

Als sie das Wasserglas auf das Bettschränkchen stellte, fiel ihr Blick auf das Foto, welches neben der kobaltblauen gläsernen Lampe stand. Audra drehte sich auf die Seite, stützte sich auf einen Ellbogen und betrachtete es nachdenklich.

Drei Gesichter sahen sie an. Christinas, Kyles und ihr eigenes.

Das Foto war im vergangenen Sommer entstanden, in ihrem Rosengarten in Yorkshire. Welch ein unglaublich glücklicher Tag war das doch gewesen ... ihr siebzigster Geburtstag. Auch das Wetter war prachtvoll gewesen, wie man auf dem Farbfoto erkennen konnte.

Nach einer kleinen Teeparty auf der Terrasse hatte Alex unbedingt dieses Bild machen wollen. Um den feierlichen Anlass zu würdigen und für die Nachwelt, hatte er lachend gesagt, als er sie neben der alten, steinernen Sonnenuhr aufstellte, ein paar Schritte von ihren schönsten gekreuzten Teerosen entfernt.

Drei Generationen, sagte sie leise. Aber wir sehen nicht aus, als seien wir miteinander verwandt. Genauso gut könnten wir Fremde sein, drei Frauen, die so unterschiedlich wie möglich sind. Und dennoch sind wir uns sehr ähnlich, tief im Innersten.

Vor fast einem halben Jahrhundert sagte man mir, dass ich einen unbeugsamen Willen hätte, unnachgiebig sei und von einer schrecklichen Kraft in mir angetrieben. Damals war ich wütend und verletzt. Dennoch war es die Wahrheit. Und sie haben diese Eigenschaften von mir geerbt ... meine Tochter, meine Enkelin. Als Christina noch ein Kind war, fasste ich einen Entschluss, der unser aller Leben unwiderruflich änderte. Und dann, als junge Frau, wiederholte Christina dieses Muster und fasste einen eigenen Entschluss, der genauso gravierend war wie meiner. Und nun ist Kyle an der Reihe ... sie ist drauf und dran, dasselbe zu machen. Und genau wie damals wird unser Leben nie mehr so sein wie zuvor.

Abrupt setzte Audra sich auf, und ein plötzliches Verstehen malte sich auf ihrem Gesicht. »Es ist meine Schuld«, sagte sie laut in den stillen Raum hinein, und dann dachte sie: Wenn ich anders gehandelt hätte, wäre jetzt alles anders. Alles, was sich jetzt ereignet, weist in die Zeit zurück, da ich eine junge Frau war. Ursache und Wirkung. Jede unserer Handlungen, ob sie nun wichtig oder geringfügig ist, hat ihre unausweichlichen Konsequenzen. Es ist, als würfe man einen Kiesel ins Wasser und beobachte dann, wie sich die Kreise ausbreiten ... immer weiter, immer größer.

Audra fiel in die Kissen zurück, lag da und ließ ihre Gedanken treiben. Sie kreisten nur um Kyle.

Der Schmerz in ihren Händen und Knien ließ nach, und ihr Körper wurde wärmer unter der Steppdecke. Schließlich machte sie die Augen zu.

Neunzehnhundertsechsundzwanzig, überlegte sie schläfrig ... schon so lange her ... aber nicht so lange, dass ich mich nicht mehr erinnern könnte, wie ich gewesen bin damals ... als ich so alt war wie Kyle.