Die beiden saßen im Copper Kettle von Harrogate. Sie und Gwen.
Audra konnte es kaum fassen, dass sie endlich zusammen waren, nach all den Wochen. Die beiden Mädchen hatten sich seit Anfang Juni nicht mehr gesehen. Inzwischen war es Ende August, das Ende des Sommers, ein heißer, stickiger Samstag. Zum ersten Mal konnte Gwen aus Horsforth herkommen, um ihre beste Freundin zu besuchen.
Und sie hatte auch nicht bis nach Ripon fahren können, sondern Audra in ihrem Brief gebeten, sie auf halber Strecke zu treffen. Diese war sofort einverstanden und hatte den Brief umgehend beantwortet.
Und jetzt sah Audra über den Tisch hinweg, ganz rot vor Freude, und strahlte die andere an. »Wie ich mich freue, dich zu sehen, Gwen. Ich habe dich wirklich vermisst.«
»Ja, ich dich auch – kann ich dir versprechen.« Gwens rundes Engelsgesicht strahlte ebenfalls, es war von Sommersprossen übersät und sehr lebendig. Auch sie freute sich sehr über ihr Wiedersehen. »Mir ist das immer noch so unangenehm, dass ich an deinem Geburtstag nicht mit dir zusammen sein konnte ...« Gwen brach ab, hob die Einkaufstasche hoch, die bei ihren Füßen lag, und suchte darin herum. Dann zog sie ein Päckchen heraus, das in königsblaues Papier eingewickelt war und eine scharlachrote Schleife trug.
Mit fröhlichem Schwung schob Gwen es Audra über den Tisch. »Jedenfalls ist dies dein Geburtstagsgeschenk, Schätzchen. Ich hab’s ja nicht geschafft, dich zu einem schicken Tanztee im Palm Court der Arcadian Rooms auszuführen, also habe ich dir stattdessen etwas gekauft.«
»Das brauchtest du doch nicht, das sollst du doch nicht!«, protestierte Audra, aber man konnte deutlich sehen, dass ihr das Geschenk große Freude machte. Es war schon so lange her, dass man ihr etwas geschenkt hatte, und an ihrem Geburtstag hatte es nichts gegeben. Ihr Gesicht hellte sich auf, und ihre strahlend blauen Augen tanzten, als sie, aufgeregt wie ein kleines Kind, Schleife und Papier löste.
»O Gwen! Ein Malkasten!« Strahlend sah Audra zu ihrer Freundin auf. »Wie schön. Und wie klug von dir. Ich brauchte wirklich einen neuen. Vielen, vielen Dank.« Sie streckte ihre Hand aus und ergriff Gwens, die auf dem Tisch lag, und drückte sie herzlich.
Nun war es an Gwen, zufrieden auszusehen. »Ich habe mir wirklich den Kopf zerbrochen und versucht, etwas ... etwas ... na, eben das Richtige zu finden. Wo du doch so wählerisch bist. Und dann hab’ ich mir zufällig das Aquarell angeschaut, das Du meiner Mutter zu Weihnachten gemalt hast ... der Baum, der sich im Teich bei Fountains Hall spiegelt, und da hatte ich’s plötzlich. Den Malkasten, meine ich. Und da hab’ ich mir gesagt, das ist genau das Richtige für Audra. Das ist was für ihre praktische Veranlagung, aber es wird ihr auch Freude machen.«
Gwen lehnte sich zurück und kräuselte ihr keckes, sehr sommersprossiges Näschen. Unverwandt betrachtete sie Audras Gesicht und fragte: »Das tut es doch, oder?«
»Natürlich, Gwen, sehr sogar.« Audras Augen wurden größer, und sie nickte mehrmals, wie zur Bekräftigung. Dann machte sie den glänzendschwarzen Deckel auf und schaute auf die kleinen Blöcke leuchtender Farben. Leise sagte sie sich einige der vertrauten Bezeichnungen auf: Chromgelb ... Krapprosa ... Kobaltblau ... Jadegrün ... Gebrannte Siena ... Karminlack ... Sächsischblau ... Königspurpur ... Gebrannte Umbra ... Malagarot. Audra liebte den Klang dieser Namen fast ebenso wie das Malen.
Seit ihrer Kindheit war Malen ihre Lieblingsbeschäftigung. Ihr Vater war ein begabter Künstler gewesen, und seine Bilder hatten sich recht gut verkauft, aber als er gerade begann, berühmt zu werden, wurde er schwer krank. Es war Adrian Kenton nicht vergönnt gewesen, sich einen Namen zu machen, bevor er starb. Und sie hatte sein Talent geerbt, zumindest hatte ihre Mutter das immer gesagt.
Audra schloss den Deckel des Malkastens und sah auf, direkt in Gwens weichen, haselnuss-bernsteinfarbenen Blick hinein. Wie hübsch sie ist, dachte Audra, so blond und golden von der Sonne. Gwens helle Haut und ihr flachsfarbenes Haar, das in einem kurzgeschnittenen Lockenrund um ihren Kopf lag, verstärkten noch ihren engelhaften Eindruck, ebenso wie das hellblaue Kleid mit dem breiten, weißen Quäkerkragen, das sie für den heutigen Tag gewählt hatte. Sie erinnert mich an einen Chorknaben, dachte Audra, und musste dann über diesen Vergleich lachen. Bei ihrem schönen Busen und ihrer reizvollen Figur war an Gwen Thornton nichts besonders Jungenhaftes.
Audra bemerkte, dass Gwen heute zurückhaltend gekleidet war. Normalerweise glänzte und glitzerte sie und war mit allem möglichen Schmuck behängt – Ketten und Perlen, Ohrringe, Fingerringe und Armreife. Offenbar hatte sie sich sehr angestrengt, für diese Reise nach Harrogate würdig und zurückhaltend auszusehen. Sie will mir gefallen, dachte Audra, und ihre herzlichen Gefühle für Gwen verstärkten sich noch.
Audra beugte sich vor und sagte: »Ich werde dir ein ganz besonderes Bild malen, Gwenny. Für dein Zimmer zu Hause. Hättest du gern eine Landschaft – so in der Art wie das Bild, das ich für deine Mutter gemalt habe? Oder lieber ein Stillleben, eine Blumenschale? Ach, ich weiß, was ich für dich malen werde. Die Valley Gardens hier in Harrogate. Du hast immer gesagt, das sei dein Lieblingsplatz, wenn all die Blumen blühen. Würdest du dich darüber freuen?«
»Ja, das wäre himmlisch. Vielen, vielen Dank, Audra. Ich würde ein Bild von dir in Ehren halten – meine Mutter sagt, es seien Meisterwerke. Die Valley Gardens, ja, das würde sich sehr gut an meiner Wand ausnehmen. Also ich ...«
»Was bekommen Sie, Miss?«, unterbrach die Serviererin sie ziemlich barsch. Sie sah erst zu Gwen, dann zu Audra, und ihr Stift schwebte ungeduldig über ihrem Block.
»Wir hätten gern Tee«, sagte Audra liebenswürdig und ignorierte ihre mürrische Art und wütende Haltung.
»Kännchen oder Gedeck?«, fragte die Serviererin im selben unfreundlichen Ton und leckte an ihrem Stift.
Gwen sagte: »Das sollten Sie aber nicht tun. Ich hoffe, es ist kein Tintenstift. Sonst kriegen Sie eine lila Zunge und vielleicht eine Bleivergiftung.«
»Hören Sie doch auf, das werd ich ganz bestimmt nicht!«, rief die Serviererin ungläubig und höhnisch, warf ihnen dann aber einen besorgten Blick zu. »Oder etwa doch!«, murmelte sie und untersuchte sorgfältig die Spitze ihres Stifts. »Oh, verdammt! Es ist ein Tintenstift!«
Gwen nickte ernst. »Das habe ich mir gedacht. Sie sollten sofort einen Arzt aufsuchen, wenn Sie heute Nacht eigenartige Symptome entwickeln, besonders, wenn sich die Zuckungen einstellen.«
»Zuckungen!«, wiederholte die Serviererin schrill und wurde so weiß wie ihre Schürze.
Audra, der die junge Frau jetzt leidtat, sagte: »Wir sind Krankenschwestern und verstehen uns auf diese Dinge. Aber ich bin sicher, dass Sie noch keine Bleivergiftung bekommen, wenn Sie ein paarmal an diesem Stift lecken.«
Offenbar etwas erleichtert, nickte die Serviererin.
»Machen Sie sich keine Sorgen«, beruhigte Audra sie und sagte dann energisch: »Nun zu unserer Bestellung. Ich denke, wir nehmen lieber das Teegedeck. Da ist wohl alles enthalten ... Sandwiches, Scones, Marmelade, Sahne, Kuchen ... so das Übliche, nicht wahr?«
»Ja«, antwortete die Serviererin knapp. Sie hob den Stift zum Mund, ließ aber schnell ihre Hand fallen und flüchtete fast von ihrem Tisch weg.
Als sie außer Hörweite war, starrte Audra die fröhlich dreinschauende Gwen an und schüttelte ein wenig vorwurfsvoll den Kopf. Aber sie musste doch über Gwens triumphierende Miene lachen. »Sie sind unverbesserlich, Miss Thornton. Und das war wirklich niederträchtig von dir. Du hast dieser armen jungen Frau den ganzen Tag verdorben.«
»Das will ich auch hoffen!«, rief Gwen leicht verärgert. »Das ist doch ein richtiger Besen, Audra.«
»Vielleicht tun ihr die Füße weh – oder sie hat ein unglückliches Liebesleben.«
»Ich weiß nicht, was sie hat. Oder doch – eine ekelhafte Art, das ist sicher.«
Eine kleine Pause trat ein, dann griff Audra nach ihrer Handtasche, holte ein paar Münzen hervor und legte sie vor Gwen auf den Tisch. »Bevor ich es vergesse – das schulde ich dir noch. Ein Schilling und sechs Pennies, die ich mir geliehen habe, als ich das Kleid kaufte.«
Gwen wollte gerade sagen, es sei egal, und das Geld ablehnen, dann besann sie sich anders. Audra war sehr stolz und würde vielleicht beleidigt sein, und das könnte Gwen nicht ertragen. So nahm sie das Geld vom Tisch und sagte: »Vielen Dank, Süße.«
»Ich bin sehr froh, dass deine Mutter jetzt endlich wieder gesund ist«, sagte Audra warmherzig. »Ich weiß, dass du dir in den letzten Monaten viele Sorgen gemacht und auch so viel gearbeitet hast.«
Gwen seufzte leise. »Ja, Mum ist über den Berg, Gott sei Dank. Aber ich kann dir sagen, sie war eine schwierige Patientin, Audra. Kaum im Bett zu halten. Sowie sie sich etwas kräftiger fühlte, wollte sie wieder herumlaufen.« Gwen schob den Mund vor und seufzte wieder. »Na, du kennst Mum ja – die typische Frau aus Yorkshire, unglaublich zäh und glaubt, es sei ein Verbrechen, krank zu sein. Schließlich hat mein Vater sie davon überzeugt, dass sie vorsichtig sein muss, also das ist wenigstens geklärt. Aber nun genug davon ... erzähl mir, was es bei dir Neues gibt, Audra. Du hast in deinen Briefen nicht viel erwähnt, nur ein paar langweilige kleine Sachen aus dem langweiligen Krankenhaus.«
»Es gab auch nichts Besonderes zu erzählen«, erwiderte Audra, amüsiert über den erwartungsvollen, eifrigen Zug, der plötzlich in Gwens Gesicht aufgetaucht war. »Also bestimmt nichts Umwerfendes. Du hast ja nicht lange gebraucht, um zu vergessen, dass Ripon ein schläfriges, kleines Provinznest ist und keine große Metropole wie Leeds.«
Gwen kicherte. »Natürlich hab’ ich’s nicht vergessen, Dummchen. Aber was ich fragen wollte, wie geht es denn deinen Brüdern? Was hast du Neues von ihnen gehört?«
»Frederick soll es gesundheitlich besser gehen, hat William geschrieben. Aber im Juni war ich sehr wütend auf die beiden.« Audras Gesicht veränderte sich etwas, und das Licht in ihren Augen verdunkelte sich. »Ich dachte, sie hätten mich ganz vergessen ... und meinen Geburtstag, aber dann kam ihre Karte doch an ... zwei Wochen zu spät.«
»So sind Brüder nun mal, ab und zu ganz schön dämlich«, sagte Gwen schnell, die ihre Freundin trösten wollte. Und wieder dachte sie daran, wie traurig Audras neunzehnter Geburtstag gewesen war. Sie schwor sich, das bei ihrem Geburtstag im nächsten Jahr wiedergutzumachen.
Audra fragte: »Und wie geht es deinen Brüdern?«
»Prima. Jem hat sich einen Job als Zeitungsjunge beim Leeds Mercury besorgt, Harry geht bei einem der führenden Architekten von Leeds in die Lehre, und unser Charlie ist in allerbester Stimmung, er ist momentan sehr zufrieden mit sich.« Ein breites Lächeln trat in Gwens Gesicht.
Neugierig sah Audra sie an. »Und warum ist Charlie so zufrieden?«
»Weil er ausgezeichnete Zensuren in seinem Examen hat, Audra. Dad ist sehr stolz auf ihn und ich auch. Jedenfalls kann der gute Charlie es kaum abwarten, dass er zurück an die Universität darf, wo doch die Sommerferien fast vorbei sind. Ach, fast hätte ich es vergessen – er lässt dir herzliche Grüße bestellen.« Gwens Augen zwinkerten frech, und sie beugte ihren hellen Kopf dichter an Audras, flüsterte ihr verschwörerisch ins Ohr: »Das habe ich dir ja schon öfter gesagt, Audra – ich glaube, unser Charlie hat was für dich übrig. Und zwar eine ganze Menge.«
Audra wurde blutrot. »Sei doch nicht so albern, Gwen, hat er bestimmt nicht.«
»Hat er doch! Er fragt immer nach dir!«, schoss Gwen unerwartet heftig zurück und sah ihre Freundin zornig an. »Er hat Interesse an dir, ich weiß es.«
»Oh«, konnte Audra nur sagen, die plötzlich verlegen war.
»Also, du könntest was Schlechteres kriegen, weißt du.«
»Ja«, murmelte Audra und biss dann die Zähne zusammen, denn die Serviererin tauchte auf.
Zu Audras großer Erleichterung ging die junge Frau direkt auf ihren Tisch zu, ein volles Tablett in der Hand. Sie fing an, mit viel Umständen und Geklapper das Teegeschirr abzuladen, und das schränkte die Unterhaltung für eine Weile stark ein.
Sobald die Serviererin wieder verschwunden war, ergriff sie die große, braune Teekanne und schenkte Gwen ein. »Ich denke, nun hat sie doch das letzte Wort gehabt.«
»O nein, das hat sie nicht, lange nicht«, sagte Gwen mit einem schlauen kleinen Lächeln. »Warte nur, bis das Trinkgeld an die Reihe kommt.«