Kapitel 7

Irène Bell hatte gar keine Ähnlichkeit mit dem Bild, das Audra sich gemacht hatte. Die Frau, die über den prachtvollen langen türkischen Läufer auf sie zugeschritten kam, war hochgewachsen, geschmeidig, sehr elegant und besaß das strahlendste kastanienrote Haar. Dies war zu einem glatten modischen Bubikopf geschnitten und bog sich als Pony über nachgezogenen Brauen und samtbraunen Augen, die strahlend dreinblickten. Die hohen Wangenknochen und die schlanke aristokratische Nase waren mit Sommersprossen übersät, der ziemlich breite Mund durch scharlachroten Lippenstift betont.

Irène Bell sah umwerfend aus, und ihre fesselnde persönliche Note konnte man fast schon Extravaganz nennen.

Mit schnellen Schritten durchquerte sie den hübschen, blau-weißen Raum voller Antiquitäten, in welchem Audra auf sie wartete. In der Art, wie sie sich bewegte, konnte man gerade noch den früheren Wildfang erahnen, ja, sie strahlte etwas Ausgelassenes aus und wirkte auch viel jünger als Mitte Vierzig. Das rote Wolljerseykleid, das sie trug, betonte noch ihre Jugendlichkeit mit seinem langen, lose sitzenden Oberteil und dem ziemlich kurzen Faltenrock, der um ihre schönen Beine wirbelte.

Audra erkannte das Kleid sofort. Erst in der letzten Woche hatte sie eine Fotografie davon gesehen in einer alten Sommerausgabe von Harper’s Bazaar, die sie an einem Secondhand-Stand auf dem Markt von Ripon gekauft hatte. Eine junge französische Couturière hatte es entworfen, die Gabrielle Chanel hieß und momentan in aller Munde war.

»Hallo! Hallo!«, rief Mrs Bell, verhielt ihren Schritt und streckte ihrer Besucherin die Hand hin. »Wie ich mich freue, Sie kennenzulernen, Miss Kenton.«

Audra ergriff ihre Hand und spürte, wie ihre eigene sehr fest gedrückt wurde. »Guten Tag, Mrs Bell. Auch ich freue mich sehr, Sie zu sehen.«

Irène Bell, die ihr warm und gewinnend zulächelte und ihre Hand nicht losließ, zog Audra auf die beiden riesigen Sofas zu, die vor dem Kamin einander gegenüberstanden. »Wie reizend von Ihnen, dass Sie sich auf diese lange Reise gemacht haben, Miss Kenton. Und dann bei diesem schrecklichen Wetter. So freundlich von Ihnen. Ja, bitte nehmen Sie doch hier Platz. Ja, genau, dicht am Feuer. Wärmen Sie sich etwas auf nach Ihrer Reise. Die Köchin macht uns eine heiße Schokolade. Cora wird sie gleich bringen. Hoffentlich mögen Sie überhaupt heiße Schokolade. Oder ist Ihnen ein Tee lieber? Oder vielleicht ein Kaffee?«

»Nein, eine Schokolade ist gerade das richtige, vielen Dank«, erwiderte Audra und setzte sich vorsichtig auf die Kante des blauen Samtsofas. Ihr wacher Blick ruhte auf Mrs Bell, die sich auf dem anderen Sofa niedergelassen hatte.

Jetzt, da Audra sie von Nahem sehen konnte, stellte sie fest, dass sie sich in Irène Bells Alter doch nicht geirrt hatte. Sie war ganz offensichtlich eine Frau von Mitte Vierzig, hatte sich aber sehr gut gehalten und war außerordentlich gepflegt. Wenn sich auch verräterische Linien um ihre Augen und ihren Mund zogen, waren diese doch sehr schwach und kaum zu sehen. Sie hatte ihre gute Figur bewahrt, und in ihrem feuerroten Haar ließ sich kein Grau ausmachen – und es war eine Naturfarbe, nicht gefärbt. Ihre Lebendigkeit, die Energie, mit der sie sich bewegte und sprach, ihre Intensität und Schnelligkeit trugen ebenfalls zu dem jugendlichen Eindruck bei.

Intuitiv wusste Audra, dass sie diese Frau mögen würde, auch wenn sie jene erst ein paar Minuten kannte. Mrs Bell war offen und entspannt, ehrlich und nüchtern, und Audra spürte, wie sie das in vielfacher Hinsicht ansprach. Sie lehnte sich zurück, ganz locker plötzlich, und fühlte sich einfach wohl im Calpher House. Sie, die sonst Fremden gegenüber immer scheu und reserviert war, gab sich mit Mrs Bell vollkommen entspannt.

Irène Bell kreuzte ihre langen, schlanken Beine, ließ ihre dunklen, intelligenten Augen auf Audra ruhen und musterte sie unauffällig.

Dann sagte sie mit ihrer hellen, fröhlichen Stimme: »Wissen Sie, Miss Kenton, ich komme mir ziemlich töricht vor. Dass ich Sie darum gebeten habe, zu einem Einstellungsgespräch zu kommen, wo Ihnen doch Oberin Lennox so eine großartige Beurteilung gegeben hat, dass ich Sie gleich am Telefon engagieren wollte. Ohne Sie vorher persönlich kennenzulernen.«

Wie über sich selbst lachend, funkelten ihre Samtaugen vor Humor, als sie hinzusetzte: »Aber dann fiel mir ein, wie unfair das gegen Sie wäre, Miss Kenton. Schließlich ist es wichtig, dass Sie uns mögen. Dass Sie hier im Calpher House leben und arbeiten wollen. Und da wusste ich, dass ich Ihnen die Möglichkeit geben musste, herzukommen und sich uns erst einmal anzuschauen.«

Irène Bell lachte wieder, lehnte sich zurück, stützte einen Ellbogen auf den Berg von Seidenkissen und musterte Audra weiterhin diskret, um sie nicht verlegen zu machen. Sie war fasziniert von der jungen Frau vor ihr, die sich mit so viel Anmut und Würde hielt. Margaret Lennox hatte sie schon in beredten Bildern gepriesen, und die Oberin hatte offensichtlich nicht übertrieben. Audra Kenton war kleiner, als sie gedacht hatte, sogar zerbrechlich, aber physisches Durchhaltevermögen war ihr auch nicht besonders wichtig. Ihr lag an Charakterstärke, an einem feinen Wesen, Anständigkeit und einer gewinnenden Art, wenn sie ein Kindermädchen aussuchte und einstellen wollte. Und dieses Mädchen besaß jede dieser Qualitäten und noch mehr, wenn man Margaret, deren Urteil sie vertraute, glauben mochte.

»Oberin Lennox meinte, wir beide würden miteinander auskommen, Mrs Bell, und sie sei sicher, dass ich mit der Tätigkeit hier fertig werden würde.« Audra richtete ihre klaren blauen Augen auf die andere Frau und sagte zögernd: »Aber im ganzen war sie etwas vage. Vielleicht sind Sie so nett, mir noch ein bisschen mehr darüber zu erzählen, Mrs Bell.«

»Du meine Güte, natürlich! Ich muss Sie doch informieren, selbstverständlich. Also lassen Sie mich sehen ... wie Sie sicher von der Oberin wissen, würden Sie für unser jüngstes Kind die ganze Verantwortung haben. Unser einziger Sohn. Meine drei Töchter sind schon groß, die älteste, Miss Pandora, wohnt hier. Die beiden jüngeren, Felicity und Antonia, sind im Internat. Aber ich muss Ihnen etwas erklären, Miss Kenton – ich kümmere mich jeden Tag um die Geschäfte. Ich leite die Wollspinnerei, die ich von meinem Vater geerbt habe. Und dann habe ich auch einen Salon für exklusive Damenmode in Leeds. Paris Modes. Sie haben bestimmt schon davon gehört.«

Audra schüttelte bedauernd den Kopf. »Leider nein, Mrs Bell. Das einzige Geschäft in Leeds, das ich kenne, ist das Kaufhaus Harte’s. Dort bin ich einmal mit meiner Freundin Gwen gewesen.«

Mrs Bell sagte: »Mein Kleidergeschäft ist nicht so groß wie Emma Hartes Kaufhaus. Aber meine aus Frankreich importierten Kleider fangen langsam an, denen Konkurrenz zu machen, die sie in ihrem Modellraum bei Harte’s verkauft. Aber ich schweife ab. Eben weil ich die meiste Zeit außer Haus bin, brauche ich eine verantwortungsvolle Person, die sich ums Kinderzimmer und den Kleinen kümmert. Eine Person wie Sie. Und was Ihre Unterbringung angeht, haben Sie hier ein schönes Schlafzimmer, groß und gemütlich, mit Blick auf den Garten. Es ist im selben Stockwerk wie das Kinderzimmer und besitzt ein eigenes Badezimmer. Sie würden in der Woche einen Tag frei haben und jeden zweiten Sonntag. Eine Woche Urlaub gibt es im Jahr. Sie bekämen drei Baumwolluniformen für den Sommer und einen Sommermantel mit Hut. Dasselbe gilt für den Winter. Und was die Bezahlung angeht ...«

Mrs Bell unterbrach sich, als es klopfte, und sah zur Tür. Die öffnete sich und ließ ein rundliches junges Dienstmädchen herein, die etwas zu eilig voranstürzte und einen vollbeladenen Teewagen schob.

»Da sind Sie ja endlich, Cora«, rief Mrs Bell. »Aber seien Sie bitte, bitte vorsichtig. Schieben Sie den Wagen hier an den Kamin. Dies ist Miss Kenton, Cora. Die, wie ich sehr hoffe, hier zu uns nach Calpher House kommen wird. Als das neue Kindermädchen.«

Cora und der Teewagen hielten mit abruptem Geklapper. Sie starrte Audra an, kniff die Augen zusammen und betrachtete sie argwöhnisch. Dann, als sei sie zu dem Entschluss gekommen, dass sie ihr gefiele, lächelte Cora breit und machte einen halben Knicks. »Freut mich, Sie kennenzulernen, Miss«, sagte sie und marschierte dann weiter die lange türkische Brücke entlang, wobei sie den Teewagen mit unbekümmerter Fahrlässigkeit handhabte.

Audra neigte anmutig den Kopf und erwiderte das Lächeln. »Guten Tag, Cora«, sagte sie und krümmte sich leicht, da sie Cora gefährlich nahen sah. Sie hoffte für das Mädchen, dass nichts krachend herunterfallen würde.

Irène Bell entließ Cora mit einem Lächeln und Kopfnicken, ergriff die silberne Kanne und goss zwei große Frühstückstassen voll, wobei sie sagte: »Wir haben eine großartige Köchin, Mrs Jackson, und der Butler heißt Mr Agiter. Das andere Dienstmädchen, Dodie, ist Ihnen doch begegnet, als Sie kamen? Hat sie Ihnen nicht die Tür geöffnet?«

»Ja, Mrs Bell«, sagte Audra und stand auf, ging zum Teewagen hinüber, um die Tasse heißer Schokolade entgegenzunehmen, die man ihr reichte.

Irène Bell rief: »Und Sie müssen eine von unseren heißen Cornishpasteten probieren, Miss Kenton. Sie sind köstlich. Fast schon berühmt hier in der Gegend.«

»Danke.« Audra stellte die Tasse mit heißer, schäumender Schokolade auf den antiken Mahagonitisch neben dem Sofa, nahm sich eine der Fleischpasteten und ging wieder an ihren Platz.

Mrs Bell nahm einen Schluck Schokolade und fuhr dann fort: »Wie ich gerade sagen wollte, als Cora hineinkam, würde Ihr Gehalt sechzig Pfund im Jahr betragen. Das sind zehn Pfund mehr, als ich dem vorigen Kindermädchen gezahlt habe. Oberin Lennox meinte, weniger könnte man Ihnen nicht anbieten, da Sie dort am Krankenhaus eine so gute Ausbildung bekommen haben.« Dann beugte Irène Bell sich gespannt vor: »Wie sieht es aus, Miss Kenton, haben Sie Interesse?« Eine perfekt nachgezogene Augenbraue hob sich fragend.

Audra war über das viele Geld, das man ihr zahlen wollte, gleichzeitig überrascht und erfreut. Sie sagte: »Ich habe Interesse daran, Mrs Bell, sehr großes. Aber ich möchte zuerst noch Ihren kleinen Jungen sehen, ehe ich endgültig zusage.« Audra sah sie offen an und lächelte aufrichtig und herzlich. »Ich bin mir ziemlich sicher, dass ich ihn mögen werde, aber ich möchte auch sicher sein, dass ich ihm sympathisch bin.«

»Wie reizend von Ihnen, Miss Kenton. Und ich bin wirklich außer mir vor Freude, dass Sie nun zu unserer kleinen Familie gehören werden.« Irène Bells Gesicht, das immer beweglich und ausdrucksvoll war, spiegelte nun etwas wie Erleichterung und Freude wider. Ihr fröhliches Lachen hallte durch das Zimmer. »Ich weiß, dass das Baby Sie mögen wird! Wie sollte es nicht? Momentan macht es gerade sein Nachmittagsschläfchen, aber nachher können Sie es gern kennenlernen. Und bevor Sie gehen, möchte ich Ihnen Calpher House zeigen. Und Sie mit dem anderen Personal bekannt machen.«

Das Auto hielt langsam vor dem Hauptpostamt am City Square an.

Gleich darauf hielt der livrierte Chauffeur die hintere Tür auf und half Audra hinaus. »Vielen Dank auch, Robertson«, sagte sie und schenkte ihm ein aufrichtiges Lächeln.

»War mir ein Vergnügen, Miss. Guten Tag, Miss.« Er tippte an seine Dienstmütze und stieg schnell wieder beim Fahrersitz ein.

Audra drehte sich um und machte einen Schritt auf Gwen zu, die bei den Stufen des Postamtes stand, wo sie miteinander verabredet waren.

Gwens Augen waren weit aufgerissen. Dann fing sie sich wieder und lief auf Audra zu. Sie ergriff deren Hände und rief mit schriller, aufgeregter Stimme: »Sind wir jetzt aber schick! Einfach mit einem schicken Auto angerollt kommen. Ist das die Möglichkeit!«

Audra musste über Gwens ungläubiges Gesicht einfach lachen. Sie erklärte ihr: »Mrs Bell hat mich etwas länger im Calpher House festgehalten, als ich gedacht hatte. Und schließlich wurde ich ein bisschen nervös. Ich wollte ja nicht zu spät kommen und dich hier in der Kälte stehen lassen. Und deshalb hat sie mich mit dem Auto geschickt.«

»Das war aber nett von ihr!«, rief Gwen, die offenbar nicht nur vom Auto, sondern auch von Mrs Bell tief beeindruckt war. Neugierig sah sie Audra ins Gesicht und fragte: »Und was ist, hast du die Stelle angenommen?«

»Ja, Gwen, das habe ich.«

»Schätzchen, wie ich mich freue.« Gwen schlang die Arme um sie und drückte sie fest an sich. Die beiden klammerten sich aneinander, machten einen kleinen Tanz und fingen dann an, laut zu lachen.

Ihre Albernheit wurde von einer Männerstimme unterbrochen, die sagte: »Sie werden gleich kommen und euch abholen, so wie ihr euch hier aufführt – wie zwei Verrückte, und das mitten auf dem City Square.«

»Hallo, Charlie«, rief Gwen und sah zu ihrem Bruder auf, der sie beide überragte und sie mit den Händen in den Taschen amüsiert beobachtete. »Du bist ja ganz pünktlich heute.«

»Bin ich das nicht immer?« Charles Thornton grinste seiner Schwester zu und schenkte Audra dann ein schüchternes Lächeln. »Hallo, Audra«, sagte er, unfähig, seine bewundernden Blicke zu zügeln. Er streckte ihr die Hand hin.

Audra wurde das Herz schwer, als sie Charlie sah – sie hatte nicht damit gerechnet, dass er den Abend mit ihnen verbringen würde. So gern wäre sie mit Gwen allein gewesen. Sie hatten einander schon wochenlang nicht mehr gesehen, und es gab viele Dinge, über die sie sprechen wollten, besonders jetzt, da sie die Stelle bei den Bells angenommen hatte.

»Hallo«, erwiderte Audra in ihrer ruhigen Art und nahm seine Hand, froh darüber, dass sie Handschuhe trug. Charlie hatte immer so feuchte Hände, auch wenn es kalt war. Er schwitzte eben leicht, und obwohl sie wusste, dass er nichts dafür konnte, fühlte Audra sich von dieser unglücklichen Veranlagung abgestoßen. Sie schätzte Charlie als Menschen, hatte aber nicht den Wunsch, ihn zum Freund zu haben. Dennoch war genau das Gwens Hoffnung, und sie setzte ihr Charlie dauernd vor. Audra wünschte inbrünstig, die Freundin würde damit aufhören. Charlie Thornton war ganz und gar nicht ihr Typ. Allerdings war er keineswegs unattraktiv. Er war groß, gut gebaut, hatte breite Schultern, sah wirklich sehr männlich aus, obwohl Audra argwöhnte, dass er später fett werden würde. Er hatte blondes Haar, eine helle Haut und freundliche graue Augen. Sein Gesicht passte genau zu seinem sanften Wesen. Audra hatte den Eindruck, dass er sentimental sein konnte, und meist fand sie ihn schrecklich fad. Er war sicher ein ehrenwerter Mensch, instinktiv ahnte sie aber, dass er schwach war, seltsam unfähig.

Gwen sagte beflissen: »Charlie geht nachher mit uns ins Kino, Audra. Er lädt uns ein. Wir gehn ins Rialto nach Briggate und schauen uns den neuen Film mit Mary Pickford an. Ist das nicht nett von ihm?«

»Ja, sehr nett«, stimmte Audra ihr zu und rang sich ein Lächeln ab.

Gwen übernahm wie stets die Führung und fuhr hastig fort: »Na, dann wollen wir auch nicht wortlos hier herumstehen und uns anstarren. Wir haben noch eine Stunde Zeit vor dem Kino, warum machen wir uns nicht zu Betty auf und trinken eine schöne Tasse Tee?«

Audra und Charlie fanden das eine gute Idee.

Inzwischen war es noch kälter geworden, und der Schnee, den man schon den ganzen Tag lang erwartet hatte, fiel nun in kleinen schwebenden Flocken und bedeckte den Boden. Das Licht wurde von dem sich herabsenkenden Himmel ausgelöscht, es dämmerte rasch. Charlie hakte sich bei den beiden Mädchen ein und führte sie schnell über den City Square in Richtung Commercial Street, wo sich das Café befand. Bevor sie in diese Straße einbogen, hielten alle drei plötzlich inne und sahen wie gebannt in die Schaufenster des Harte-Kaufhauses, bezaubert von dem Anblick, der sich ihnen bot. Die Fenster waren weihnachtlich dekoriert und strahlten in der einsetzenden Dämmerung – blinkende, farbige Lichter und glitzernde Szenarios, die verschiedene Märchen abbilden sollten. Ein Fenster war Aschenbrödel gewidmet und zeigte sie, wie sie mit ihrer schimmernden Glaskutsche auf dem Ball eintraf, ein anderes Hänsel und Gretel, die vor dem Pfefferkuchenhaus standen, und ein drittes zeigte die Schneekönigin in all ihrer eisigen Pracht.

»Wie schön das ist«, murmelte Audra und verweilte dort noch einen Augenblick länger als die beiden anderen, dachte an High Cleugh und die prachtvollen Weihnachten ihrer Kindheit.

»Ja, find ich auch«, sagte Gwen und zerrte an ihr. »Aber nun komm weiter, Schätzchen, der Schnee fällt immer dichter. Wir sind im Handumdrehen durchgeweicht.«

Gwen hakte sie ein und ließ den Gesprächsfluss nicht abreißen, während sie die Commercial Street hinaufgingen – ihrem Ruf als Plaudertasche machte sie wieder einmal alle Ehre. Charlie, der auf der anderen Seite von Audra dahinstapfte, machte gelegentlich kurze Einwürfe, aber Audra schwieg – sie war nachdenklich.

Plötzlich kam sie sich lieblos vor, dass sie so unfreundliche Gedanken über Charlie hegte, der doch im Grunde harmlos war und es nur gut meinte. Alle Thorntons meinten es gut und waren sehr freundlich zu ihr. Mrs Thornton sagte ihr immer wieder, sie könne The Meadow als ihr Zuhause betrachten, ja sie hatte sogar den kleinen Abstellraum hinten im zweiten Stock als Schlafzimmer für sie eingerichtet. Mrs Thornton hatte darauf bestanden, dass sie ein paar Kleider daließ, und als sie Gwen im November besucht hatte, ließ sie einige Toilettenartikel und ein Nachthemd dort zurück, welches sie heute Nacht anziehen konnte.

Nächste Woche würde sie wieder in Horsforth sein, um mit Gwen das Christfest zu verbringen, und die Thorntons würden sie wie ein Familienmitglied behandeln, als eine von ihnen, wie sie es immer taten. Sie waren so unglaublich großzügig und gütig. Und ich bin äußerst undankbar, schalt Audra sich. Sie wusste, dass Gwen sich sehr freuen würde, wenn sie nett zu Charlie wäre, also entschloss sie sich, liebenswürdig zu ihm zu sein, ohne ihn indes zu ermutigen und ihm einen falschen Eindruck zu vermitteln. Er darf es nicht falsch verstehen. Das wäre eine Katastrophe. Und nach den Ferien würde sie Gwen ganz sanft zu verstehen geben, dass sie nicht nach einem Ehemann Ausschau hielt.