Die Oberin möchte Sie sehen, Kenton«, sagte Schwester Rogers, während sie ihren Schritt verhielt und Audra mit einem strengen Blick bannte. »Sie hat gesagt, sofort, also beeilen Sie sich.«
Audra, die gerade bei einem Kind Temperatur gemessen hatte, nickte. »Danke. Ich werde gleich nach oben gehen.«
Sie trat vom Bett zurück, und wie stets betrachtete sie ihre jungen Patienten besorgt. Der kleine Quarantänesaal war mit Kindern belegt, die an Keuchhusten litten, und sie hatte an diesem eisigen Dezembermorgen um jedes von ihnen Angst.
Während sie gemeinsam mit der Oberschwester den Saal durchquerte und zur Tür schritt, sagte Audra leise: »Sie sind alle ein bisschen unruhig, besonders der Kleine dort am Fenster. Er ist vom Husten erschöpft und konnte deshalb auch sein Frühstück nicht bei sich behalten – Doktor Parkinson macht sich um ihn ein bisschen Sorgen. Würden Sie bitte eine Hilfsschwester herschicken, dass sie ein Auge auf ihn hat? Und natürlich auf die anderen auch?«
»Machen Sie sich keine Sorgen, ich bleibe selbst hier, bis Sie wieder zurück sind. Ich bin sicher, dass Sie nicht lange bei der Oberin bleiben werden.« Der Mund der Oberschwester wurde von einem schwachen Lächeln verschönt, und ihre Haltung wurde plötzlich freundlicher, als sie ruhig bemerkte: »Ihre Sorgfalt ist wirklich großartig, Kenton. Sie haben sich zu einer guten Schwester herausgemacht.«
Das war wirklich ein großes Lob aus dem Mund der dienstältesten Schwester, die sich von einer Stationshilfe nach oben gearbeitet hatte und als strenge Zuchtmeisterin bekannt war. Audra, ganz überrascht, erwiderte das Lächeln und reckte sich dann stolz zu ihrer ganzen Größe empor. »Danke, Schwester«, sagte sie. »Ich tue mein Möglichstes.«
Schwester Rogers nickte und wandte sich dann ab.
Das war so gut wie eine Entlassung, also durchquerte Audra die vordere Eingangshalle und lief die breite Haupttreppe hinauf in der Hoffnung, dass die Oberin endlich gute Nachrichten für sie haben würde. Nachdem sie beschlossen hatte, Ripon zu verlassen und sich eine Schwesternstelle in Leeds zu besorgen, hatte sich Audra der Leiterin des Krankenhauses anvertraut und sie um ihren Rat gefragt. Diese hatte ihrer Bitte entsprochen und großzügig angeboten, alles in ihrer Macht Stehende zu tun, um ihr zu helfen. Leider hatte sie bislang noch keinen Erfolg gehabt. In den Krankenhäusern von Leeds und Umgebung schien es keine freien Stellen zu geben.
Aber Audra machte sich darüber nicht viele Gedanken, da es Gwen selbst erst kürzlich gelungen war, etwas im Leeds Infirmary zu finden. Wenn sie auch ohne ihre Freundin einsam war, die ihr sonst in den dienstfreien Stunden Gesellschaft geleistet hatte, blieb Audra doch heiter und zuversichtlich, während sie ihre Arbeit erledigte.
In den letzten drei Monaten war Audra stets fest davon überzeugt gewesen, dass sich schließlich irgendetwas ergeben würde, und als sie vor dem Büro der Oberin stehen blieb, fragte sie sich, ob es nun wohl so weit sei. Sie zog ein wenig an ihren Manschetten, um sie geradezurücken, strich ihre gestärkte weiße Schürze glatt und klopfte dann an die Milchglasscheibe. Auf das Geheiß der Oberin trat sie ein.
Margaret Lennox saß hinter ihrem großen, mit Papieren übersäten Schreibtisch.
Sie trug das marineblaue, geschneiderte Kleid und das kleine weiße Musselinhäubchen, welches in der Hierarchie jedes Krankenhauses den höchsten Rang ausdrückte, und wirkte furchteinflößender denn je. Aber Audra wusste aus Erfahrung, dass diese streng aussehende Frau das gütigste Herz besaß.
Die Oberin schaute auf. Beim Anblick Audras lächelte sie, da diese ein besonderer Liebling von ihr war und sie das junge Mädchen achtete, ja ein wenig bewunderte. Sie kannte Audras Geschichte aus den Krankenhausakten und hörte nie auf, über das Rückgrat und die Charakterstärke dieses Mädchens zu staunen.
»Ah, Audra«, sagte sie freundlich, »kommen Sie doch herein, und setzen Sie sich. Ich habe etwas mit Ihnen zu besprechen.«
»Ja, Oberin.« Audra ging schnell auf den Schreibtisch zu und ließ sich auf dem Holzstuhl nieder, auf dem sie so gerade wie immer saß, die Hände im Schoß gefaltet. Ihre großen blauen Augen waren unverwandt auf das Gesicht der Oberin gerichtet.
Margaret Lennox sah auf den Brief in ihrer Hand und legte ihn dann auf den Tisch. »Also, Audra – ich habe vielleicht eine Stelle für Sie in Leeds.«
Audras Gesicht leuchtete auf, und sie öffnete den Mund, um etwas zu sagen.
Aber die Oberin hob abwehrend die Hand und rief: »Einen Moment! Freuen Sie sich nicht zu früh. Ich muss dazu sagen, dass es nicht die Schwesternstelle ist, nach der Sie gesucht haben, Audra. Es ist leider nicht an einem Krankenhaus.«
»Oh«, sagte Audra, »ich verstehe.« Und ihr Gesicht wurde traurig.
»Ich weiß, dass Sie enttäuscht darüber sind, dass ich Sie an keiner geeigneten Stelle unterbringen konnte«, sagte die Oberin mitfühlend. »Aber ich glaube dennoch, dass Sie diese Privatstelle in Betracht ziehen sollten, besonders, da Sie ja so dringend nach Leeds wollen.«
»Natürlich, Oberin.«
»Braves Mädchen. Also, Audra, ich habe hier einen Brief von einer gewissen Mrs Irène Bell, der Frau eines bekannten Rechtsanwalts in Leeds. Sie sucht nach einem Kindermädchen und hat sich mit mir in Verbindung gesetzt, um hier am Krankenhaus eine passende Kraft zu finden. Und da habe ich natürlich sofort an Sie gedacht, Audra.«
Oberin Lennox erklärte dann, dass sie Mrs Bell vor dem Krieg durch ihre Arbeit für die Frauenbewegung kennengelernt hatte und dass sie seitdem miteinander befreundet seien. »Ich kann Mrs Bell gar nicht genug loben. Sie hat Hervorragendes geleistet, und ich bin sicher, dass Sie sich mit ihr gut verstehen werden. Nach ihrem Brief zu urteilen, ist es jedenfalls keine schwierige Tätigkeit. Es ist nur ein Kind, um das Sie sich kümmern müssen, ein kleiner Fünfjähriger. Die drei anderen Kinder sind groß, ich glaube, im Internat.« Die Oberin zog fragend die Augenbrauen hoch. »Was sagen Sie, Audra. Haben Sie Interesse?«
Audra hatte begierig gelauscht, und sie wusste, dass es töricht wäre, dieses Angebot einfach abzulehnen, ohne nach Einzelheiten zu fragen. Also sagte sie schnell: »Ja, Oberin.«
Diese nickte, als hätte sie es auch nicht anders erwartet, und sagte darauf: »Ich bin sicher, dass Sie mit so einer Tätigkeit spielend fertig werden.« Sie lehnte sich zurück, die Hände mit ausgestreckten Fingern aneinander gestützt, betrachtete Audra eine Weile, bevor sie sagte: »Sie können so wunderbar mit Kindern umgehen, dass Sie bestimmt ein gutes Kindermädchen abgeben. Aber Sie sind vor allem eine außergewöhnliche Krankenschwester. Sie können heilen, Audra, und das ist selten. Vergessen Sie nie, dass Sie diese bemerkenswerte Fähigkeit besitzen ... diese Gabe.«
»Nein, das werde ich nicht«, erwiderte Audra, die ganz rot geworden war vor Freude. Dann drückte sie der Oberin leise ihren Dank aus für ihre freundlichen Worte und das Vertrauen, das sie ihr ausgesprochen hatte.
Margaret Lennox fuhr fort: »Ich hätte für Sie hier am Krankenhaus so meine Pläne gehabt, Audra, und Sie wären bald befördert worden.« Mit ehrlicher Sympathie lächelte sie der jungen Frau zu und zog dann resigniert die Schultern hoch. »Na, da kann man nichts machen ... ich jedenfalls bedaure es sehr, dass Sie gehen wollen, falls das denn sicher ist, Audra. Aber wie ich Ihnen gleich gesagt habe, würde ich es mir nie anmaßen, mich Ihnen in den Weg zu stellen.«
»Ja, das weiß ich, Oberin, und ich schätze auch sehr, was Sie alles für mich getan haben.«
Die Oberin lächelte flüchtig und sagte dann sachlicher: »Ich werde Mrs Bell heute anrufen und mit ihr einen Vorstellungstermin in Leeds verabreden. So wie ich Näheres weiß, lasse ich Sie es wissen. Und nun sollten Sie wieder an Ihre Arbeit auf der Station zurückgehen, Audra.«
»Ja, Oberin«, sagte Audra und erhob sich. »Nochmals vielen Dank.«
Sie war auf dem Weg nach Leeds, um sich mit Mrs Irène Bell vom Calpher House, Upper Armley, zu treffen.
Audra hatte das Gefühl, als sei dies ein verheißungsvoller Augenblick. Sie lachte leise über sich selbst. Schließlich war es bloß ein Vorstellungsgespräch. Aber andererseits würde sich, wenn alles gut ginge, ihr Leben endlich von Grund auf ändern. Vielleicht war es sogar der Anfang eines ganz neuen Lebens.
Dieser Gedanke beflügelte ihren Schritt, als sie den Marktplatz von Ripon überquerte und zum kleinen ländlichen Bahnhof in der North Road ging. Audras Augen strahlten, und es lag ein solcher Glanz auf ihrem jungen Gesicht, dass sich mehrere Leute nach ihr umschauten, als sie vorüberging. Aber sie bemerkte das gar nicht. Sie nahm auch das Wetter nicht wahr. Es war ein rauer Tag, ungewöhnlich kalt, und der Himmel bedeckt und schneebeladen. Aber wenn es nach ihr ginge, hätte es ebenso gut mitten im Frühling sein können. Eine erwartungsvolle Erregung beherrschte sie. Noch vor einer Woche hatte sie nichts von der Familie Bell gewusst, und nun durchquerte sie halb Yorkshire, um sich um eine Stelle bei ihnen zu bewerben.
Und wenn sie die Bells nicht mochte?
Sie verhielt ihren Schritt, aber nur für den Bruchteil einer Sekunde. Dann schritt sie so flott voran wie zuvor und sagte sich, dass sie sich dann eben höflich entschuldigen und sofort gehen würde, wenn die Leute von Calpher House nicht den Eindruck vernünftiger Arbeitgeber machten.
Der Kontrolleur am Bahnhof grüßte Audra fröhlich, knipste ihre Fahrkarte ab und reichte ihr den Kontrollabschnitt. Dann tippte er höflich an seine Mütze, und sie erwiderte seinen Gruß, rannte dann den Bahnsteig entlang, auf dem der Zug nach Leeds schon eingefahren war, Dampf ausstieß und pfiff. Sie stieg schnell ein und ging in das erstbeste Erste-Klasse-Abteil. Sie setzte sich auf einen Eckplatz am Fenster, und es verblieben ihr nur noch wenige Minuten, ehe der Pfiff ertönte und der Zug losfuhr.
Bald merkte sie, dass es im Abteil wärmer war, als sie erwartet hatte. Sie streifte ihre grauen Wollhandschuhe ab, öffnete den Mantel und lehnte sich zurück, machte es sich für die Fahrt gemütlich.
Audra wusste, dass sie heute schick aussah.
Für die Reise nach Leeds hatte sie sich zu ihrem besten grauen Meltonmantel entschlossen. Auch wenn sie ihn im Ausverkauf erstanden hatte und er schon zwei Jahre alt war, war er doch immer noch modern, ein Wickelmodell mit langen, hoch gerollten Aufschlägen, die an der Hüfte mit einem großen Knopf befestigt waren. Darunter trug sie einen gerade geschnittenen Wollrock und einen dazu passenden grauen Jumper, der bis über die Hüften reichte. Beides zusammen bewirkte eine schmale, röhrenförmige Silhouette, und sie fand, dass diese lange Linie und die hohen, schwarzen Schuhe mit den kubanischen Absätzen sie größer erscheinen ließen. Das freute Audra, die immer darauf bedacht war, ein paar Zentimeter größer auszusehen. Ihr einziger Schmuck waren die Kameebrosche ihrer Mutter, die sie sich vorn an den Jumper gesteckt hatte, und ihre gebraucht gekaufte, aber wie ein Schatz gehütete Uhr.
Als Audra Gwen im September besucht hatte, gab ihre Freundin ihr einen Glockenhut aus pflaumenfarbenem, angerautem Filz. »Einer meiner schlimmsten Käufe«, hatte Gwen gesagt, als sie den Hut Audra zeigte. »Wie eine Erbse auf einem Tablett. Ich seh’ scheußlich damit aus, aber dir wird er bestimmt perfekt stehen, Schätzchen.« Und sie hatte recht behalten. Der Glockenhut war perfekt für Audra, und sie hatte ihn für eine besondere Gelegenheit aufbewahrt, trug ihn heute zum ersten Mal.
Aber nun fragte sie sich, ob er für die Vorstellung bei Mrs Bell nicht vielleicht zu frivol aussähe, und sie öffnete ihre Handtasche und holte einen Spiegel heraus. Was sie sah, beruhigte sie sofort wieder. Der Glockenhut, momentan der letzte Schrei, verlieh ihr etwas Elegantes, Modisches, und das tiefe Pflaumenblau war genau der richtige Farbakzent zu ihrer sonst durchgehend grauen Kleidung. Sie sah unauffällig elegant aus und war sicher, dass sie auf Mrs Irène Bell einen guten Eindruck machen würde.
Audra sprach diesen Vornamen leise vor sich hin. Man schrieb ihn französisch und sprach ihn französisch aus, und sie fand ihn wunderschön. Und als der Zug durch die Dales auf Leeds zu rumpelte, verweilten Audras Gedanken bei der Frau, die sie gleich sehen würde, und sie ließ das wenige, das sie von der Oberin über sie erfahren hatte, Revue passieren.
Soweit Audra wusste, war Irène Bell eine erfolgreiche Geschäftsfrau mit ausgeprägten geistigen Interessen, eine Art Blaustrumpf. Sie war eine engagierte Frauenrechtlerin und immer eine leidenschaftliche Anhängerin der Pankhurst-Bewegung gewesen, die so viel für die Emanzipation erreicht hatte. Nach Ansicht der Oberin gehörte Mrs Bell auch zu den Bewunderern von Nancy Astor, der amerikanischen Frau von Lord Astor, die als erste Frau im Parlament saß. Mrs Bell wirkte unermüdlich für die Partei der Tories in Leeds, und ihre eigenen politischen Ambitionen richteten sich ebenfalls auf das Parlament.
Audra hatte keinen Zweifel daran, dass sie eine sehr interessante Frau war, völlig anders als alle, die ihr bisher begegnet waren. Von Oberin Lennox abgesehen, die ein wirkliches Original war und die Audra verehrte, ja sogar idealisierte.
Sie sah aus dem Zugfenster, fast ohne die vorüberfliegenden Felder und Hecken wahrzunehmen, und versuchte, sich Mrs Bell vorzustellen. Da sie eine langjährige Freundin der Oberin war und schon erwachsene Kinder hatte, kam Audra zu dem Schluss, dass sie um Mitte Vierzig sein musste. Sofort sah sie das Bild einer strengen, ernsten Person vor sich, die vielleicht der Oberin ähneln mochte und ein Muster an Planung und Tüchtigkeit war.
Letzteres lag an dem Brief, den Audra Anfang der Woche von Mrs Bell erhalten hatte. Er war detailliert und genau, und die Anweisungen, wie sie zum Calpher House, Upper Armley, kommen würde, überließen nichts dem Zufall. Wieder dachte Audra, zum zweiten Mal in den letzten Tagen, dass Mrs Bell eine sehr zuvorkommende Frau sein müsse, da sie ihr ein Erste-Klasse-Billett geschickt hatte anstatt eines billigeren, wie man es hätte erwarten können. Das war wirklich sehr rücksichtsvoll und vielleicht ein gutes Omen für die Zukunft – zumindest wollte es Audra so scheinen.
Pünktlichkeit war eine ihrer Stärken, und Audra regte sich immer auf, wenn sie zu spät kam. Während der ganzen Fahrt hatte sie stets auf ihre Armbanduhr geschaut und gebetet, dass der Zug auch pünktlich ankommen würde. Zu ihrer großen Erleichterung war das der Fall. Genau um eine Minute vor zwei fuhren sie in den Hauptbahnhof von Leeds ein, also sogar noch sechzig Sekunden zu früh.
Sobald sie die kahle, schmuddelige Bahnhofshalle hinter sich gelassen hatte, wurde Audra in einen Strom von Verkehr und Fußgängern gerissen, die eilig ihren Geschäften nachgingen. Ein oder zwei Sekunden lang verwirrten und überwältigten sie der ohrenbetäubende Lärm und die fiebrige Geschäftigkeit der größten Industriestadt im Norden Englands. Die dissonanten Geräusche bildeten einen betäubenden Kontrast zur idyllischen Ruhe des schläfrigen, ländlichen Ripon.
Aber da es nichts gab, was Audra Kenton längere Zeit aus der Fassung bringen konnte, gewöhnte sie sich relativ schnell an ihre Umgebung. Nach einer kurzen Pause holte sie tief Luft, warf ihre Schultern zurück und reckte stolz den Kopf, fest entschlossen, mit allem fertig zu werden, was in dieser aufregenden neuen Welt auf sie wartete.
Die Handtasche fest unter den Arm geklemmt, marschierte sie über die Straße zum City Square, welcher vom Standbild des Schwarzen Prinzen auf seinem Schlachtross beherrscht wurde. Ohne Schwierigkeiten fand sie die Straßenbahnhaltestelle, nach der sie gesucht hatte, und nachdem sie zehn Minuten in einer kleinen Schlange gestanden hatte, stieg sie hinter den anderen in die Bahn in Richtung Whingate. So hieß die Endstation in Upper Armley, von wo aus die Bahn in die Stadt zurückfuhr. Mrs Bell hatte ihr gesagt, sie solle einfach bis zur letzten Station sitzen bleiben.
Eine halbe Stunde später stieg Audra aus der doppelstöckigen Straßenbahn aus, mit der sie so gern gefahren war, und blieb einen Augenblick lang stehen, sah mit wachem Interesse um sich. Schließlich konnte es ja sein, dass sie bald hier leben würde.
Zu ihrer Rechten befand sich das winzige Dreieck eines Parks, der von einem spitzenbewehrten schwarzen Eisengitter und einer säuberlich gestutzten Ligusterhecke umgeben war und der, wie Mrs Bell geschrieben hatte, seltsamerweise Charlie Cake Park hieß. Links stand ein riesiges rotes Klinkergebäude, welches sich hinter einer niedrigen Ziegelmauer erstreckte, und sie nahm an, dies sei die West Leeds Boys’ Highschool.
Audra wusste genau, wohin sie sich jetzt wenden musste.
Sie ging mit flottem Schritt los, sah sich ihre Umgebung an und nahm alles mit scharf beobachtendem Blick auf. Ihr fiel auf, wie malerisch das Dorf Upper Armley war, und dass es einen seltsamen viktorianischen Charme besaß. Und trotz des dunkel gefleckten Himmels, der finster Schnee ahnen ließ, und einer Landschaft, aus der alles Grün verschwunden war, konnte man leicht sehen, wie hübsch es hier im Sommer sein musste.
Noch immer Mrs Bells Anweisungen folgend, die sie schon vor Tagen ihrem ausgezeichneten Gedächtnis anvertraut hatte, schritt Audra eilig die Greenhill Road in Richtung Hill-Top hinauf, in dessen Nähe sich das Haus der Bells befand.
Es war ein schneidend kalter, windiger Nachmittag, und sie musste ihren kleinen Glockenhut festhalten, als sie sich mühsam gegen den Wind vorankämpfte, der mit eisiger Wut über den Berg pfiff. Audra zitterte, als sie schließlich die höchste Stelle erreicht hatte und vor einem achtunggebietenden schmiedeeisernen Tor stehen blieb, an dem ein großes, rautenförmiges Schild hing. Es war aus Messing und strahlend blankgeputzt. In Zierschnörkeln stand Calpher House darauf, und sie wusste, dass sie ihr Ziel erreicht hatte.