Kapitel 14

Bitte, Vincent, du musst jetzt aufstehen«, sagte Audra und rüttelte ihn an den Schultern.

Er rekelte sich, drehte sich auf den Rücken und machte die Augen auf, blinzelte gegen das Licht, das durch die duftigen Vorhänge fiel. »Warum?«

»Vincent, du weißt genau, warum«, rief Audra so leichthin wie möglich, bemüht, ihren Ärger zu verbergen. »Gwen kommt doch zum Abendessen.«

»Wenn sie kommt.«

»Es war meine Schuld am letzten Sonntag«, warf Audra hastig ein, »ich habe das Datum verwechselt.«

Er sah sie skeptisch an und schwieg.

»Bitte, Vincent«, sagte sie, und ihre Stimme wurde lauter, »steh jetzt bitte auf.«

Anstelle einer Antwort streckte er den Arm aus und ergriff ihr Handgelenk. Dann zog er sie zu sich herab, schlang seine Arme um sie und drückte sie fest an sich. Gegen ihre Wange gepresst, flüsterte er dann: »Komm auf eine halbe Stunde zu mir ins Bett.«

Audra wehrte ihn ab. »Ich kann nicht, du weißt doch, dass ich nicht kann. Wir haben gar keine Zeit.«

»Du willst sagen, dass du keine Lust hast«, sagte er und ließ sie sofort los.

Audra erhob sich rasch, trat von dem Bett zurück und sah ihn an, die Lippen vorgeschoben. »Du bist schrecklich ungerecht.«

»Bin ich nicht. Du bist in der letzten Zeit so kalt zu mir.«

Sie errötete. »Das stimmt nicht. Du suchst dir nur immer die verkehrte Zeit aus!«

Er ließ seinen Blick zum Wecker auf dem Nachttischchen aus Bambus gleiten. »Was soll denn verkehrt sein mit einem Sonntagnachmittag um halb fünf. Ich finde es genau richtig.«

»Wir erwarten Besuch.«

»Ach ja. Die affige Miss Gwen Thornton.« Er sprach ihren Namen mit einiger Schärfe aus und setzte hinzu: »Ich verstehe überhaupt nicht, was du an ihr findest, warum du ihr hinterherläufst.«

»Das ist nicht wahr!«

»Ist es doch. Langsam kommt es mir vor, als hättest du sie lieber als mich.«

»Sei doch nicht lächerlich«, rief Audra und sah ihn entgeistert an. »Du weißt doch, dass es nicht stimmt.« Plötzlich stieg eine Wut in ihr auf, und sie fuhr gereizt fort: »Und ich bin sowieso nicht in der Stimmung, zu dir ins ... Bett zu steigen und dich zu lieben – nicht, wie du dich in der letzten Zeit aufgeführt hast.«

»Aufgeführt? Was zum Teufel willst du damit sagen?« Er setzte sich kerzengerade im Bett auf und funkelte sie an, wobei seine grünen Augen vor Ärger noch mehr glitzerten als sonst.

Audra schüttelte ganz langsam den Kopf, schluckte ihren Zorn hinunter, verstand plötzlich alles. »Du weißt anscheinend gar nicht, was du tust, Vincent.«

»Wie meinst du das?«

»O Vincent, Vincent, du bist unmöglich. Und du machst mich manchmal so wütend. Jeden Sonntagmittag verliere ich die Geduld mit dir. Du verschwindest mit deinen Brüdern im Pub und machst dir nichts daraus, weit nach zwei Uhr wieder anzukommen, nachdem du mir versprochen hast, spätestens um eins zurück zu sein. Und dann bist du eklig zu mir, weil das Essen verdorben ist, als ob es meine Schuld wäre.«

»Ich war heute nicht eklig zu dir.«

»Warst du doch. Wirklich, Alkohol bekommt dir überhaupt nicht, er zeigt dich von deiner schlechtesten Seite, macht dich streitsüchtig und empfindlich.«

Er wollte diese Kritik mit Schweigen übergehen, da sie in der letzten Zeit oft an ihm herumnörgelte, überlegte es sich dann aber doch anders. »Fang nicht an, mir hier eine Gardinenpredigt zu halten«, bellte er. »Das passt mir nicht. Ich bin ein Mann, kein kleiner Junge. Und ich bin immer schon sonntags ins Pub gegangen, seit ich achtzehn bin, und habe nicht die Absicht, jetzt damit aufzuhören. Weder dir noch sonst jemandem zuliebe. Und außerdem geht jeder sonntags ins Pub, das ist eine alte englische Tradition.«

Nur bei der Arbeiterklasse, dachte sie und hasste sich sofort selbst für diesen Gedanken; sie hatte immer auf Leute mit Vorurteilen herabgesehen. Dann sagte sie: »Da ist noch etwas ... du hast mich schon wieder bei deiner Mutter warten lassen, während du dich mit deinen Brüdern im Pub amüsiert hast ...«

»Unser Bill hatte schließlich Geburtstag«, warf er aufgebracht ein, sofort in Verteidigungshaltung.

»Ja, das stimmt, und ich gönne es dir ja auch, wenn du einen besonderen Anlass zum Feiern hast. Aber letzten Samstag war nicht Bills Geburtstag, und am Samstag davor auch nicht oder davor, als du allein weggegangen bist.«

»Du hättest ja gestern Abend nicht bei meiner Mutter bleiben müssen. Du hättest mit Laurette zum Tanz gehen können – schließlich hat sie dir das angeboten.«

»Ich bin nicht mit Laurette verheiratet, sondern mit dir.«

Er seufzte und verzog den Mund. »Ich hoffe nicht, dass du damit andeuten willst, ich würde nun für den Rest meines Lebens vierundzwanzig Stunden am Tag unter deiner Fuchtel stehen, denn das kann ich dir sagen, daraus wird nichts.«

Audra verbiss sich jede Erwiderung, weil sie selbst nicht wusste, warum sie sich ausgerechnet jetzt mit ihm stritt. Gwen würde in einer knappen Stunde kommen, und sie wollte dann eine friedliche Atmosphäre im Haus haben. Es fehlte ihr gerade noch, dass Gwen einen Streit zwischen ihnen mitbekam.

Sie trat an die Schlafzimmertür und sagte leise: »Ich habe noch ein paar kleine Sachen zu erledigen«, lief dann treppab, ehe er ein Wort sagen konnte.

Dann schob sie ihre Sorge um die jüngsten Veränderungen in ihrer Beziehung beiseite und machte sich in der Wohnküche ihres Vierzimmerhauses in der Pot Lane zu schaffen. Nachdem sie den Holztisch in der Mitte mit ihrer besten Spitzendecke verschönt hatte, holte sie einige Teile des schönen Porzellanservices heraus, das ihnen die Bells zur Hochzeit geschenkt hatten, und deckte den Tisch zum Abendessen.

Sowie sie damit fertig war, sah sie zum Kamin in der Mitte des Yorkshire-Herdes und überlegte, ob sie schon Feuer anmachen sollte; diese Septemberabende konnten schon sehr kalt werden. Andererseits war es noch sonnig draußen. Beim Gedanken an das Wetter fiel Audra ein, dass sie noch frische Blumen für den Tisch und das Wandgestell im winzigen Wohnzimmer nebenan brauchte.

Sie ging eilig zum Arbeitstisch neben dem Ausguss am Fenster, fand die Schere in der Schublade, nahm den Blumenkorb und ging hinaus.

Das Haus hatte keinen Namen, nur die Nummer achtunddreißig, die weiß an die grüne Tür gemalt war, und es war eines von dreien in einer Sackgasse hinter The Towers in Upper Armley. Jedes Haus hatte seinen kleinen Garten, aber Audras war der schönste und prachtvollste, weil ihn die vorigen Mieter in all den Jahren gut gepflegt hatten. Auch Audra hatte fleißig im Garten gearbeitet, seit sie im Juni dort eingezogen waren, hatte neue Pflanzungen angelegt und einiges verbessert.

Die letzten Rosen des Sommers waren voll erblüht und neigten die schweren, üppigen Köpfe der dunklen Erde entgegen. Als Audra sich über die Stöcke beugte, sog sie ihren Duft ein. Er war intensiv und süß, leicht betäubend, und es wurde ihr ein bisschen schwindlig davon. Während sie die Rosen schnitt, war sie sorgsam darauf bedacht, die zarten Blüten nicht zu beschädigen. Sie wählte vorwiegend die blassgelben und rosa Blumen, diese schienen schneller als die anderen zu verblühen.

»Du weißt gar nicht, wie hübsch du bist, Liebes«, rief Vincent, der in der Haustür stand.

Sie sah auf.

Er lächelte sie strahlend und hinreißend an.

Sie lächelte zurück, begriff, dass er alles wiedergutmachen wollte. »Danke«, murmelte sie. Dann stand sie auf, nahm den Blumenkorb und kam ihm auf dem gepflasterten Gartenpfad entgegen.

Seine Augen ließen sie nicht los. Als sie vor ihm stehen blieb, legte er liebevoll den Arm um sie und geleitete sie nach drinnen. Dann schloss er die Tür, nahm ihren Korb ab und zog sie in seine Arme, küsste sie heiß und mit wachsender Leidenschaft.

Audra hielt ihn fest umschlungen und erwiderte seine Küsse. Aller Groll, der zwischen ihnen entstanden war, fiel plötzlich, ganz unerwartet von ihr ab. Sie dachte: Ich liebe ihn, er liebt mich, und das ist doch das Einzige, was wirklich zählt. Wir werden unsere Probleme schon gelöst bekommen. Irgendwie.

Dann hörte er auf, sie zu küssen, hob ihr Gesicht zu dem seinen empor und sah in ihre unglaublichen Augen. Es war ihm, als sei ihr strahlendes Kornblumenblau nun zu einem tiefen Violett geworden – und wie stets drückten ihre Augen ihre innersten Gefühle aus. Sein Blick war eindringlich, und schließlich fragte er sie mit heiserer Stimme: »Weißt du überhaupt, wie sehr ich dich manchmal begehre?«

»Ja.« Sie zögerte, dann flüsterte sie: »Mir geht es genauso.«

Vincent lächelte still in sich hinein, da er wusste, wie schwer es ihr fiel, solche Dinge auszusprechen. Dann fuhr er mit dem Finger über ihre Wange und sagte: »Bleibt Gwen denn lange?«

»Nein, ich glaube nicht. Morgen ist doch Montag.«

Vincent schmiegte sich enger an sie und flüsterte ihr ins Ohr: »Dann wollen wir doch mal so verbleiben, dass wir heute früh zu Bett gehen, Mrs Crowther.«

»Ja, gut.«

Er drückte sie an sich und gab sie dann frei. Er drehte sich um und ging zur Haustür. »Ich werde rechtzeitig zum Abendessen zurück sein.«

Überrascht fragte sie: »Wohin willst du denn?«

»Zu meiner Mutter.«

»Aber warum denn?«

»Ich habe Frank versprochen, ihm dabei zu helfen, seine Militärpapiere auszufüllen ... Dad hat ihm schließlich doch erlaubt, in die Armee einzutreten, und er ist ganz aus dem Häuschen, unser Frank. Du weißt ja, wie gern er in ein Kavallerieregiment möchte und nach Indien. Und ich kann’s ihm nicht verdenken. Nicht, wie es momentan in diesem verdammten Land aussieht.« Er zog ein Gesicht. »So viele Männer müssen stempeln gehen, und jeden Tag werden es mehr.«

Audra regte sich nicht. »Aber es geht doch gut bei Varleys, oder? Die haben doch nicht auch schon Probleme, Vincent?«

»Nein, natürlich nicht.« Er lächelte ihr beruhigend zu. »Wir sind gerade dabei, ein schönes, großes Haus für den alten Pinfold und seine Madam zu bauen. Und überhaupt solltest du dir nicht deinen kleinen Kopf über solche Sachen zerbrechen, lass das mal meine Sorge sein, ich bin schließlich der Herr im Haus.« Dann warf er ihr eine Kusshand zu und lächelte verschmitzt. »Bis dann, Liebes, mach’s gut.«