Gwen Thornton war ein liebevolles Mädchen, von Natur aus offenherzig und großzügig, und sie hing wirklich sehr an Audra Kenton.
Vom ersten Augenblick an fühlte sich Gwen zu Audra hingezogen. Sie hatte erkannt, dass um das zart aussehende Mädchen mit den ungewöhnlichen blauen Augen und dem schüchternen Lächeln, das manchmal so strahlend sein konnte, etwas ganz Besonderes war.
Gwen hatte schnell verstanden, warum Audra so aus der Menge herausfiel. Es war ihre Herkunft und Erziehung. Gwen, die aus einer einfachen, wenn auch gediegenen Mittelklassefamilie stammte, wusste, dass man Audras vornehme Art unmöglich nachahmen konnte. Entweder hatte man sie, oder man hatte sie nicht. Sie ließ sich nicht erwerben. Und dies hob Audra nicht nur von den anderen ab, sondern erklärte auch ihre aristokratische Zurückhaltung, ihre Manieren und ihr Selbstbewusstsein, die zutiefst in ihr verankert waren.
Aber Gwen liebte und bewunderte Audra noch aus einer Reihe von anderen Gründen, die alle zu ihrer Einzigartigkeit beitrugen. Sie war in jeder Hinsicht eine außergewöhnliche junge Frau, die unglaublich treu und liebevoll war, aber auch der unbeugsamste Mensch, den Gwen jemals getroffen hatte.
All diesen lobenswerten Eigenschaften zum Trotz musste sich Gwen doch manchmal Sorgen um Audra machen – besonders, da jene keine Angehörigen hatte. Gwen wusste besser als irgendwer sonst, wie sehr Audra dies zu schaffen machte. Sie vermisste ihre Brüder schmerzlich und sehnte sich danach, zu jemandem zu gehören, wie damals, als ihre Mutter noch lebte. Deshalb tat Gwen auch alles, damit sich ihre beste Freundin im Clan der Thorntons ganz wie zu Hause fühlen sollte, damit sie begreifen sollte, dass man sie dort ebenso gern hatte wie Gwens kleine Schwester Jenny-Rosalie und ihre Brüder Charles, Jeremy und Harry.
Als Charles, der Älteste, sich an Audra interessiert zeigte, hatte Gwen ihn sofort ermutigt und bemühte sich seither, eine Beziehung zwischen den beiden herzustellen. Aber ab und zu musste selbst Gwen zugeben, dass dies Interesse bislang etwas einseitig war, und manchmal fragte sie sich auch, ob ihr lieber, aber ein wenig schwerfälliger Bruder wirklich der Richtige für Audra war. Doch jedes Mal überzeugte Gwen sich dann wieder, dass er geradezu ideal war. Sie zweifelte nicht im Geringsten, dass Charles eine gute Partie darstellte, da er doch so ein vorbildlicher junger Mann mit gesicherter Zukunft war. Wenn er erst als Arzt zugelassen war, würde er nicht mehr lange Junggeselle bleiben, und er gäbe einen hervorragenden Ehemann und Vater ab. Gwen hatte es immer schon gewusst, Charles war der geborene Familienvater.
Und für Gwen zählte das Wort Familie am meisten. Danach sehnte Audra sich doch so, also wollte sie ihrer Lieblingsfreundin helfen, eine eigene Familie zu gründen. Und Charlie war der Schlüssel dazu.
An diesem Nachmittag gingen Gwen wieder mal all diese Gedanken, die sie in den vergangenen Wochen oft beschäftigt hatten, durch den Kopf.
Sie und Audra schlenderten gerade durch die schönen Valley Gardens. Beide Mädchen waren froh darüber, wieder in der frischen Luft zu sein, nachdem sie so lange im lauten Café gesessen hatten.
Gwen betrachtete Audra von der Seite, als sie den abschüssigen Pfad entlanggingen. Sie sagte sich, dass sie schwerlich eine reizendere oder hübschere Schwägerin finden würde. Heute sah Audra besonders attraktiv aus in ihrem gelben Kleid, das mit Primeln bedruckt war, und dem steifen Strohhut mit dem gelben Seidenband und ebensolchen schmaleren Bändern, die hinten herabfielen. Der Hut gab ihr etwas Flottes, wohingegen das einfach geschnittene Kleid und seine sonnige Farbe ihrer Schönheit schmeichelten.
Wenn sie auch klein ist, dachte Gwen, hat sie doch Klasse von Kopf bis Fuß. Und dann, bevor sie sich beherrschen konnte, sagte sie laut: »Ja, gute Sachen in einem kleinen Zimmer.« Sie hätte sich am liebsten die Zunge abgebissen und bereute sofort, dass sie Charlies Bemerkung über Audra wiederholt hatte. Die Freundin hasste es, wenn man auf ihre kleine Statur anspielte. Gwen räusperte sich nervös.
Audra sah sie etwas verwirrt an und sagte: »Entschuldige, aber ich weiß gar nicht, was du damit sagen willst, Gwen.«
Gwen, der es klüger schien, Charlie nicht zu erwähnen, antwortete: »Ach, es war nur so ein Spruch, den meine Mutter über dich gesagt hat – das soll heißen, dass kleine Menschen oft viele wunderbare Eigenschaften haben. Hast du diese Redewendung noch nie gehört? Sagt man oft hier in Yorkshire.«
Audra schüttelte den Kopf. »Nein, habe ich nicht, aber es ist ein nettes Kompliment.«
»Ja«, sagte Gwen, froh darüber, dass Audra es so gut aufgenommen hatte, und dann hakte sie sich kameradschaftlich ein. »Wo wir gerade von Mum reden – sie hat gesagt, ich könne an meinem Geburtstag ein Fest machen –, ich hoffe sehr, dass du kommst und bei uns in The Meadow wohnst, das dritte Wochenende im September. Natürlich sind Charlie, Jem und Harry auch da, und ich darf ein paar Freunde einladen. Aber nur ein paar. Weil Mum nach ihrer Krankheit nicht mit einem Haufen Leute fertig werden kann. Du kommst doch, Audra, nicht wahr? Ohne dich wäre es nur halb so schön.«
»Ich komme selbstverständlich gerne. Für mich wird es eine schöne Abwechslung sein, und ich bin immer gern bei euch zu Hause. Danke für die Einladung.«
Gwen lachte vergnügt. »Und dann trägst du dein tolles blaues Kleid. Endlich. Du wirst darin die Allerschönste sein. Alle Jungen werden sich um dich reißen.« Besonders unser Charlie, setzte Gwen im Stillen hinzu und hoffte, dass er keinen Korb bekommen würde.
Audra sah zu Gwen empor, die ein paar Zentimeter größer war als sie, und lachte mit ihr. »Du wirst die Allerschönste sein, schließlich ist es doch dein Geburtstag. Aber ich muss zugeben, dass ich danach lechze, mein neues Kleid anzuziehen. Und was wirst du anziehn, Gwenny?«
»Ach, das weiß ich noch nicht. Ich werde schon was Passendes finden. Und was meinst du, wen soll ich noch einladen?« Sie ließ Audra keine Zeit zu antworten und setzte hastig hinzu: »Ich will dir was sagen – lass uns doch zur Bank da drüben gehn und über die Party reden. Du bist immer so klug, Audra, und ich möchte dich in ein paar Sachen um Rat fragen. So ... was man anbietet, und welche Getränke man serviert, und was du überhaupt vorschlagen würdest. Nun komm, Schätzchen.«
Gwen steuerte Audra auf eine Parkbank zu, die unter einer der schönen Trauerweiden stand. Die beiden Mädchen ließen sich dort nieder und steckten die Köpfe zusammen. Und die nächste halbe Stunde plauderten sie angeregt über die Feier zu Gwens zwanzigstem Geburtstag und bedachten jede Einzelheit, planten die Speisenfolge und stellten die Gästeliste zusammen.
Schließlich sagte Gwen: »Danke, Audra, du bist mir eine große Hilfe. Es wird sicher sehr schön ...«
Audra wandte ihre Aufmerksamkeit nun den Passanten zu und dachte, wie schick doch einige Frauen aussahen, die in ihrem besten Staat einen kleinen Spaziergang machten, bevor sie um eins in eines der eleganten Hotels zum Essen gingen. Nach ihrer Kleidung zu urteilen, waren sie aus London und machten in Harrogate »die Kur«. Schon in viktorianischen Zeiten war Harrogate ein berühmter Badeort gewesen, und heute kamen Leute aus der ganzen Welt hierher, um von den vierzig Wassern zu trinken, die in der Trinkhalle zur Verfügung standen, und sich der Wasserbehandlung in den königlichen Bädern zu unterziehen. Ihre Mutter hatte Harrogate wegen seiner Eleganz immer geliebt – die schöne Edith Kenton nannte es ein Relikt aus viktorianischen Zeiten und einer zivilisierteren Ära.
Ihre Mutter hatte mit ihnen oft einen Tagesausflug hierher gemacht. Audra entsann sich eines denkwürdigen Nachmittags im Jahre 1911, als sie hierhergefahren waren, um einen Blick auf die Königinnen von England, Russland und Polen zu erhaschen, die alle an jenem Tag in Harrogate sein sollten. Onkel Peter war bei ihnen gewesen, und er hatte sie auf seine Schultern gehoben, sodass sie über die Menge hinwegschauen konnte. Es herrschte große Aufregung, Fahnen wurden geschwenkt, und eine Blaskapelle spielte ... Audra ließ sich in Erinnerungen einer vergangenen Zeit dahintreiben.
Gwen dagegen dachte an die Zukunft und überlegte, wie sie Audra die schreckliche Nachricht beibringen sollte. Vorhin hatte sie mit dem Gedanken gespielt, gar nichts zu sagen und irgendwann einen Brief zu schreiben. Aber Gwen wusste, dass Audra, die so aufrichtig und gerecht war, etwas Besseres von ihr verdient hatte. Sie kam zu der Einsicht, dass es eigentlich nur einen einzigen Weg gab, sie musste ihrer Freundin noch an diesem Tag alles erzählen.
Sie streckte die Hand aus und berührte vorsichtig Audras Arm. Mit ungewöhnlich gedämpfter Stimme sagte sie dann: »Da gibt es noch etwas, was ich dir sagen möchte, bevor wir jede in unseren Bus steigen ...«
Audra sah sie an und war sogleich ganz aufmerksam. »Du klingst plötzlich so ernst, Gwenny. Ist irgendetwas passiert?«
Gwen schluckte und räusperte sich. »Ich wollte dir das schon den ganzen Nachmittag sagen, aber ich wusste nicht, wie ich anfangen sollte. Also ... weißt du, es ist folgendes, Audra ... ich werde nicht wieder zurück ins Fever Hospital kommen, Audra. Tut mir leid.«
Audra starrte ihre Freundin an, ganz entgeistert über deren Worte. Es war wie eine Bombe für sie, das letzte, womit sie gerechnet hatte. »O Gwen«, murmelte sie leise.
Gwen hatte sie genau beobachtet und sah den Schmerz, der nun ihre strahlendblauen Augen verschattete, sie rief ängstlich: »Bitte, bitte, sei nicht traurig, Audra. Ich fahr ja nicht nach Australien. Ich werde nur ein paar Zugstunden entfernt sein, entweder in Leeds oder in Horsforth. Wir können uns jederzeit sehen, und hör mal: Mum möchte, dass du Weihnachten bei uns bist, wie letztes Jahr. Und an meinem Geburtstag im nächsten Monat sind wir auch wieder zusammen.«
Audra, die Gwens Neuigkeit sehr getroffen hatte, konnte bloß nicken.
»Verstehst du, Audra, es ist so: Dad möchte, dass ich näher bei ihnen bin, wegen Mums schwachem Herzen. Er sagt, ich solle mich beim Infirmary oder dem St. James Hospital um eine Stelle bewerben und bis ich irgendwas hab’, zu Hause bei Mum bleiben. Dad ist ganz eisern, Audra, ich kann ihn nicht umstimmen.«
Audra, die immer Verständnis für die Gefühle anderer hatte, hörte die Traurigkeit in Gwens Stimme, lächelte schwach und nickte: »Ich verstehe schon, Gwenny«, sagte sie. Aber ihr Herz wurde schwer bei dem Gedanken, in Ripon nun ganz allein zu sein. Sie hatte das Gefühl, als ließe man sie schon wieder zurück.
Gwen kam plötzlich eine Idee. »Weißt du was, Audra? Warum bewirbst du dich nicht auch? In einem Krankenhaus in Leeds, meine ich.« Sie rückte etwas näher, nahm Audras kleine Hand und war überrascht, wie kalt diese an dem schwülen Tag heute war. Sie drückte sie fest und bettelte: »Sag ja. Bitte, Schätzchen.«
»Aber ich weiß nicht so recht, ob ich ...«
»Warum denn nicht?«, fragte Gwen, deren Stimme jetzt lauter geworden war. »Es gibt doch keinen vernünftigen Grund für dich, in Ripon zu bleiben.«
Audra blinzelte und hielt dann Gwens direktem Blick stand, erkannte sofort, dass ihre Freundin vollkommen recht hatte. Dann nickte sie bekräftigend. »Ja, das werde ich machen, Gwenny!« Und schließlich trat doch ein Lächeln in ihr Gesicht und vertrieb den Schmerz, der ihre schönen Augen verdunkelt hatte.
Gwen schlang die Arme um Audra und drückte sie fest an sich. Sie platzte fast vor Freude und war unglaublich erleichtert. Der Gedanke, ihre liebe Freundin am Fever Hospital zurücklassen zu müssen, war mehr gewesen, als das Mädchen ertragen konnte.