Kapitel 13

Siehst du hier irgendetwas, was dir gehört, Audra?«, fragte Vincent und ließ seinen wachen grünen Blick über den Salon von The Grange schweifen.

»Die beiden Ölgemälde zu beiden Seiten der Glastüren und das Aquarell an dieser Wand dort«, sagte sie, »die sind von meinem Vater. Wenn du sie aus der Nähe anschaust, wirst du die Signatur erkennen – Adrian Kenton.«

Vincent schritt durch das Zimmer und betrachtete die beiden schönen Landschaften, dann das Stillleben, und nickte. Dann drehte er sich zu Audra um, die vor dem Kamin stand. »Und was gehört dir noch?«

»Die meisten Holzmöbel hier ... die Kommode mit der Einlegearbeit an der Tür, diese beiden kleinen Sheratontische und die Konsole da drüben – ach, und auch die Meißener Uhr darauf. Dann gibt es noch zwei Chippendale-Stühle, aber die müssen in einem anderen Zimmer sein. Sie hat auch noch das silberne King George-Teeservice von meiner Mutter, ein paar kleinere Silbersachen und drei weitere Bilder, aber von denen ist nur eins von meinem Vater.« Audra lächelte zuversichtlich und klopfte auf ihre Handtasche. »Ich habe meine Liste mit, auch die für den Schmuck, ich bin also gut gerüstet ...« Audra brach ab und sah zur Tür, die sich gerade öffnete.

Vincent war schon ganz kribbelig vor Neugier auf die Frau, die er gleich kennenlernen würde. Er hatte von Audra ein bisschen über sie gehört, und das hatte ihm wenig gefallen.

Alicia Drummond blieb auf der Schwelle stehen.

Vincent musterte die Frau in mittleren Jahren genau und dachte: Kleinlich. Alles an ihr ist kleinlich. Die Augen, die Nase, der Mund, das Gesicht und der Körper. Er überlegte gar nicht erst, ob sie auch kleinmütig sei, denn das hatte er schon aus Audras Bemerkungen über sie geschlossen.

Audra, die ihre Verwandte seit sechs Jahren nicht mehr gesehen hatte, war überrascht. Sie fand, dass Alicia Drummond in dieser Zeit nicht nur ausgesprochen gealtert war, sondern auch krank aussah. Sie wirkte abgezehrt, geradezu hager, und ihre steinernen schwarzen Augen waren tief in die Höhlen gesunken. Das schüttere graue Haar hatte sie zu einem Knoten geschlungen, und sie trug ein tristes braunes Seidenkleid, das ihr nicht stand.

Alicia schloss die Tür hinter sich und kam mit ihrer üblichen steifen Förmlichkeit ins Zimmer geschritten. Reizbar sagte sie mit ihrer leicht schrillen Stimme: »Hallo, Audra. Als du mir vor zwei Wochen schriebst, hast du mir nicht mitgeteilt, dass du in Begleitung kämst. Ich habe dich allein erwartet. Ich war überrascht, als mir das Hausmädchen sagte, du seist mit ...« Sie ließ ihren Blick über Vincent gleiten, die Augen voller neugieriger Mutmaßungen, und schloss mit den Worten: »... deinem Mann hier.« Es klang eher wie eine Frage als eine Feststellung.

Audra antwortete scharf: »Guten Tag, Tante Alicia. Darf ich dir meinen Gatten vorstellen. Dies ist Vincent Crowther. Vincent, dies ist die Cousine meiner Mutter, Alicia Drummond.«

Alicia, der es selten die Sprache verschlug, fehlten die Worte. Gatte, dachte sie überrascht. Dieser schick angezogene, gutaussehende junge Mann war mit der unscheinbaren, kleinen Audra verheiratet. Es war kaum vorstellbar.

Vincent trat vor und streckte ihr die Hand hin: »Wie ich mich freue, Sie kennenzulernen, Mrs Drummond.«

»Ebenfalls«, antwortete Alicia, wobei ihn ihre kalten Augen abschätzend betrachteten. Vincent hatte eine gepflegte Redeweise, und man hörte seinen Vokalen den breiten Akzent von Yorkshire nur wenig an, aber Alicia hatte es bemerkt. Also höchstwahrscheinlich Arbeiterklasse, dachte sie. Na, das erklärt alles.

Lässig machte sie eine Handbewegung auf das Sofa zu und murmelte: »Nehmt doch bitte Platz, ihr beiden.« Sie selbst hockte sich auf eine Stuhlkante und richtete ihre Aufmerksamkeit auf Audra. »Warum hast du uns denn nichts davon gesagt, dass du heiraten wolltest?«

Die Frage übergehend, die sie unter den gegebenen Umständen albern fand, sagte Audra: »Wir haben unsere Flitterwochen in Robin Hood’s Bay verbracht, und da ich wusste, dass wir auf unserer Rückfahrt nach Leeds hier vorbeikommen würden, dachte ich, es sei eine gute Gelegenheit, hereinzuschauen und dich zu sehen. Ich wollte auch, dass Vincent dich kennenlernt, da ...«

»Das freut mich aber.«

»Da er nächsten Samstag wieder herkommen wird. Mit einem Möbelwagen, um ...«

»Einem Möbelwagen.« Alicia klang überrascht.

»Ja. Er holt meine Sachen ab.«

»Sachen?«

»Ja, mein Eigentum, Tante Alicia. Oder vielleicht sollte ich es lieber die Hinterlassenschaft meiner Mutter nennen, die mir seit ihrem Tod gehört und die du hier ... aufbewahrt hast.«

»Du meine Güte, Audra, du willst doch nicht sagen, dass du dir extra einen Möbelwagen mieten willst, um den ganzen Weg von – Leeds, hast du gesagt? – herzukommen und ein paar wertlose Möbel abzuholen.«

»Wertlos?«, sagte Audra und sah sie scharf an. »So würde ich es nicht nennen.«

»Aber ich. Sie sind nicht viel wert.«

»Ganz gleich, wie viel sie wert sind, ich möchte sie haben. Ich möchte die Sachen meiner Mutter um mich haben. Außerdem gehören sie mir – und das schon seit Langem.«

»Ich glaube kaum, dass ein paar alte Tische solche Umstände rechtfertigen«, sagte Alicia höhnisch. Sie zog ein strenges, missbilligendes Gesicht und wandte sich Vincent zu: »Einen Möbelwagen mieten, um ein bisschen Mobiliar abzuholen. Das ist lächerlich von Audra, finde ich. Welche Verschwendung. Sie werden mir sicher beistimmen.«

»Audra möchte ihr Erbe haben«, sagte Vincent ruhig, aber sehr entschlossen. »Und alles, was Audra möchte, wird sie bekommen, wenn es nach mir geht.«

»Ach so«, sagte Alicia spitz und betrachtete ihn von oben herab.

»Und dann ist da noch der Schmuck, Tante Alicia. Den nehme ich gleich heute mit«, verkündete Audra.

Alicia machte schon den Mund auf, schloss ihn aber sofort wieder, da sie die grimmige Entschlossenheit sah, die in Audras Augen glitzerte, und den unnachgiebigen Zug um ihren Mund. »Ich bin mir nicht sicher, ob der Schmuck hier ist«, improvisierte sie rasch. »Wenn ich mich recht entsinne, hat meine Mutter ihn mit zu sich genommen, um ihn aufzubewahren.«

»Du bist dir nicht sicher«, wiederholte Audra. Ihr Gesicht wurde härter. »Man sollte meinen, dass du mit dem Besitz anderer Leute äußerst sorgfältig umgingest. Es hat mich auch ziemlich gewundert, dass du dich nicht mit mir in Verbindung gesetzt hast, schon vor Wochen. Du wusstest doch, dass ich dieses Jahr einundzwanzig werden würde, also mündig, und deshalb auch vom Gesetz her ein Recht auf das habe, was mir gehört.« Audra lachte bitter. »Es gab eigentlich überhaupt keinen Grund, wieso ich nicht schon vor Jahren die Sachen meiner Mutter bekommen habe. Mein ...«

»Vor Jahren warst du noch nicht verheiratet«, unterbrach Alicia sie, als wolle sie sich verteidigen. »Und was hättest du mit den Möbeln machen sollen? Wo hättest du sie hingestellt?«

»Ich rede vom Schmuck meiner Mutter«, rief Audra. »Und ich wollte gerade sagen, dass meine ehemalige Arbeitgeberin, Mrs Irène Bell, vor ein paar Wochen genau dasselbe gesagt hat. Sie und Mr Bell waren auch ganz erstaunt, dass du dich nicht Anfang Mai mit mir in Verbindung gesetzt hast, um herauszufinden, was ich mit meinem Besitz vorhabe. Mr Bell ist ein in Leeds außerordentlich gut bekannter Rechtsanwalt, und rechtliche Angelegenheiten erregen immer sein Interesse.« Audra ließ ihre etwas zusammengekniffenen blauen Augen auf der anderen Frau ruhen.

Alicia wurde rot und fühlte sich unter dem festen prüfenden Blick unbehaglich. Seit sie Audras Brief erhalten hatte, war sie wütend gewesen. Sie wollte die Wertsachen des Mädchens nicht herausgeben und hatte sich schon Tricks überlegt, sie behalten zu können. Aber nun überlegte sie es sich noch einmal. Sie wollte nicht mit einem Rechtsanwalt aneinandergeraten oder mit diesem Ehemann, der aussah, als könne er bei der geringsten Provokation schwierig werden. Bemüht, ihre Reizbarkeit zu verbergen, erhob sich Alicia. Dann räusperte sie sich und murmelte: »Es ist auch gut möglich, dass meine Mutter nur davon geredet hat, dass sie den Schmuck mit zu sich nehmen wollte, um ihn dort für dich aufzubewahren, aber dann doch nicht dazu gekommen ist. Mein Gedächtnis ist auch nicht mehr das, was es einmal war. Vielleicht ist er noch hier. Ich gehe mal nach oben und sehe nach.«

»Ja, das wäre wohl das beste«, sagte Audra.

Alicia eilte hinaus, Audra im stillen verfluchend. Auf Rechtsanwälte und Ehemänner war sie nicht gefasst gewesen. Das Mädchen hatte sie überrumpelt.

Sowie sie allein waren, sagte Vincent leise: »Das ist doch eine gerissene Hexe.«

»Ja – und sie versucht, mir meine Sachen zu stehlen«, murmelte Audra, die auch ihre Stimme dämpfte.

»Mach dir keine Sorgen, das werde ich nicht zulassen. Und außerdem hat sie bestimmt Angst, dass du ihr Mr Bell auf den Hals hetzt, wenn sie irgendwas Unrechtes macht. Ich hab’ gesehen, wie sich ihr Gesicht verändert hat, als du sagtest, er sei ein bekannter Rechtsanwalt aus Leeds.«

Audra lehnte sich im Sofa zurück und sah sich um, fand dies Zimmer genauso unsympathisch wie das ganze Haus und dessen Bewohner. Sie dachte daran, wie grausam Alicia Drummond zu ihr in der Vergangenheit gewesen war, und eine Kälte wie Raureif legte sich um ihr Herz. Unerwartet stieg das Bild ihrer Brüder vor ihr auf, wie sie sich von ihr verabschiedet hatten, als sie nach Australien fuhren. Die Erinnerung war so stark, dass sie erstarrte. Ein schreckliches Gefühl von Verlust nahm sie gefangen. Sie presste die Augen zu und fragte sich, ob sie sich jemals dieses bedrückenden Gefühls würde entledigen können. Bestimmt. Schließlich war sie nicht mehr allein. Sie hatte Vincent. Er war jetzt ihre Familie. Dann machte sie die Augen auf und drehte sich nach ihm um.

Er begegnete ihrem Blick und sah, wie das strahlende Blau ihrer Augen stumpfer wurde und sich eine Traurigkeit darüber legte. Dann presste er ihre Hand und sagte: »Dieses Haus hier regt dich auf und lässt mich frösteln. Wir wollen von hier verschwinden, sobald du mit dem alten Drachen fertig bist.«

Audra nickte.

Schweigend saßen die beiden wartend auf dem Sofa nebeneinander und hielten sich bei den Händen.

Es dauerte nicht lange, bis Alicia Drummond zurückkehrte, die hölzerne Schmuckschatulle in der Hand. Sie trug diese direkt zu Audra und schob sie ihr heftig und ziemlich unhöflich hin. »Da ist sie«, sagte sie bissig. »Du möchtest doch sicher alles überprüfen, damit auch nichts fehlt. Offen gesagt, mir wäre es nur recht. Ich erlaube nicht, dass man mich bezichtigt, deinen Besitz veruntreut zu haben – irgendwann später.«

Audra antwortete nicht.

Sie saß da und schaute verzaubert auf die Schatulle in ihrem Schoß. Wie vertraut sie war. Sie hatte immer auf dem Ankleidetisch im Schlafzimmer ihrer Mutter in High Cleugh gestanden. Als sie noch klein war und sich darin gefiel, die Kleider ihrer Mutter anzuziehen, hatte man ihr manchmal erlaubt, hineinzufassen und eine Anstecknadel oder Brosche oder einen Anhänger ein Weilchen zu tragen.

Nach einem Augenblick hob sie den Deckel hoch, erleichtert darüber, dass sie endlich diese persönlichsten Schätze ihrer Mutter besaß. Sie ging die einzelnen Stücke im Kästchen durch und befühlte jedes liebevoll. Dabei dachte sie an die Eleganz und Anmut ihrer Mutter und lächelte, als ihr eine Unzahl von Erinnerungen einfiel, jede von einem anderen Stein ausgelöst.

Sie nahm den Verlobungsring ihrer Mutter heraus, der mit drei winzigen Diamanten besetzt war, und betrachtete ihn. Meine Mutter hat ihn fast ihr ganzes Leben lang getragen, dachte Audra, und nun werde ich ihn tragen. Sie schob ihn sich auf den dritten Finger der rechten Hand und verspürte ein tiefes Gefühl von Zufriedenheit. Ihr war, als brächte der Ring sie ihrer Mutter näher, er schien ein Verbindungsglied mit der Vergangenheit zu sein. Es machte sie glücklich.

Audra brauchte die Inventarliste gar nicht zu Rate ziehen, sie kannte sie auswendig. Der Schmuck war vollständig. Man hatte nichts entnommen. Und ob Alicia Drummond ihn all die Jahre hindurch getragen hatte, war plötzlich ganz nebensächlich. Die Schatulle und ihr Inhalt gehörten jetzt ihr, und zwar rechtmäßig, und das war das einzig Wichtige.

Sie stellte die Schatulle zwischen sich und Vincent aufs Sofa, öffnete dann ihre Handtasche und nahm die andere Liste heraus. Den Blick auf Alicia gerichtet, sagte Audra: »Dies ist das Verzeichnis der Möbel, des Silbers und der Gemälde meiner Mutter, die sich in diesem Haus befinden. Ich lasse es dir da, damit du alles in Ruhe ordnen kannst. Vincent wird mit zweien seiner Brüder am nächsten Samstagmorgen herkommen und alles abholen. So gegen zehn Uhr. Ich hoffe, die Zeit passt dir.«

Alicia konnte nur verdrießlich nicken.

Dann legte Audra den Zettel auf ein Sheraton-Beistelltischchen und fuhr fort: »Und ich glaube, wir sollten heute schon die Bilder meines Vaters mitnehmen. Wir sind ja mit dem Auto hier, und sie passen leicht hinten hinein.«

Vincent, der die Sache hinter sich bringen und Audra aus diesem deprimierenden Haus entfernen wollte, sprang auf und rief: »Ich kann sie ja gleich mal abhängen.« Dann sah er Alicia an und setzte erklärend hinzu: »Ich weiß, welche Bilder von Audras Vater gemalt worden sind, sie hat sie mir schon gezeigt.«

Alicia Drummond glaubte, zu Stein zu erstarren.

Sie konnte weder etwas sagen noch sich rühren. Sie starrte Vincent einfach an, sah starr zu, als er eines der Ölbilder abnahm, es gegen einen Stuhl lehnte, und dann zum nächsten hinüberging und die Hände danach ausstreckte.

In diesem Augenblick platzte etwas in Alicia Drummond. Jahre der eisernen Selbstbeherrschung fielen von ihr ab. »Rühren Sie mein Bild nicht an! Wagen Sie nicht, es zu berühren!«, schrie sie, sprang auf und rannte durch das Zimmer, ihre scheinbare Würde hatte sich in Luft aufgelöst. Heftig griff sie Vincent am Arm, stierte ihm ins Gesicht und schrie noch wütender: »Unterstehen Sie sich, irgendeins meiner Bilder anzurühren!«

Er war fassungslos über ihre Worte und ihr Benehmen. Dann schüttelte er ihre Hand ab, trat zur Seite und sah zu Audra hinüber, die noch auf dem Sofa saß. Sie wechselten einen überraschten Blick.

Audra sprang schnell auf und eilte hinzu. »Es sind nicht deine Bilder, Tante Alicia. Sie gehören mir«, sagte sie in bestimmtem, aber beherrschtem Ton. Einen Moment lang überlegte sie, ob die Frau wohl den Verstand verloren hatte. »Falls du es vergessen haben solltest: Mein Vater hat sie gemalt. Und sie hingen immer in High Cleugh. Sie sind Teil des Erbes von meinem Vater und von meiner Mutter, und ich ...«

»Deine Mutter!«, schrie Alicia und drehte sich zu ihr. »Fang mir nicht von deiner Mutter an. Sie war nichts als eine Hure!«

Audra verschlug es die Sprache, und sie schreckte zurück.

Vincent glaubte, er hätte nicht recht gehört.

»Seien Sie vorsichtig«, rief er. »So reden Sie nicht mit meiner Frau – das verbitte ich mir.« Er legte seinen Arm um Audra und warf Alicia einen wütenden Blick zu. »Was fällt Ihnen überhaupt ein, Audras Mutter zu beschimpfen?«

»Gefällt Ihnen das Wort Hure nicht? Dann suchen Sie sich doch etwas anderes aus – Schlampe, Nutte, Flittchen, Prostituierte! Passt alles gut. Weil sie das war. Sie hat ihn mir weggenommen, sie hat mir meinen süßen Adrian weggenommen.« Alicias schrille Stimme sank zu einem Klagelaut ab. Den Tränen nahe, sprach sie hastig weiter: »Er gehörte mir. Wir verstanden einander. Wir wollten heiraten. Bis sie ein Auge auf ihn warf, ihm den Kopf verdrehte und ihn mit ihren Tricks und ihrem Getue in ihr Bett lockte.« Dann blieben ihr die Worte im Hals stecken. Alicia rang förmlich nach Luft und hielt die Hand an die Brust gepresst, als hätte sie Schmerzen.

Audra war so entsetzt, so angewidert von dem, was sie gehört hatte, dass sie ihre Verwandte nur entsetzt anstarren konnte. »Das ist es also die ganze Zeit gewesen«, sagte sie dann und schüttelte ungläubig den Kopf. »O Gott! Du hast meine Brüder und mich bloß bestraft, weil du eifersüchtig warst! Wie niedrig, uns deshalb als Kinder zu trennen. Wo meine Eltern doch schon tot waren, die Vergangenheit sowieso nicht mehr zählte. Du bist eine durch und durch schlechte Frau, Alicia Drummond. Und was dich und meinen Vater angeht ...« Audra hielt inne und holte tief Luft: »Ich kannte meinen Vater kaum, aber soweit ich weiß, war Adrian Kenton ein guter, sensibler Mann. Ich glaube dir absolut nicht, dass er sich jemals für so eine wie dich interessiert haben soll.«

Voller Ekel wandte Audra sich ab. Dann sagte sie zu Vincent: »Bitte nimm die restlichen Bilder meines Vaters ab, und dann gehen wir.«

Audra ging zum Sofa hinüber, ergriff ihre Handtasche und die Schmuckschatulle.

All die Zwänge, die sich Alicia Drummond über die Jahre auferlegt hatte, lockerten sich mit einem Mal. Und all der alte Hass, den sie gegen Edith Kenton gehegt hatte und der nicht einmal vom Tod besänftigt worden war, stieg wieder in ihr auf. Er schien auf ihrem Gesicht zu erstarren, das sich zu einer hässlichen Grimasse verzerrt hatte.

Dann huschte sie über den Teppich, trat dicht an Audra heran und schrie: »Adrian Kenton war nicht dein Vater! War er nicht, hörst du? Du bist ein Bastard. Peter Laceys Bastard. Sie trieb es schon mit ihm, als Adrian noch am Leben war. Mein armer süßer Adrian, dass er das erleben musste.«

Audra schüttelte wild den Kopf und stritt ab, was die Frau gerade gesagt hatte. »Es ist nicht wahr! Es ist nicht wahr!«, rief sie.

»Ist es doch«, zischte Alicia. »Deine Mutter war eine Ehebrecherin, du bist ein Bastard!«

»Und du bist eine Lügnerin, Alicia Drummond!«

Vincent wurde klar, dass er schnell handeln musste.

Er griff Audra am Arm und zerrte sie fast in die Eingangshalle. Er schwang herum, ging schnell in den Salon zurück und nahm die drei Ölgemälde, die er abgehängt hatte, sah dann Alicia Drummond an.

Sie stand mitten im Zimmer und rang erregt die Hände. Es lag etwas Fiebriges in ihrem Gesicht, und ihre Augen waren wild. Er dachte, sie sei wohl verrückt geworden.

Dann sagte er: »Am Samstag komme ich wieder, um den Rest von Audras Sachen zu holen, und alles sollte in bestem Zustand sein, sonst ...«

»Unterstehen Sie sich, mir zu drohen!«

»Ich drohe Ihnen nicht. Ich möchte nur ausdrücken, dass es mir ernst ist. Und das Gesetz ist auf unserer Seite, denken Sie daran, Mrs Drummond.«

Audra stand noch da, wo er sie verlassen hatte, und drückte die Schmuckschatulle an ihre Brust. Ihr Gesicht war bleich, und sie zitterte.

»Nun los«, rief er, »und halt mir bitte die Tür auf, Liebes, meine Hände sind voll.«

»Ja«, erwiderte sie und bemühte sich, den Schwindel abzuschütteln, der sie ergriffen hatte. Dann folgte sie ihm eilig zur Eingangstür.

Sowie sie im Auto seines Onkels saßen und das Haus hinter sich ließen, atmete Vincent beträchtlich freier. Als er das Tor am Ende der langen Einfahrt erreicht hatte, wurde er langsamer und steuerte das Auto auf die Hauptstraße nach Ripon. Er fuhr ein paar Minuten in diese Richtung, weil er etwas Abstand zwischen sich und The Grange schaffen wollte; schließlich hielt er an und parkte unter einer hohen Hecke.

Audra und er sahen sich im selben Augenblick an.

Vincent hatte sie noch nie so blass gesehen, und sie hielt die hölzerne Schatulle umklammert, als wolle sie ihr jemand entreißen. Aber zumindest zitterte sie nicht mehr. Er schmolz vor Mitgefühl, als er in ihre Augen sah. Sie waren von Schmerz überflutet. Er hätte Audra gern getröstet, wusste aber nicht wie.

Dann sagte er leise: »Es ist alles gut jetzt, Liebes. Und du musst niemals mehr einen Fuß in jenes verdammte Haus setzen.«

Audra nickte. »Ja, ich weiß«, sagte sie.

Es entstand eine kleine Pause, während der sich ihre Augen nicht losließen.

Schließlich fragte sie leise: »Du glaubst doch nicht, dass es wahr ist, Vincent, oder? Das glaubst du doch nicht, dass ich ... dass ich unehelich bin?« Ihre Lippen zitterten, und ihre Augen liefen über.

»Nein! Aber nein!«, rief er, und sein Zorn hallte laut im kleinen Gehäuse des Autos wider. »Du hast es doch selbst gesagt, ihr ins Gesicht ... dass sie eine Lügnerin ist.«

»Aber warum sollte sie sich etwas so Schreckliches, Gemeines ausdenken?«

Über diese Frage verwundert, sah Vincent seine junge Frau von der Seite an und sagte: »Audra ... Liebes ... du bist doch nicht dumm, du weißt doch, wieso. Sie hat es dir gesagt.« Dann wurde seine Stimme schärfer und härter: »Sie ist ein verdammtes, altes Weibsstück, bitter und gehässig. Nicht ganz richtig im Kopf, diese Frau. Es würde mich nicht wundern, wenn man sie eines Tages abholen käme, sie in eine Gummizelle steckte.«

»Ja, vielleicht hast du recht«, erwiderte Audra langsam, nicht recht überzeugt. Ihr Gesicht wurde nachdenklich, als sie sich mit Alicia Drummond beschäftigte. Die Frau war tückisch. Böse. Möglicherweise hatte es gar nichts mit Wahnsinn zu tun. Automatisch dachte sie an ihre Brüder und seufzte, erinnerte sich an ihre schweren Jahre und Sorgen, die sie in Australien gehabt hatten, und an ihre eigenen Schwierigkeiten, ihre Einsamkeit, nachdem man sie weggeschickt hatte. Es war alles so unnötig gewesen.

»Fühlst du dich etwas besser?«, fragte Vincent.

»O ja«, murmelte sie. »Ich habe nur daran gedacht ... Leute können so gemein sein, nicht wahr?«

»Ja, Liebling, das können sie«, pflichtete er ihr bei und streckte dann die Hand aus, berührte sacht ihren Arm. »Versuche, dich zu beruhigen ... niemand will dir deine Schmuckschatulle wegnehmen.«

Audra lächelte zaghaft. Sie lockerte ihren Griff, ließ den Schatz auf ihren Knien ruhen und sagte nach einer Weile: »Na, wir sollten dann auch mal weiterfahren. Wir können hier doch nicht den ganzen Tag lang sitzen.«

»Okay – aber wohin, Audra? Willst du immer noch deine Großtante besuchen? Oder sollen wir das lassen und stattdessen nach Harrogate fahren?«

Audra zögerte eine Sekunde, dann sagte sie: »Ich meine, wir sollten hinfahren und sie besuchen. Sie erwartet mich ja, und ich möchte auch, dass du sie kennenlernst.« Audra sah ihn beruhigend an. »Sie ist viel netter als ihre schreckliche Tochter, Ehrenwort.«

»Dann erkläre mir den Weg.«

»Wir sind gar nicht mehr weit entfernt. Fahr diese Straße entlang, ungefähr zehn Minuten lang, bis wir nach Cobbler’s Green auf der rechten Seite kommen. Da müssen wir abbiegen. Bedelia Cottage liegt ganz am Ende der Straße.«

Keiner von ihnen sagte ein Wort, während Vincent zügig dahinfuhr, und erst als sie durch Cobbler’s Green fuhren, bemerkte Audra: »Aber es könnte wahr sein.«

Vincent, der sofort wusste, was sie meinte, entgegnete rasch: »Vielleicht, aber wenn ich du wäre, würde ich mir nicht den Kopf darüber zerbrechen.«

»Und warum nicht?«

»Weil du die Wahrheit sowieso nicht herausbekommen wirst. Deine Mutter ist die Einzige, die sie dir hätte sagen können, und sie ist tot.«

»Vielleicht hat sie sich Großtante Frances anvertraut; sie standen sich sehr nahe, das hab’ ich dir ja schon gesagt.«

»Du willst die alte Dame doch nicht etwa fragen, oder?«

»Hm ... vielleicht doch.«

Aber schließlich fragte Audra ihre Großtante gar nichts.

Von dem Augenblick an, da sie im Bedelia Cottage angekommen waren, war es offensichtlich, dass die alte Dame sehr gebrechlich war. Obschon der Nachmittag zur Neige ging, war es doch noch ein schöner Tag, sonnig und warm. Aber die Fenster waren alle fest geschlossen, und sie saß vor einem enormen Feuer in ihrem vollgestopften Salon, einen Seidenschal um die eingefallenen Schultern gelegt und die Hände den wärmenden Flammen entgegengestreckt.

Audra geleitete Vincent durch den Irrgarten von viktorianischen Möbeln und Zierrat, wobei der längst vergessene Geruch des Zimmers sie sofort überfiel. In der trockenen, staubigen Luft lag ein Hauch von überreifen Äpfeln, Möbelpolitur und Dufttöpfchen, so wie es in all den Jahren gewesen war, als Audra in ihrer Kinderzeit hierhergekommen war. Und als sie sich herabbeugte, um die trockene, alte Wange zu küssen, stieg ihr der schwache Duft von Mottenkugeln, vermischt mit Lavendelwasser und Pfefferminzbonbons, in die Nase, und sie empfand eine heftige Zuneigung zu Frances Reynolds. Auf einmal befand sie sich im Bann einer kurzen Nostalgie.

Ihre Großtante war überglücklich, Audra nach solch langer Zeit wiederzusehen und Vincent kennenzulernen. Wenn sie auch überrascht war, dass Audra mit einem Ehemann aufgetaucht war, fand sie doch sogleich Gefallen an ihm, wie es Audra schien. Sie zwitscherte drauflos wie ein kleiner, munterer Vogel und lächelte die beiden wohlwollend an. Von Zeit zu Zeit nickte sie und streichelte Audras Hand, und dann bestürmte sie die junge Frau mit unzähligen Fragen nach deren Leben.

Audra, die ebenso froh darüber war, ihre Großtante wiederzusehen, antwortete ihr nach Kräften, wobei sie die Achtzigjährige genau betrachtete. Diese sah so zart und durchscheinend aus wie die papierdünnen Porzellantassen, in denen der Tee serviert wurde, und es schien Audra, dass die alte Frau zerfallen würde, wenn man nur einmal kräftig atmete. Solange sich Audra erinnern konnte, war die Großtante silberhaarig und schmal gewesen, doch jetzt lag eine neue Zerbrechlichkeit über ihr, und Audra hätte sie gern in Watte gepackt.

Ein alter Leib, alte Knochen, die bald zu Staub zerfallen werden, dachte Audra stumm, und trotz der Hitze im Zimmer überlief sie ein kalter Schauer. Intuitiv wusste sie, dass sie ihre Tante wohl zum letzten Mal sah. Frances Reynolds war nun sehr, sehr alt; ihr Leben auf der Erde näherte sich dem Ende. In diesem Moment begriff Audra auch, dass es ganz verkehrt wäre, sie auf die Vergangenheit ihrer Mutter anzusprechen.

Das würde die sanfte alte Dame viel zu sehr aufregen, die ihre Mutter so geliebt hatte, immer herzlich zu Audra war und Vincent freundlich empfangen hatte.

Ja, Vincent hat recht, dachte Audra jetzt. Nur meine Mutter kannte die Wahrheit, und sie hat sie mit ins Grab genommen. Audra erkannte, dass es das Angedenken ihrer Mutter beflecken würde, wenn sie anfinge, über Ehebruch zu reden und ihre eigene Legitimität in Zweifel zu ziehen.

Und so schwieg sie.

Sie verbrachten beinahe zwei Stunden im Bedelia Cottage, und erst als sie Anstalten machten, sich zu verabschieden, erwähnte ihre Großtante Edith Kenton.

Sie schaute Audra aus ihren uralten Augen an und sagte mit schwacher Stimme: »Als mein Liebling Edith starb, hat Alicia all ihre Papiere von High Cleugh fortgebracht. Aber ich habe sie ihr wieder abgenommen, weil ich sie für dich aufbewahren wollte, Audra, bis du erwachsen warst.«

Dann hielt Frances Reynolds inne, lächelte sacht und schüttelte das silberne Haupt. »Ach mein liebes Kind, du schaust so gespannt drein, aber ich fürchte, es gibt da nichts Besonderes unter den Papieren deiner Mutter. Ein paar alte Briefe, ihre Geburtsurkunde, ihren Trauschein, einige alte Fotos – sonst nichts.«

Audras Gesicht sah jetzt enttäuscht aus, aber sie sagte: »Ich möchte sie aber trotzdem haben.«

»Selbstverständlich, meine Liebe, deshalb habe ich sie dir ja auch all die Jahre aufbewahrt.« Dann sah sie Vincent an. »Die Papiere liegen in dem Aktenkoffer da drüben. Würden Sie so freundlich sein, sie zu holen?«

»Aber natürlich«, sagte er und sprang auf. Gleich war er wieder zurück und hielt der alten Dame den Koffer hin.

»Nein, nein, geben Sie ihn Audra, die Papiere sind ihre, Vincent.«

»Danke«, sagte Audra und nahm ihm den Aktenkoffer ab. Die Initialen ihrer Mutter, »EWK«, standen neben dem Schloss, in Gold geprägt. Sie öffnete den Koffer, schaute hinein, berührte die zuoberst liegenden Papiere und beschloss dann, alles später genau anzusehen, in der Abgeschlossenheit ihres Hotelzimmers, nachdem sie den White Swan in Harrogate erreicht hatten.

»Vielen Dank, Großtante Frances, dass du mir die Papiere aufbewahrt hast – das weiß ich sehr zu schätzen.«

Die alte Dame nickte und sagte dann lächelnd: »Ich wusste, dass du Alicia aufsuchen würdest«, ihre schwache Stimme bebte leise, »und ich nehme an, dass du das gemacht und den Schmuck deiner Mutter geholt hast.«

»Ja«, antwortete Audra und hielt verlegen inne, denn sie fürchtete sich, noch mehr zu sagen. Dann sah sie zu ihrem Mann hin.

Vincent kam ihr zu Hilfe. »Alles ging prima, und meine Brüder und ich werden nächste Woche mit einem Möbelwagen hinfahren, um den Rest von Audras Sachen zu holen.«

Die alte Dame strahlte ihn an, und ihre Augen hatten plötzlich einen befriedigten, ja fast triumphierenden Ausdruck. Dann griff sie nach ihrem Stock. »Dann kommt mal mit, ihr beiden, wir wollen ins Esszimmer gehen. Da sollt ihr euch ein Stück Silber für euer erstes Zuhause aussuchen.«