Kapitel 8

Es war ein sehr kalter Morgen. Eisig.

Vielleicht würde es sich heute doch noch zum kältesten Tag des Winters entwickeln, dachte Audra, genau wie der Gärtner es gestern vorausgesagt hatte, als sie von ihrem Spaziergang zurückkehrte. Er hatte seine Schubkarre abgestellt und zum Himmel gesehen, dann schnupperte er mit zusammengekniffenen Augen, als könne er auf diese geheimnisvolle Weise in die Zukunft schauen.

»Morgen werden Sie sich totfriern, Miss Audra. Von der Nordsee zieht ein Wetter rauf. Wird arktisch, können Sie mir glauben, Miss.«

Sie war noch nie in der Arktis gewesen, aber es konnte dort auch nicht kälter sein als momentan in ihrem Schlafzimmer. Eiskalt war es dort, und Audra hatte das Gefühl, als sei ihre Nase, die über die Bettdecke lugte, bereits zu einem Eiszapfen geworden. Einem arktischen Eiszapfen.

Sie rutschte tiefer ins Bett hinein, zog die warme Decke über ihre Schultern und ließ ihr Gesicht fast gänzlich darunter verschwinden. Die Steppdecke war mit Eiderdaunen gefüllt – Mr und Mrs Bell hatten ein gutes Dutzend dieser Decken erstanden, als sie vor einigen Jahren in München Urlaub gemacht hatten.

Das hatte Mrs Bell ihr erzählt, als sie ihre Stellung im Calpher House antrat, und hatte ihr auch erklärt, dass das Laken unter der Steppdecke das einzige sonst noch notwendige Stück Bettzeug sei. Irene Bell hatte Audra fernerhin ermahnt, nicht ihr dickes Flanellnachthemd anzuziehen, sondern stattdessen lieber ein Baumwollhemd zu wählen. Obwohl Audra dazu genickt hatte, war sie doch nicht so ganz sicher, ob sie es auch richtig verstanden hatte. Aber später am Abend, zur Schlafenszeit, hatte sie getan, wie man ihr gesagt hatte, und schon nach zehn Minuten spürte sie, wie ein wohliges Wärmegefühl ihren ganzen Körper durchdrang. Von der Steppdecke ging eine ganz erstaunliche Wärme aus, und Audra begriff, dass Mrs Bell völlig recht gehabt hatte, was das Baumwollnachthemd anging. Alles andere wäre viel zu warm gewesen.

Sie lächelte vor sich hin, als sie an ihre erste Nacht hier dachte und ließ ihren Blick dann zur Uhr auf der Mahagonikommode schweifen, die gerade die Stunde schlug. Es war erst sechs Uhr, aber das überraschte sie kein bisschen. Sie war daran gewöhnt, um diese Zeit aufzuwachen. Das war eine alte Gewohnheit aus ihren Jahren im Krankenhaus von Ripon. Glücklicherweise gab es im Calpher House keinen so strengen Tagesablauf, und sie konnte bis sieben im Bett bleiben, manchmal auch ein bisschen länger, wenn sie Lust dazu hatte.

Audra hatte diese Stunde der Morgendämmerung richtig liebgewonnen, wenn die Familie noch schlief und niemand auf war, nur die Dienstboten im Erdgeschoss. Sie erachtete es als ihre ureigenste Stunde und genoss den Luxus, in ihrem daunigen Kokon liegen bleiben zu können, ohne sich hetzen zu müssen, einfach ihren Gedanken nachhängen zu können oder tagträumend in die Zukunft zu sehen.

Und die kam Audra an diesem Dezembermorgen des Jahres 1927 außerordentlich rosig vor.

Sicherlich konnten die Jahre, die sich vor ihr erstreckten, nicht schlimmer werden als die fünf Jahre, die vor ihrer Ankunft im Calpher House lagen. Das sagte sie sich in der letzten Zeit immer wieder. Von Natur aus optimistisch, betrachtete sie alle Dinge immer von ihrer positiven Seite und hoffte das Beste. So hielt sie es auch bei Menschen, trotz ihrer unseligen Erfahrung mit Tante Alicia Drummond. Sie begrub das schreckliche Leid, das sie von den Händen dieser unmenschlichen Frau hatte dulden müssen, in ihrem Herzen und erinnerte sich immer daran, dass nicht jeder Mensch grausam, selbstsüchtig oder unehrlich war, dass es tatsächlich auch eine Menge gütiger Menschen auf der Welt gab. Und die Bells mitsamt ihren Angestellten von Calpher House hatten dazu beigetragen, diese Überzeugung in Audra zu verstärken. Vom ersten Tag an hatte man sie willkommen geheißen, sodass sie nie vergaß, was sie für ein Glück gehabt hatte, so einen angenehmen Ort zum Arbeiten zu finden.

Heute war es genau ein Jahr her, dass sie hier als Kindermädchen angefangen hatte.

Von dem ersten Augenblick an, da sie das Haus betrat, hatte Audra das Gefühl gehabt, hierherzugehören. Es war, als sei sie nach einer langen Reise an einen Ort zurückgekehrt, den sie immer schon gekannt hatte. Es war, als ob sie nach Hause gekommen sei ... nach Hause, nach High Cleugh. Nicht, dass Calpher House ihrem geliebten früheren Heim auch nur im mindesten geglichen hätte; was Architektur und Inneneinrichtung betraf, waren die beiden Häuser vollkommen unterschiedlich. Aber was ihr so vertraut erschienen war, was sie mit solcher Klarheit wiedererkannt hatte, war die Gegenwart der Liebe, die in diesen Mauern herrschte.

Es war das glücklichste Jahr gewesen, das Audra seit dem Tod ihrer Mutter, seit dem Verhängnis, das über ihre kleine Familie gekommen war, verbracht hatte.

Sie passte gut ins Calpher House.

Aufgrund ihrer Erziehung, ihrer Art und Persönlichkeit war jedermann gern mit ihr zusammen, und sie war bei der Herrschaft wie bei den Dienstboten gleichermaßen beliebt. Die Bells waren freundlich zu ihr, und die Dienstboten behandelten sie zuvorkommend und mit Respekt.

Nach Jahren der Entbehrung und des spartanischen Lebens im Krankenhaus war sie nun von unglaublichem Luxus und Komfort umgeben, wie sie es nicht einmal von High Cleugh her kannte, wo das Geld für alles außer dem Notwendigsten meist ziemlich knapp gewesen war. All ihre köstlichen kleinen Extras waren von Onkel Peter gekommen.

Die Bells waren erfolgreiche, wohlhabende Leute und konnten sich das Beste leisten. Und weil Mrs Bell sehr großzügig war, herrschte ein Überfluss an allem.

Unglaublich köstliche Speisen kamen aus der wundersamen Küche Mrs Jacksons, und auch Audra durfte solche Leckerbissen wie paté de foie gras, Kaviar und Räucherlachs mit genießen. Kristallschalen voller Bonbons, Nüsse und Fruchtgeleekonfekt standen auf kleinen Beistelltischchen im eleganten blauen Wohnzimmer, und jeder, der Lust hatte, konnte davon naschen, und selbst die Tagesmenüs des Kinderzimmers konnte man kaum alltäglich nennen, dazu schmeckten sie zu gut. Wenn es nach Audra ging, war die Köchin der erste Mensch, der ihrer Mutter in der Küche eine Konkurrenz sein konnte: Mrs Jackson wartete stets mit etwas »ganz Speziellem« auf, um ihre Gaumen zu reizen. Zu sehr feierlichen Anlässen war der Butler Mr Agiter von Mr Bell angehalten worden, ihr ein Glas sprudelnden, eiskalten Champagner einzuschenken. Aber dieses Getränk kannte sie schon, war es doch nichts Außergewöhnliches gewesen, dass Onkel Peter eine Flasche davon mitbrachte, um den Geburtstag ihrer Mutter zu feiern – oder zum Weihnachtsfest in High Cleugh. Edith Kenton hatte ihren Kindern immer ein Gläschen davon erlaubt.

Abgesehen vom köstlichen Essen und den edlen Weinen, die im Calpher House unablässig zu fließen schienen, gab es eine Fülle von anderen Dingen, die jeweils das ihre zur allgemeinen Atmosphäre von Überfluss beitrugen.

Unzählige Schalen, Blumenvasen und exotische Gewächse verschönten jedes Zimmer im Erdgeschoss; auf den großen, runden Tischen in der Bibliothek, in Mrs Bells Arbeitszimmer und besonders im Familienzimmer, wo sich alle des Abends versammelten, lagen die neuesten Zeitschriften und Zeitungen, gerade erschienene Romane und andere Bücher. Die Sofas und Sessel waren weich und einladend mit ihren Bergen dicker Kissen, und über die Armlehnen war vielleicht noch eine flauschige Mohairdecke aus Schottland gebreitet, damit man sie sich an kälteren Abenden um Beine und Schultern wickeln konnte.

Wenn Audra auch anfangs von all dem Luxus in diesem Haus verwirrt und etwas überwältigt gewesen war, hatte sie sich schließlich doch daran gewöhnt. Es stimmte zwar, dass sie den Komfort und das Verwöhntwerden genoss, aber es nahm in ihrem Leben keinen großen Stellenwert ein. Der wahre Grund, weshalb sie im Calpher House glücklich war, lag darin, dass ihre Arbeitgeber und das Personal wirklich gute Menschen waren, die sich um andere und deren Wohlbefinden sorgten.

Auch abgesehen von ihrer Tätigkeit war es für Audra ein gutes Jahr gewesen.

Die Briefe, die sie von ihren Brüdern erhielt, waren inzwischen viel optimistischer, atmeten den gleichen Geist wie die ersten Briefe von ihnen. Fredericks Gesundheit besserte sich mit jeder Woche, und auch ihre Lebensumstände waren viel angenehmer geworden. Endlich hatten sie beide eine gute Stelle in Sydney. William arbeitete in der Vertriebsabteilung des Morning Herald, und Frederick war der Privatsekretär eines Industriellen geworden, von Mr Roland Matheson. Audra freute sich sehr für sie und war stolz darauf, wie sie gegen ihr anfängliches Pech und die entmutigenden Rückschläge angekämpft hatten. Zu wissen, dass sie nicht länger in einer schwierigen Lage steckten, machte ihr das eigene Gefühl von Verlust und die Sehnsucht nach ihnen viel erträglicher.

Und dann konnten sie und Gwen wieder einen großen Teil ihrer Freizeit gemeinsam verbringen. Mrs Bell hatte ihr freundlicherweise mehrmals gestattet, Gwen im Calpher House übernachten zu lassen, und sie selbst war oft nach Horsforth hinübergefahren, um ihren freien Tag mit Gwen zu verbringen. Manchmal nahmen sie die Straßenbahn und fuhren in die Innenstadt von Leeds, um in den Geschäftsstraßen herumzubummeln und Schaufenster anzusehen. Langsam kannte sie sich in der Stadt gut aus. Ziemlich oft gingen sie ins Kino, und kürzlich hatten sie ihren ersten Tonfilm gesehen, The Jazz Singer mit Al Jolson.

Juni war für Audra ein besonders glücklicher Monat gewesen, vor allem wegen der Aufmerksamkeit, die alle ihrem zwanzigsten Geburtstag schenkten. Wie anders war es doch im Jahr zuvor gewesen, als sie diesen besonderen Tag ganz allein verbringen musste. Die Glückwunschkarten ihrer Brüder waren diesmal nicht bloß rechtzeitig, sondern zwei Tage zu früh gekommen. Im Kinderzimmer vom Calpher House war eine kleine Feier veranstaltet worden, und sie hatte von den Bells und dem Hauspersonal Geschenke erhalten.

Am Ende der Woche, am Samstag, hatten Mrs Thornton und Gwen ihr eine Party in The Meadow ausgerichtet. Es gab eine wundervolle sommerliche Teestunde auf dem Rasen. Der mit einem weißen Tuch bedeckte Tisch hatte sich unter der Fülle von schönen Dingen gebogen – Tomaten-Gurken-Sandwiches, ein Yorkshire Pork Pie, Biskuitkuchen, große Kannen heißen Tees und dazu noch eine mit Zuckerguss überzogene Torte, auf der in rosa Happy Birthday, Audra stand und die von zwanzig rosa Kerzen umgeben war. Jedes Mitglied der Familie ihrer Freundin hatte ihr ein kleines, aber liebevolles Geschenk überreicht. Nach dem Tee gingen sie nach drinnen und tanzten zu den neuesten Platten, die sie auf Gwens neuem Grammophon abspielten. Sie tanzten Charleston nach den Klängen von »Black Bottom«, »Ain’t She Sweet« und »Yes Sir, That’s My Baby«, foxtrotteten langsam zu »Blue Skies« und »Among My Souvenirs«, und alle amüsierten sich an jenem Abend prächtig.

Auch Charlie war dabei gewesen, zusammen mit seinen Brüdern Jeremy und Harry, seinem besten Freund Mike Lesley und ein paar Kommilitonen von der medizinischen Fakultät. Er war immer noch sehr aufmerksam zu ihr, wann immer sich die Gelegenheit dazu bot, auch wenn Audra ihr Bestes tat, ihn zu entmutigen.

Gleich nachdem sie im Dezember davor nach Leeds gezogen war, hatte Audra Gwen gegenüber das Thema Charlie angeschnitten. So vorsichtig sie es vermochte, hatte sie ihrer Freundin erklärt, dass sie mit Charlie bei aller Sympathie nichts im Sinn hätte. Und sie hatte Gwen darum gebeten, Charlie keine Hoffnungen mehr zu machen. Gwen hatte gesagt, sie verstehe das und war sofort bereit gewesen, »das Feuer nicht mehr zu schüren«. Aber Audra hatte den Schmerz in den Augen ihrer Freundin gesehen und schnell hinzugesetzt, dass es gar nichts mit Charlie als Person zu tun hätte – dass sie sich momentan halt sowieso nicht für Männer interessierte. Dann hatte sie mit fester Stimme verkündet, dass sie nicht heiraten oder sesshaft werden wollte, ehe sie mindestens dreißig war.

Gwen hatte Audra skeptisch gemustert, sich aber jedes Kommentars enthalten. Zumindest bis letzten Monat – genauer gesagt, dem fünften November –, als sie zu ihnen nach Upper Armley gekommen war, um am Freudenfeuer teilzunehmen.

Mrs Bell hatte Audra gesagt, sie könne Gwen über Nacht einladen, da sie beide am nächsten Tag frei hatten. Nach einer der besonderen Teemahlzeiten der Köchin gingen sie, sobald es dunkel wurde, hinaus, um sich das Freudenfeuer anzuschauen, das der Gärtner auf dem Gelände anzünden wollte. Sie hatten die Fröhlichkeit der Familie geteilt, dem Feuerwerk zugesehen, die Wunderkerzen gehalten, die Mr Bell besorgt hatte, kochend heiße Esskastanien und gebackene Kartoffeln gegessen, die man aus der heißen Asche gezogen hatte. Und dann waren die beiden Mädchen zur Guy Fawkes-Party und dem Tanz im Gemeindesaal von der Christ Church in der Ridge Road gegangen.

Audra hatte den jungen Mann zuerst bemerkt, als sich alle um das riesige Freudenfeuer vor dem Saal scharten, um zuzusehen, wie die Guy Fawkes-Puppe verbrannte.

Er war ganz allein, stand nahe der Veranda an die Wand gelehnt und rauchte eine Zigarette. Als er diese lässig zu Boden warf und mit der Schuhspitze ausdrückte, ließ er seinen Blick über die lärmende Menge vor dem Feuerstoß gleiten, sah sie und lächelte.

Audra erwiderte seinen Blick, und ein seltsames Gefühl, das sie noch nicht kannte, überkam sie. Plötzlich war ihr schwach und ein wenig atemlos zumute, als hätte man ihr einen Schlag versetzt.

Sein Gesicht wurde vom Feuerschein klar beleuchtet, und sie sah, dass er eine höchst eindrucksvolle Erscheinung war.

Sein dunkles Haar, das sich spitz in die breite Stirn herabzog, war zur Seite gekämmt, der Scheitel links, und er hatte dunkle Augenbrauen und helle Augen. Sein Gesicht war gut geschnitten und sensibel, aber es war die Reinheit, die darin lag, welche sie so tief rührte und solch einen unauslöschlichen Eindruck auf sie machte.

Ihre Augen begegneten sich und hielten einander fest. Er sah sie unverwandt und durchdringend an.

Sie wurde blutrot und sah schnell weg.

Einen Augenblick danach, als sie und Gwen sich abwandten und in den Gemeindesaal gehen wollten, bemerkte Audra sofort, dass er nicht mehr an die Wand gelehnt dastand, und sie war enttäuscht.

Sobald sie drinnen waren, suchten ihre Augen ihn, aber er schien spurlos verschwunden. Sie wartete darauf, dass er zurückkommen sollte, aber er kam nicht, und danach hatte der Tanz für sie allen Reiz verloren. Im Laufe des Abends konnte Audra unmöglich für längere Zeit ihren Blick von der Tür abwenden, und sie betete stumm, dass er zurückkommen möge. Etwas an ihm faszinierte sie.

Obwohl man sie mehrmals aufforderte und sie diese Angebote auch annahm, saß Audra doch den längsten Teil des Abends mit anderen Mauerblümchen auf einer langen Bank. Sie war ganz zufrieden, Beobachterin zu sein, den Tanzenden zuzuschauen, besonders Gwen, die mit allen möglichen jungen Kerlen aus der Umgebung auf dem Tanzboden herumwirbelte und augenscheinlich viel Spaß hatte. Aber Audra fand, keiner von Gwens Partnern sähe auch nur halb so gut oder faszinierend aus wie der dunkle junge Mann, der sie vorhin so gebannt hatte.

Sie hatte fast schon die Hoffnung aufgegeben, dass er noch einmal erscheinen würde, als er durch die Tür geflitzt kam, etwas abgehetzt und außer Atem, und suchenden Blicks am anderen Ende des Saals stand. Im selben Augenblick, da der Kapellmeister den letzten Tanz ansagte, entdeckte er sie, und seine Augen leuchteten auf. Schnurstracks kam er auf sie zu und fragte sie mit einem flüchtigen Lächeln, ob sie mit ihm tanzen wolle.

Audra, die von einem plötzlichen Zittern ergriffen wurde und nichts sagen konnte, nickte nur und stand auf.

Er war größer, als sie gedacht hatte, mindestens 1,75 Meter, vielleicht sogar 1,80, hatte lange Beine und breite Schultern, wenn er auch sonst sehr schlank war. Er besaß etwas Entspanntes, Natürliches, das sie gleich ansprach, und bewegte sich mit viel Selbstvertrauen und etwas Angeberei. Er führte sie zum Tanzboden, nahm sie herrisch in die Arme und schwenkte sie zu den Klängen der Schönen Blauen Donau herum.

Während des Tanzes machte er ein paar beiläufige Bemerkungen, aber Audra, der es die Sprache verschlagen hatte, blieb stumm. Sie hätte unmöglich etwas Zusammenhängendes herausbringen können. Einmal fragte er: »Was ist denn los, haben Sie sich die Zunge abgebissen?«

Und es gelang ihr gerade noch, »Nein« zu flüstern.

Er sah neugierig zu ihr herab und runzelte die Stirn, sagte dann aber nichts mehr, und es schien, als sei er in seine eigenen Gedanken vertieft oder konzentrierte sich auf den Tanz.

Als die Musik aufhörte, dankte er ihr höflich, begleitete sie zur Bank zurück, nickte kurz und verschwand.

Ihre Augen folgten ihm bis zur Tür. Und als er in die dunkle Winternacht hinausgetreten war, fragte sie sich, wer er wohl war und ob sie ihn jemals wiedersehen würde. Das wünschte sie sich ganz brennend.

Als sie und Gwen anschließend die Town Street hinaufeilten, um zurück zum Calpher House zu gehen, platzte Gwen plötzlich heraus: »Na, ich muss schon sagen, für jemanden, der sich nichts aus Männern macht, warst du aber ziemlich hingerissen von dem Typ, mit dem du den letzten Tanz hattest. Aber ich sag dir eins, Audra: Er taugt nichts. Ganz bestimmt nicht, Schätzchen.«

Audra fragte sie ganz überrascht: »Wie kannst du behaupten, er tauge nichts? Du kennst ihn doch überhaupt nicht!«

Gwen hakte Audra in der ihr eigenen, besitzergreifenden Art unter und sagte: »Ich kann schon auf den ersten Blick sehen, dass er ein richtiger Teufel ist. Die Hübschen, denen traue ich nie. Bloß Vorsicht! Meistens brechen sie einem armen Mädchen das Herz, Schätzchen, oder sogar zweien oder dreien. Mit so jemandem wie unserem Charlie wärst du viel besser bedient. Und du weißt ja, was er für dich empfindet, Schätzchen. Er hat sich nicht verändert.«

Audra schwieg. Gwens Worte über den jungen Mann irritierten und ärgerten sie. Sie fand sie ungerechtfertigt und geradezu lächerlich. Auf jeden Fall war es dreist, und zum ersten Mal in ihrer Freundschaft war sie wütend auf Gwen. Am nächsten Morgen, wenn ihr Ärger auch keineswegs verschwunden war, vermied Audra es betont, auf den vorigen Abend anzuspielen, und sie und Gwen sprachen nicht wieder über den jungen Mann.

Aber Audra musste dauernd an ihn denken.

In den Tagen nach der ersten Begegnung rief sie sich immer wieder bestimmte Einzelheiten jenes Abends ins Gedächtnis ... wie er auf sie herabgesehen hatte, eindringlich und nachdenklich, aus den grünsten Augen, die sie jemals gesehen hatte ... und die Verwirrung, die er in ihr ausgelöst hatte, Gefühle, von denen sie bislang geglaubt hatte, sie existierten nur in den Romanen in Mrs Bells Bücherschrank ... die unglaubliche Anmut, mit der er sie über den Tanzboden geschwenkt hatte ... die wahrhaft klassische Schönheit seines Gesichts, so ungewöhnlich bei einem Mann.

Ihre Begegnung lag nun fast zwei Monate zurück, und Audra fragte sich immer noch, warum sie ihm in Upper Armley nie über den Weg lief. Seit jenem Abend rechnete sie damit, und sie hielt ständig nach ihm Ausschau, wenn sie mit dem ihr anvertrauten Kind unterwegs war. Audra war sicher, dass der junge Mann aus der Gegend stammte, denn sie hatte seinen hiesigen Akzent bemerkt.

Als Audra weiter an ihn dachte, klang das Echo seiner Stimme in ihr, und das Bild seines Gesichts erschien vor ihr. Und trotz der Wärme der Steppdecke zitterte sie plötzlich und wurde von einer Gänsehaut überzogen. Sie schlang die Arme um sich, umarmte sich. Sie stellte sich sein Gesicht neben ihr auf dem Kissen vor und versuchte sich auszumalen, wie es sein würde, von ihm geküsst, berührt, umschlungen zu werden. Seit ihrer kurzen Begegnung hatte der dunkle, geheimnisvolle junge Mann sie verfolgt und sich zu den unpassendsten Momenten in ihre Gedanken gedrängt.

Schließlich machte Audra wieder die Augen auf und bemühte sich, dieses ungewohnte Verlangen zu ersticken, das sich in ihr regte. Bevor sie ihm begegnet war, mit ihm getanzt hatte, waren Audra sexuelle Wünsche vollkommen unbekannt gewesen, und in der letzten Zeit verwirrten und ängstigten sie diese seltsamen, neuen Gefühle, die sie empfand, und erregten sie dennoch. Sie drückte das Gesicht ins Kissen und wollte die Erinnerung an ihn auslöschen, stellte aber wie so oft in den letzten Wochen fest, dass es ihr nicht gelang, sich vom Bild seines Gesichts, von jenen unglaublichen Augen zu befreien. Sie wusste, dass sie ihn begehrte.

Sie drehte sich auf den Rücken und lag ganz still da, starrte mit weit offenen Augen zur Decke empor, blinzelte nicht und fragte sich, was sie tun würde, wenn sie ihm nie wieder über den Weg liefe. Verzweiflung überkam sie und verschwand dann sofort wieder. Audra war überzeugt, dass sie sich wiedersehen und einander kennenlernen würden. Näher kennenlernen würden. Das wusste sie einfach.

Plötzliches Geklapper im Flur vor ihrem Schlafzimmer durchbrach die morgendliche Stille.

Audra fuhr überrascht zusammen, hob den Kopf und lauschte. Sie hörte einen gepressten Ausruf, dann leises, unverständliches Gemurmel und danach stampfende Schritte, die ins Kinderzimmer nebenan gingen.

Audra wusste, dass es Cora war, die ihren morgendlichen Arbeiten nachging. Sie vermutete, dass das Dienstmädchen die Kohlenschütte fallen gelassen hatte, was keineswegs selten vorkam. Die unerschütterlich heitere Cora hatte sich als freundliches Herz entpuppt, war aber gleichzeitig die ungeschickteste Person, der Audra jemals begegnet war. Kein Tag verging, ohne dass irgendetwas zerbrach, und die Schuldige war leider immer die arme Cora.

Nun klopfte es laut, und Coras blankes Gesicht erschien in der Tür. »Morgen, Miss Audra.«

»Guten Morgen, Cora«, sagte Audra, stützte sich auf und lächelte im schwachen Licht.

»Ist es recht, wenn ich reinkomme, Miss Audra? Um Feuer anzumachen?«

»Ja, natürlich, Cora.«

Coras rundlicher kleiner Körper, der in die rosagestreifte Morgenuniform gezwängt war, sauste wie ein rasender Kreisel durchs Zimmer. Sie knallte die Kohlenschütte und den Aschenkasten ohne weitere Umstände auf den Kamin und wirbelte dann zum großen Fenster hinüber.

»Herrgott, wie kalt es heut Morgen ist, Miss. Gradezu arktisch, wie Fipps meint. Ja, er sagt, es ist so kalt, dass ’nem Messingaffen die Eier abfriern, sagt er.«

»Also wirklich, Cora!«

»Hat er zu mir gesagt, Miss.«

»Aber so etwas Ordinäres sollten Sie nicht wiederholen, Cora«, ermahnte Audra sie sanft.

»Nein, sollt’ ich wohl nich, zumindest nich in Ihrer Gegenwart, Miss Audra.« Wenn Cora dies auch entschuldigend herausgebracht hatte, warf sie Audra dennoch ein verschmitztes Lächeln zu, als sie zum Kamin zurücklief. Dann fragte sie: »Und was werden Sie morgen Abend machen, Miss Audra?«

»Nichts Besonderes, Cora. Meine Freundin Miss Thornton hat in den nächsten zwei Wochen Nachtdienst im Infirmary, und so werde ich zu keinem Neujahrsfest gehen. Ich bleibe hier im Calpher House.«

»Aber Mr Agiter macht doch immer ’ne Feier für die Angestellten, wissen Sie«, Cora sah über ihre Schulter, lächelte ansteckend wie immer und setzte hinzu: »Sie warn ja so schüchtern letzten Dezember, als Sie hier angefangen sind, und wollten nicht runterkommen, aber ich hoff’, dass Sie dieses Jahr mit uns feiern werden, wirklich, Miss Audra.«

»Ja, das will ich auch, Cora. Mr Agiter hat mich auch schon eingeladen, und ich freue mich darauf, um Mitternacht mit euch allen anzustoßen ... auf 1928.«

Das Kind hieß Theophilus, kurz Theo genannt, und Audra hatte ihn wirklich liebgewonnen in dem Jahr, seitdem er ihr nun anvertraut war.

Er war ein seltsam ausschauender kleiner Junge, nicht direkt unscheinbar, aber auch nicht hübsch.

Als sie ihn zum ersten Mal sah, fand sie ihn höchst originell. Und das hatte sich als wahr erwiesen – nicht nur, was sein Aussehen betraf. Theophilus hatte ein pausbäckiges, vollkommen rundes kleines Gesicht, das einem Pudding nicht unähnlich war, aber seine Haut war rosig und weiß, nicht pappig oder teigig. Er hatte helles, glattes und seidiges Haar, das über zwei scharf beobachtende schwarze Augen herabfiel, die kleinen glänzenden Kohlestückchen glichen. Das Haar pflegte er sich mit einer unmutigen Handbewegung aus der Stirn zu streichen.

Audra dachte oft, dass diese sehr dunklen Augen und das hellblonde Haar eigentlich gar nicht zusammenpassten, aber so war eben Theophilus. Er schien aus lauter Ersatzteilen zu bestehen, die jedes für sich genommen ihren Reiz hatten, aber nicht dazu bestimmt waren, zueinander zugehören.

»Bei dir passt nichts zusammen, mein kleiner Liebling, nicht wahr?«, murmelte Audra vor sich hin, während sie seine Haare kämmte. Sie pflegte sich immer kurz mit seinem Aussehen zu beschäftigen, bevor sie ausgingen, und der heutige Morgen bildete da keine Ausnahme. Sie legte die Bürste hin und trat mit schräggeneigtem Kopf ein Stückchen zurück, um ihn kritisch zu begutachten. Dann beugte sie sich vor und rückte seinen Schlips zurecht, nickte zufrieden, bückte sich und gab ihm einen Kuss auf die Wange.

»Jetzt bist du wirklich ausgehfertig!«, rief sie, nahm seine Hand und half ihm, vom Tisch herunterzuspringen. »Du siehst heute so blank wie ein neuer Penny aus, Theo.«

Er sah sie mit seinen ernsten Augen an, die für einen Sechsjährigen merkwürdig klug und wissend dreinschauten. »Hoffentlich findet der Arzt das auch.«

Sie verbiss sich ein Lachen und sagte: »Bestimmt. Nun lauf und sag deiner Mutter auf Wiedersehen, während ich meine Sachen hole, und dann können wir losgehen.«

»Ja, das sollte ich wohl tun. Bevor sie nach Leeds fährt. Heute ist mein Taschengeld fällig.« Er machte ein entschlossenes Gesicht, marschierte mit kurzen, aber festen Schritten zur Tür und verschwand im Korridor.

Audra sah ihm nach und wandte sich lächelnd ab, ging dann durch das große, gemütlich eingerichtete Kinderzimmer. Es blieben ihr noch wenige Minuten, ehe sie dem Kleinen nachgehen musste, und so stellte sie sich mit dem Rücken an den Kamin, wärmte sich und dachte an ihren kleinen Schützling.

Theophilus Bell hörte nie auf, Audra zu erstaunen und zu amüsieren. Er war ein frühreifes Kind, ohne dabei frech zu sein. Die Köchin nannte ihn »altmodisch«, und diese Beschreibung traf genau. Audra war nicht erstaunt, dass er so war. Er hatte den größten Teil seines bislang kurzen Lebens unter Erwachsenen zugebracht, auch seine Schwestern waren viel älter als er. Pandora, die im Frühling geheiratet und aus Calpher House ausgezogen war, war jetzt zweiundzwanzig. Antonia und Felicity, die beide gerade den letzten Schliff in einem Internat in der Schweiz bekamen, waren neunzehn und achtzehn. Alle drei wohlerzogene junge Damen mit einer guten Bildung, die weit gereist waren und hier im Hause schon eine Vielzahl verschiedener Leute sowie ungewöhnliche Gedanken kennengelernt hatten. Und so waren auch sie viel älter als ihre Jahre und hatten – was weiter nicht verwunderlich war – einen gewissen Einfluss auf ihren kleinen Bruder ausgeübt. Die Mädchen nannten Theo »den Nachtrag«, und obwohl Audra die Formulierung missfiel und sie diese recht unfreundlich fand, musste sie zugeben, dass etwas Wahres daran war. Mrs Bell hatte ihren Sohn geboren, als sie zweiundvierzig war, lange nachdem sie aufgehört hatte, mit Kindern zu rechnen. Zu Audra hatte sie gesagt: »Theo wäre fast ein verzogener Nachzügler geworden, da haben wir noch mal Glück gehabt.«

Audra kam es wie ein kleines Wunder vor, dass die Bells nicht in den gewöhnlichen Fehler verfallen waren, Theo zu verwöhnen und zu verhätscheln, wie es so oft der Fall ist, wenn ältere Eltern erst spät den einzigen Sohn bekommen, der ihr ganzer Stolz ist. Manchmal war man natürlich zu nachsichtig gegen ihn, aber das schien ihn nicht zu beeinflussen – er stellte niemandem übertriebene Forderungen und hatte auch keine Wutausbrüche.

Eigentlich glich Theo sehr seiner Mutter. Ganz sicher hatte er Irène Bells aufgeweckte Art, ihre Intelligenz und ihren Fleiß geerbt. Und wenn einem seine Gewissenhaftigkeit manchmal auch etwas zu viel wurde, war er doch ein gutes Kind, sehr gehorsam, und er hatte Audra in den vergangenen zwölf Monaten niemals Ärger bereitet.

Zehn laute Glockenschläge, die durch das Schlafzimmer hallten, erinnerten Audra daran, wie spät es war. Theo hatte in den letzten Tagen Halsschmerzen gehabt, und obwohl es ihm jetzt besser ging, nahm sie ihn heute Morgen mit zum Arzt, damit dieser ihn gründlich untersuche.

Sie lief schnell ins Nebenzimmer, warf einen kurzen Blick in den Spiegel, strich sich hastig übers Haar, das sie sich im Sommer gerade hatte kurz schneiden lassen, und ging dann zum Kleiderschrank in der Ecke. Dort nahm sie ihren schweren Wintermantel heraus, einen Hut sowie einen dicken Wollschal und Handschuhe in Erwartung des arktischen Wetters, das anscheinend über sie hereingebrochen war, gerade wie der Gärtner es gestern vorausgesagt hatte.