Kapitel 10

Vincent sah sie durch das Fenster des Zoogeschäfts.

Einen Moment lang wollte er seinen Augen nicht trauen.

Wie gelähmt stand er da und starrte. Dann legte er die Hände an sein Gesicht und rückte dichter an die Scheibe. Ja, sie war es wirklich, lebensgroß und guckte sich Wellensittiche an. Dann sah er das Kind, das neben ihr stand.

Er fühlte einen Stich im Herzen.

War sie etwa eine verheiratete Frau? Nein, unmöglich. Sie hatte damals bei dem Tanz keinen Ring getragen. Und sie war sicherlich noch zu jung, um schon ein so großes Kind zu haben. Nein, der Junge musste ihr Bruder sein. Und sie wollte ihm einen Wellensittich kaufen, geradeso wie er sich dazu entschlossen hatte, seinem kleinen Bruder Danny irgendein Haustier zu schenken. Deshalb hatte er schließlich seine Schritte zu diesem Geschäft gelenkt.

Na gut, dachte Vincent, wenn ich hier herumstehe, bringt mich das auch nicht weiter, also geh’ ich rein. Automatisch griff er nach seinem Schlips und rückte den Knoten gerade, dann holte er tief Luft und machte die Tür auf.

Beim Klingeln der Glocke sah sich das Mädchen nach ihm um. Bei seinem Anblick wurden ihre Augen größer. Offensichtlich war sie genauso überrascht wie er zuvor.

Vincent lächelte sie an.

Sie lächelte zurück, und ihr Lächeln war für ihn das Schönste, was er seit Langem gesehen hatte. Durch ihre freundliche Reaktion ermutigt, ging er quer durch den Laden.

Als Vincent vor ihr stehen blieb, sah er die Erwartung in ihren Augen. Er nahm seinen Hut ab, hielt ihn in den Händen und sagte: »Entschuldigen Sie ... ich weiß nicht, ob Sie sich an mich erinnern können?«

»Aber natürlich. Wir haben den letzten Walzer im Gemeindesaal zusammen getanzt ... am Abend des Freudenfeuers. Und ich muss mich noch bei Ihnen entschuldigen, dass ich Ihnen nicht gedankt habe. Sie haben mich sicher für sehr unhöflich gehalten.«

Sie sprach wie eine Dame. Er sah sie überrascht an und war für einen Augenblick aus der Fassung gebracht. Wieso sollte sich ein Mädchen aus offensichtlich besseren Kreisen für einen wie ihn interessieren?, fragte er sich und hielt seinen Hut noch fester umklammert. Ein Gefühl schrecklicher Enttäuschung überkam ihn. Sie war außerhalb seiner Reichweite. Das war todsicher. Und genauso, wie sie bei dem Tanz stumm gewesen war, fand er jetzt keine Worte mehr und kam sich wie ein Trottel vor.

Es entstand eine verlegene Pause.

Schließlich brach das Kind ihr Schweigen. Es fragte mit seiner schrillen kleinen Stimme: »Und wie heißen Sie?«

Streng aber leise sagte das Mädchen zu ihm: »Das ist sehr ungehörig von dir. Erinnere dich mal an deine Manieren, junger Mann.«

»Ich heiße Vincent Crowther«, sagte Vincent rasch, die Gelegenheit beim Schopfe packend. Es überraschte ihn, dass seine Stimme so normal klang, und das tat seinem angeschlagenen Selbstbewusstsein gut. Er sah auf den Kleinen herab, dankbar für dessen Anwesenheit.

Der Junge wandte sein kleines, strahlendes Gesicht Vincent zu, schob ihm die Hand hin und verkündete: »Und ich bin Theophilus Bell vom Calpher House, Upper Armley.«

Vincent schüttelte seine Hand und bemühte sich, der ungeheuren Ernsthaftigkeit des Kindes gerecht zu werden, als er sagte: »Wie es mich freut, dich kennenzulernen. Und ich hoffe, du verzeihst mir diese Bemerkung, aber du hast ja einen ganz schön langen Namen, zum Donnerwetter, mein Junge.«

»Das ist griechisch und heißt ›der Geliebte Gottes‹«, erklärte Theophilus und wölbte seinen kleinen Brustkorb wichtig vor. Dann lächelte er Vincent strahlend an und fügte hinzu: »Aber Sie dürfen mich Theo nennen.«

»Das ist aber nett von dir. Vielen Dank, werde ich machen.« Vincent hob den Kopf und richtete seinen Blick auf die junge Frau. Er räusperte sich, inzwischen hatte er seine Fassung wiedergewonnen, und erinnerte sich seiner gewohnten Dreistigkeit. Er schenkte ihr sein verführerischstes Lächeln und sagte: »Nun wissen Sie, wie ich heiße. Darf ich um die Ehre bitten, auch Ihren Namen zu erfahren?«

»Ja, natürlich, Mr Crowther. Ich heiße Audra Kenton.« Ihr Lächeln war so warm und herzlich wie das seine, und sie reichte ihm ihre Hand.

Vincent nahm sie und war überrascht von dem festen Griff, von der Kraft, die in ihrer Hand lag, als sie seine schüttelte. Und was für eine kleine Hand es war, so klein und zart wie sie selbst. Er hielt sie länger als nötig fest, konnte sie einfach nicht loslassen, als er in ihre hellen, strahlendblauen Augen sah, die ihn an Kornblumen erinnerten. Und ohne es zu wollen, dachte er: Ich kann diese Frau nicht gehen lassen. Nie im Leben. Ich will sie haben, für immer.

Er war ganz entsetzt über seine Gedanken.

Dann blinzelte er, gab ihre Hand schließlich frei, sah weg und fand seine Gefühlsregungen absurd. Schon die Idee an eine Ehe war absurd, und eine Ehe mit dieser Frau etwas absolut Lächerliches. Sie war anders. Etwas Besonderes. Eine Dame. Jemand, der sich kaum für jemanden wie ihn interessieren würde, ein Maurer, der noch in der Ausbildung steckte. Offenbar war sie mit den Bells verwandt, der Adelsfamilie des Ortes, vornehme Leute mit viel Geld und Einfluss in der Gegend. Und ganz davon abgesehen gehörte die Ehe absolut nicht zu seinen derzeitigen Plänen – er wollte noch eine Menge erleben, bevor er sich an die Schürzenbänder einer Frau fesseln ließ. Das war doch was für Trottel. Du meine Güte, im Juni war erst sein fünfundzwanzigster Geburtstag.

All diese Überlegungen fuhren Vincent in Sekundenschnelle durch den Kopf, und nun wollte er aus dem Geschäft herauslaufen, entkommen, ehe es zu spät war. Aber zu seinem Ärger merkte er, dass er sich nicht rühren konnte. Er stand wie angewurzelt da. Ihm wurde unbehaglich zumute, er fühlte sich nicht wohl in seiner Haut und mit ihr, nervös drehte er seinen weichen Filzhut in den Händen.

Theophilus zog an Vincents Mantel und flötete: »Wir sind auf der Suche nach einem Wellensittich, Mr Crowther. Und was wollen Sie kaufen?«

Gott sei Dank, dass der Junge dabei ist, dachte Vincent. Dann sagte er: »Also, wenn ich ehrlich sein soll, weiß ich das noch nicht so genau.« Dann beugte er sich herab, ganz auf das Kind konzentriert, und sagte vertraulich: »Verstehst du, Theo, ich wollte meinem kleinen Bruder etwas schenken. Er ist vier. Aber ich habe vergessen, ihn nach seinen Wünschen zu fragen, bevor ich aus dem Haus ging. Und jetzt stehe ich sozusagen dumm da. Aber du siehst wie ein erfahrener junger Mann aus, was Haustiere angeht. Vielleicht hättest du eine Idee.«

»Mhm. Da muss ich eine Minute nachdenken.« Theo nickte weise mit dem Kopf, stülpte die Lippen vor und machte ein tief konzentriertes Gesicht. Dann ließ er seinen scharfen Blick über das Zoogeschäft hingleiten und beugte sich zu Vincent herüber: »Es ist natürlich ein bisschen schwierig, einen angemessenen Vorschlag zu machen. Hier ist nicht gerade viel Auswahl, sehen Sie.«

Vincent platzte bei dieser Unverblümtheit laut heraus. »Das lass aber Mr Harrison nicht hören. Er glaubt, er hätte das beste Zoogeschäft in Armley.«

»Und das hat er doch auch, es gibt hier ja nur eins«, erwiderte Theo grinsend und schaute unglaublich selbstzufrieden drein.

»Kleine Jungen soll man sehen, nicht hören«, bemerkte Audra. Aber das war wirklich eine sehr sanfte Zurechtweisung. Lachen stieg in ihr auf, und ihre Augen tanzten. Dann sah sie zu Vincent hinüber und zuckte die Achseln. »Was soll man dazu sagen«, murmelte sie.

Vincent meinte: »Er ist ja ein ulkiger Vogel, der Kleine.«

Theos schwarze Knopfaugen, die zwischen den beiden hin und her hüpften, blieben auf Vincent gerichtet, der ihn offenbar faszinierte. Dann sagte er: »Vielleicht sollten Sie Ihrem Bruder einen Wellensittich mitbringen. Zumindest da hat Mr Harrison eine große Auswahl. Kommen Sie, Mr Crowther, ich werde sie Ihnen zeigen.« Er zog Vincent am Ärmel. »Wie heißt er denn? Ihr Bruder, meine ich.«

»Danny.« Vincent ließ sich dann zu den vielen Vogelkäfigen rühren, die eine Wand des Geschäfts bedeckten. Interessiert standen der Junge und er ein Weilchen davor, dann sagte Vincent fast bewundernd: »Also, sie sind wirklich schön, Theo.«

Nun gesellte Audra sich zu ihnen. Vincent spürte sofort, wie sie neben ihm stehen blieb. Die Gefühle, die sie in ihm hervorrief, beunruhigten ihn ebenso wie die starke körperliche Anziehung, die er empfand. Er wollte ihre Hand nehmen, sie aus diesem Geschäft herausführen, mit ihr irgendwohin gehen, wo sie allein sein konnten. Er wollte sie fest in seine Arme nehmen, sie lieben. Das Verlangen regte sich in ihm, und er fühlte, wie ihm die Hitze ins Gesicht stieg. Er schluckte schwer und versuchte, sich auf die Vögel zu konzentrieren.

Schließlich sagte Audra: »Theo möchte den da drüben, auf der rechten Seite, Mr Crowther. Den im grünen Käfig. Wie finden Sie ihn? Gefällt er Ihnen?«

Vincent konnte bloß nicken.

Theo rief: »Audra kauft ihn mir, Mr Crowther!«

»Was hast du für ein Glück, mein Kleiner«, brachte er mühsam hervor.

»Ja, nicht wahr? Und nun müssen Sie sich auch einen für Danny aussuchen. Sie sind leicht zu halten. Man muss nicht mit ihnen Spazierengehen wie mit einem Hund, und sie brauchen auch nicht viel Futter. Sie fressen nicht viel.«

»Das stimmt«, pflichtete Vincent ihm bei. Er hatte sich jetzt wieder unter Kontrolle und wechselte mit Audra einen belustigten Blick.

Unnachgiebig drängelte Theo weiter: »Sehen Sie sich den an! Was für ein hübscher Vogel. Den würde Danny bestimmt mögen. Ein schönes Exemplar eines Plattschweifsittichs ... der grün-gelbe Körper, leuchtend blaue Wangen und Schwanzfedern, braune Streifen auf den Flügeln.«

»Plattschweifsittich«, wiederholte Vincent erstaunt. Stirnrunzelnd schaute er Theo an. »Ich dachte, das seien Wellensittiche.«

»Sind sie auch. Aber der Wellensittich gehört zur Familie der Papageien, und die umfasst dreihundertfünfzig verschiedene buntgefiederte Untergruppen«, erzählte Theo ihm stolz, erfreut über die Gelegenheit, seine Kenntnisse ausbreiten zu können. »Liebesvögel, Loris, Kakadus, Nymphensittiche und Aras, um nur einige zu nennen. Ich wollte ja einen Papagei haben. Ihm das Sprechen beibringen. Damit er ungehörige Worte sagt. Aber man muss vorsichtig sein, wenn man Papageien kauft. Wegen der Psittakose. Das ist eine Papageienkrankheit, kann auch Menschen anstecken. Ein bisschen wie Lungenentzündung. Aber Mr Harrison hat sowieso keine Papageien vorrätig. Und deshalb kriege ich einen Wellensittich. Aber eines Tages werde ich bestimmt einen Papagei besitzen.«

Vincent betrachtete das Kind kopfschüttelnd und erstaunt: »Für so einen kleinen Kerl weißt du aber ’ne Menge, Theo. Du klingst, als hättest du ein Lexikon verschluckt.«

»Nein, das weiß ich von Audra«, erklärte Theo ihm. »Sie ist sehr klug, müssen Sie wissen, und sie hat mir eine Menge beigebracht, seit sie bei uns ist. Meine Mutter sagt, sie sei das beste Kindermädchen, das ich jemals gehabt habe. Aber wenn Sie Danny keinen Wellensittich kaufen wollen, können Sie ja auch einen von diesen Kanarienvögeln da drüben nehmen. Sie gehören zur Familie der Finken.«

Theo lenkte Vincents Aufmerksamkeit auf die anderen Vögel und fuhr fort: »Sie sind auch hübsch, aber das Beste an ihnen ist, dass sie richtig singen können. Danny würde bestimmt gern einen Kanarienvogel haben. Aber man muss ihm das Singen erst beibringen. Den Kanarienvogel, meine ich, nicht Danny.«

»Ja, ich habe das verstanden«, sagte Vincent geistesabwesend. Kindermädchen, wiederholte er stumm. Sie war das Kindermädchen, Herrgott noch mal, doch keine vornehme Verwandte von den Bells. Sie war eine ihrer Angestellten. Aber natürlich änderte das nichts. Audra Kenton war trotzdem eine Dame. Aber eine Dame, die für ihren Lebensunterhalt arbeitete. Verarmter Adel, dachte er.

Vielleicht war sie doch nicht außerhalb seiner Reichweite. Und Vincent machte sich neue Hoffnungen.

Die drei gingen zusammen die Town Street entlang.

Vincent trug Audra den Vogelkäfig. Sie hatten schließlich ähnliche Wellensittiche gekauft, aber Vincent hatte Joe Harrison darum gebeten, seinen noch etwas aufzubewahren, bis er später vorbeikommen würde. Und dann hatte er Audra gefragt, ob er sie und den Jungen zurück nach Calpher House begleiten dürfte. Sie hatte ja gesagt. Den Vogelkäfig in der einen Hand, hatte er ihr mit der anderen die Tür aufgehalten und sie hinausgeleitet, wobei er über beide Ohren grinste und sich zu seinem Glück heute Morgen gratulierte.

Nun gingen sie zügig und wortlos im Gleichschritt nebeneinander her, empfanden das Schweigen zwischen ihnen aber als angenehm. Theo sprang voraus wie ein übermütiges kleines Hündchen.

Obwohl schon gegen Mittag, war es doch noch sehr frisch. Wenigstens hatte der Wind nachgelassen, und es herrschte jetzt eine schimmernde, kristallklare Luft. Der Himmel, der sich so hoch und unendlich über ihnen wölbte, war von einem tiefen Blau, wolkenlos, jungfräulich und in das silberne Licht einer kalten Wintersonne getaucht.

Es ist ein wunderschöner Tag geworden, dachte Audra und sah sich freudestrahlend um. Ein kleines Glücksgefühl überkam sie, erfüllte sie mit einer herrlichen inneren Wärme. An einem Tag wie diesem begriff man, dass alles im Leben möglich war. Einfach alles.

Vincent atmete tief durch und sog die eisige Luft ein, fühlte sich gesund und kräftig, so wie er es immer tat bei solch strahlendem, erfrischendem Wetter. Verstohlen betrachtete er Audra und fand sie unglaublich elegant in ihrem grauen Meltonmantel und dem pflaumenfarbenen Glockenhut. Er merkte, wie stolz es ihn machte, mit ihr zusammen zu sein – und in der Town Street gesehen zu werden, der Hauptstraße von Armley, in der, wie stets an Samstagen, das Leben pulsierte.

Bevor sie Calpher House erreichten, wollte er sie einladen, beschloss Vincent nun, auch wenn er etwas unruhig war deswegen. Wenn sie ihn abwies, würde er wie ein Dummkopf dastehen – aber wenn er sie nicht fragte, würde er es nie wissen. Wohin könnte er sie ausführen, wenn sie seine Einladung annähme? Das war ein Problem. Vielleicht sollte er sie zu der Neujahrsfeier morgen bei sich zu Hause mitnehmen. Ach nein, das war keine gute Idee. Das arme Mädchen würde von seiner lärmenden Familie ganz aus der Fassung gebracht werden. Und außerdem wollte er sie bei ihrer ersten Verabredung ganz für sich haben. Fieberhaft begann er darüber nachzudenken, wohin er mit ihr gehen könnte.

Audra, die in ihre eigenen Gedanken vertiert war, hatte das Gefühl zu schweben, in solcher Hochstimmung befand sie sich. Seit zwei Monaten hatte sie an der festen Überzeugung gehangen, dass sie einander wiedersehen würden. Aber als er die Zoohandlung betreten hatte, war sie vollkommen überrascht gewesen. Zu Anfang. Und dann, nach einigen Minuten, war ihr alles ganz selbstverständlich vorgekommen. Sie wusste, dass es hatte sein sollen. Die Schüchternheit, die sie während des Tanzes befangen gemacht hatte, war wie weggewischt, und sie empfand überhaupt keine Scheu mehr vor ihm. Ganz im Gegenteil.

Er sah noch besser aus, als sie ihn in Erinnerung hatte, und war ebenso gut angezogen wie damals bei dem Tanz. Er war ein charmanter junger Mann mit angenehmem Wesen, und wie er mit dem Kind umgegangen war, nahm sie nur noch mehr für ihn ein. Audra lächelte. Einnehmen war ein unpassendes Wort dafür. Es konnte ihre Gefühle schwerlich beschreiben. Sie hatte sich im Zoogeschäft in ihn verliebt.

Aus den Augenwinkeln sah sie zu ihm auf. Er war der einzige Mann für sie. Der einzige, den sie jemals begehren würde.

Vincent sah herab, als sie gerade zu ihm aufschaute.

Ihre Augen begegneten sich und hielten einander für einen kurzen Moment fest. Er lächelte ihr verliebt zu. Sie lächelte ein wenig bebend zurück. In diesem Augenblick trat eine sehr intime Verständigung zwischen ihnen ein, und sie hielten beide den Atem an, sahen sich unverwandt in die Augen. Und dann, nachdem sie beide verstanden hatten, was ohne die Hilfe von Worten gesagt worden war, wandten sie sich sofort ab und gingen schweigend weiter, den Blick geradeaus gerichtet.

Schließlich sagte Vincent: »Hoffentlich denken Sie nicht, ich sei neugierig, aber seit wann arbeiten Sie für die Bells?«

»Seit einem Jahr«, erwiderte Audra. »Heute ist es genau ein Jahr her, Mr Crowther, dass ich meine Stellung im Calpher House angetreten habe. Deshalb habe ich Theo auch den Vogel gekauft. Als Geschenk zum Jahrestag.«

»Die sollten Ihnen etwas schenken«, sagte er grob, bevor er sich bezähmen konnte. Aus irgendeinem Grund empfand er plötzlich etwas wie Groll gegen die Familie Bell.

Audra hatte den eigenartigen, ärgerlichen Tonfall bemerkt und sah ihn verwundert und neugierig an. Dann schenkte sie ihm ihr reizendstes Lächeln und sagte: »Das haben sie auch getan, Mr Crowther. Heute Morgen beim Frühstück.«

»Na, dann ist es gut. Das freut mich.« Er räusperte sich ziemlich geräuschvoll und sagte dann: »Sie kommen nicht aus dieser Gegend, das kann ich an Ihrer Stimme hören. Das ist nicht der Akzent von Leeds. Woher kommen Sie?«

»Ich bin in Ripon groß geworden, und dort habe ich auch bis zum letzten Jahr gelebt. Sind Sie schon einmal dort gewesen?«

»Ja, zu den Rennen. Ist ein hübscher Ort.« Seine grünen Augen funkelten mutwillig. »Und Glück hat’s mir auch gebracht, kann ich Ihnen sagen. Ich hab immer mal einen oder zwei Schillinge bei den Rennen in Ripon gewonnen, und ein paar nette Pubs gibt’s da auch.«

Audra nickte. »Ja. Aber Sie kommen aus dieser Gegend, Mr Crowther, nicht wahr?«.

»Ja, stimmt. In Armley geboren und aufgewachsen. Aber hören Sie, nennen Sie mich doch Vincent. Sonst denk ich immer, Sie reden mit meinem Pa, wenn Sie ›Mr Crowther‹ zu mir sagen.«

Audra lachte. »Natürlich mache ich das – und Sie müssen mich Audra nennen.«

»Abgemacht«, rief er und hielt dann unvermittelt inne. Er nahm ihren Arm und zwang sie, sanft stehenzubleiben.

Stirnrunzelnd sah sie ihn an.

Hastig fragte er: »Würden Sie heute Abend mit mir ausgehen, Audra? Ich werde mir irgendwas Nettes ausdenken. Vielleicht nach Leeds fahren, zum Tanzen. Sagen Sie ja. Bitte.« Er strahlte sie überaus charmant an und ließ ihre Augen nicht los.

Sie sagte: »Leider kann ich nicht. Verstehen Sie, ich ...«

»Sie brauchen mir nichts zu erklären«, unterbracht er sie ärgerlich und verletzt. »Ich verstehe schon.« Eine leichte Röte überzog sein Gesicht.

»Nein, Sie verstehen gar nichts, Vincent«, erwiderte Audra bestimmt. »Ich wollte sagen, dass ich heute Abend Dienst habe. Aber an meinem nächsten freien Abend würde ich gern mit Ihnen ausgehen. Ehrlich.«

»Ach so«, sagte er, einen Augenblick lang etwas aus der Fassung gebracht. Aber dann fing er sich sofort wieder und strahlte sie an. »Also gut. Und wann haben Sie das nächste Mal frei?«

»Nächsten Mittwoch.«

Sein Gesicht verfiel. »So lange noch. Na, da kann man nichts machen. Aber dann müssen wir zum Kirchtanz gehen. Hätten Sie dazu Lust?«

»Ja, das würde mir Spaß machen ... mit Ihnen.« Unsicher lächelte sie ihn an, war plötzlich schüchtern.

Vincent sah sie lange an. »Ja«, sagte er, »mir auch, Audra.«

Dann gingen sie weiter.

Kurze Zeit darauf standen sie vor dem Tor von Calpher House, an dem Theo schon auf sie wartete. Sie hielten an, und Vincent wandte sich zu Audra: »Dann hole ich Sie hier am Mittwoch ab, Punkt sieben.«

»Aber machen Sie sich doch keine Umstände, Vincent. Ich finde schon allein zum Gemeindesaal.«

»Nein. Ich will nicht, dass Sie allein dorthin gehen.«

»Na gut«, sagte sie.

Er überreichte ihr den Vogelkäfig.

»Auf Wiedersehen, Mr Crowther«, rief Theophilus. »Hoffentlich sehen wir uns bald wieder. Dann können Sie mir erzählen, ob Danny sich über den Wellensittich gefreut hat.«

»Werd’ ich machen, Theo. Mach’s gut, Kleiner.«

Vincent wirbelte noch einmal zu Audra herum. Mit der Andeutung eines Lächelns nahm er seinen Hut ab und war dann verschwunden.

Audra sah ihm nach, wie er mit langen, energischen Schritten den Berg hinunterging. Einmal drehte er sich um, entdeckte sie und winkte. Sie winkte zurück. Und dann nahm sie Theo bei der Hand und führte ihn die Auffahrt entlang, wobei sie dem lustig daher plaudernden Kind kaum zuhörte.

Als sie sich dem Haus näherten, schaute Audra hoch und betrachtete es, dachte an die schöne Zeit, die sie hier im letzten Jahr verbracht hatte. Und dann wusste sie plötzlich, dass sie nicht mehr lange im Calpher House wohnen würde.

Heute fängt alles an, dachte sie. Heute fängt mein Leben mit Vincent Crowther an.

Er ist mein Schicksal. Ich bin seins.

Fünf Monate später waren sie verheiratet.

Einige Leute wunderten sich, andere nicht.

Die Hochzeit wurde in der Christ Church in Upper Armley an einem sonnigen Samstag im Juni gefeiert, ein paar Tage nach Audras und eine Woche vor Vincents Geburtstag.

Die Braut trug Blau. Es war ein einfaches, aber elegantes Nachmittagskleid aus Crêpe de Chine, das sie selbst entworfen, zugeschnitten und mit Hilfe einer Schneiderin von Paris Modes genäht hatte, dem exklusiven Kleidergeschäft von Mrs Bell in Leeds. Ihr Hut war aus blauer Seide, mit Chiffon umhüllt, ihre Schuhe mit den Louis-Absätzen aus grauem Wildleder, ebenso wie ihre ellbogenlangen Handschuhe. Sie trug ein Bukett aus rosa Rosen, Maiglöckchen und Stephanotis.

Gwen Thornton war Audras Brautjungfer und Laurette Crowther ihre verheiratete Brautführerin.

Sie trugen beide dieselben taubengrauen, mit gelben Rosen bedruckten Georgettekleider, Glockenhüte aus bestickter grauer Seide und Sträußchen von gelben Rosen.

Als sich die beiden in der Eingangshalle von Calpher House aufgeregt an ihr zu schaffen machten, dachte Audra wieder, wie reizend sie doch aussahen, beide so hochgewachsen und blond, so jung und frisch. Sie war stolz darauf, sie zu ihrem Gefolge zu haben.

Mr Bell hatte sich freundlicherweise bereit erklärt, sie zum Altar zu führen. So war es sein Arm, auf den Audra sich stützte, während sie den Gang der schönen alten anglikanischen Kirche mit ihrer normannischen Architektur und den prachtvollen Buntglasfenstern entlangschritt.

Als die Orgelmusik anschwoll und die Klänge des Chorals »O Perfect Love« das Gewölbe erbeben ließen, wurde es Audra eng in der Kehle. Ihre Augen füllten sich mit Tränen, und sie sehnte sich schmerzlich nach ihren Brüdern. Aber da sie wusste, dass sie sich jetzt nicht gehen lassen durfte, nahm sie sich streng zusammen. Sie reckte den Kopf höher und sah zum Altar hin, wo Vincent mit seinem Bruder Frank, der Trauzeuge war, auf sie wartete.

Die Liebe, die sein Gesicht erleuchtete, und die ehrliche Bewunderung in seinen Augen trösteten und beruhigten sie, und sie fand ihn wunderschön in seinem dunkelblauen, neuen Anzug und dem gestärkten weißen Hemd mit der silbergrauen Seidenkrawatte.

Sowie sie beim Altar angelangt waren, trat Mr Bell zur Seite. Vincent nahm seinen Platz ein. Seine Gegenwart und das freundliche Gesicht des Vikars vertrieben sofort das Gefühl von Einsamkeit, das sie kurz zuvor empfunden hatte.

Es war, als strömten die Worte von Ehrwürden Baxter über Audra hinweg ... im Guten und im Schlechten ... arm oder reich ... in gesunden und in kranken Tagen ... allen anderen entsagend. Natürlich entsagte sie allen anderen. Wie könnte sie jemals einen anderen als Vincent begehren? Eine undenkbare Vorstellung.

Ehe sie es recht begriffen hatte, war die Zeremonie zu Ende.

Sie waren verheiratet. Sie war jetzt Mrs Vincent Crowther.

Wieder durchschritt sie den Gang, diesmal am Arm ihres Mannes, während sich der Organist ins Zeug legte und Mendelssohns »Hochzeitsmarsch« mit freudvollem Donner durch die Kirche brauste.

Sie blieb nur ein paar Minuten mit Vincent auf den Kirchentreppen stehen, um sich fotografieren zu lassen und seine Familie und Freunde, die Bells und Oberin Lennox zu begrüßen, die zu diesem Anlass extra aus Ripon angereist war.

Dann liefen sie unter Gelächter und Strömen von Konfetti und Reis zum Auto, das beim Kirchtor auf sie wartete. Vincents Onkel Phil fuhr sie zum Calpher House hinüber, wo Mr und Mrs Thomas Bell das Sektfrühstück ausrichteten.

Auf dem Rücksitz dicht an ihn gedrängt, lächelte Audra zu ihrem jungen Gatten empor und sah dann auf den Goldring an ihrem Finger. Sie hatte es nicht für möglich gehalten, dass sie jemals so glücklich sein könnte.