Kapitel 16

Im Verlauf des Abends, als sie fast mit dem Essen zu Ende waren, wechselte Gwen einen verschwörerischen Blick mit Audra. »Soll ich Vincent das Neueste erzählen?«

»Warum nicht?«, fragte Audra lachend, die schon den ganzen Abend gemerkt hatte, wie Gwen förmlich danach dürstete, ihn in ihr Geheimnis einzuweihen.

»Was denn für eine Neuigkeit?«, fragte Vincent und sah von der einen zur anderen.

»Nächste Woche verlobe ich mich«, verkündete Gwen mit leuchtenden Augen und lehnte sich dann selbstzufrieden auf dem Stuhl zurück.

»Na, eine Überraschung ist es ja nicht«, Vincent beugte sich zu ihr hinüber und küsste sie auf die Wange. »Gratuliere, Gwen, da hättest du Mike doch gleich mitbringen sollen. Ich habe ihn gern, er ist ein ehrlicher Kerl – mit ihm hast du eine gute Wahl getroffen.«

Eine kleine Pause entstand.

Dann sagte Gwen schnell: »Es ist aber nicht Mike, den ich heiraten will.«

»Nicht Mike«, wiederholte Vincent ganz überrascht. »So was, jetzt bin ich aber platt! Und ich dachte, ihr wärt ein Herz und eine Seele! Also hast du jemand anders gefunden.«

»Ja.«

»Da ist Mike doch sicher sehr traurig.«

Gwen spürte einen Kloß in der Kehle und konnte plötzlich nichts sagen. Sie nickte einfach.

»Ja, ich kann mir gut vorstellen, wie ihm jetzt zumute ist«, sagte Vincent und sah Gwen hart an. »Mike hielt eine Menge von dir, Gwen, wirklich.«

Sie erwiderte: »Ich weiß, ich fand ihn auch sehr nett, aber offenbar nicht nett genug, wenn ich mich in einen anderen verlieben konnte.«

»Und wer ist der Glückliche?«, fragte Vincent und begriff nicht, wie sie Mike für einen anderen hatte aufgeben können. Mike war ein ganz besonderer Mensch, und nun, da er einmal darüber nachdachte, fiel ihm ein, dass er so einen Mann gern für seine Schwester Laurette hätte.

»Er heißt Geoffrey Freemantle«, sagte Gwen gerade und strahlte ihn zuversichtlich an. »Er ist Arzt im Infirmary von Leeds. Aber er stammt eigentlich aus Harrogate, da wohnen auch seine Eltern.«

»Und wann ist das alles passiert? Wir waren doch Ende Juni noch mit Mike zusammen, es kann doch erst in den letzten Monaten passiert sein, nicht wahr?«

»Ja, Geoffrey hat mich zum ersten Mal Anfang Juli eingeladen, aber ich ...«

»Das geht doch alles ein bisschen schnell, Gwen, meinst du nicht?«, fiel ihr Vincent herrisch ins Wort und sagte dann, ehe sie noch etwas entgegnen konnte: »Die Ehe, das ist eine komplizierte Geschichte, und ich hoffe, du bist wirklich sicher, was diesen Mann angeht. Ich meine, ich weiß genau, dass Mike ein guter Mensch ist, ein prima, aufrechter Kerl, und ich kann nur hoffen, dass dieser neue Typ genauso ... in Ordnung ist. Ich möchte nicht, dass du einen großen Fehler – einen schrecklichen Fehler machst, Gwen.«

Diese hatte verärgert den Mund zusammengepresst, und nun starrte sie Vincent wütend an. Typisch für ihn, so seine unerwünschten, ungebetenen Kommentare loszulassen. Kalt sagte sie: »Zufällig kenne ich Geoffrey schon lange – seit ich in Ripon gearbeitet habe. Und wie ich vorhin schon zu Audra gesagt habe – ihr beide habt den Hochzeitstermin auch nicht gerade verzögert. Und überhaupt geht dich das doch gar nichts an!«

»Es tut mir leid«, murmelte er und zog wütend an seiner Zigarette.

Audra sah, dass sie schon wieder auf eine ihrer kleinen Streitereien zusteuerten, und so sagte sie entschieden: »Nun hört aber auf, ihr beiden, und verderbt uns nicht den schönen Abend. Außerdem möchte ich euch auch etwas erzählen – ich habe auch eine kleine Neuigkeit.«

Vincent wandte sich ihr zu und zog fragend die Augenbrauen hoch. »Was für eine Neuigkeit denn, Liebe?«

»Ich hab’ mir eine Stelle besorgt und fange in zwei Wochen an.«

Vincents Unterkiefer sackte herab, und er sah sie entgeistert an.

Gwen war ebenso überrascht und rief: »Was für eine Stelle? Wo denn?«

»Im St. Mary’s Hospital hier in Armley«, sagte Audra. Nun war sie an der Reihe, zufrieden mit sich dreinzuschauen, und fuhr begeistert fort: »Als Krankenschwester natürlich. Mrs Bell hat mich mit der Oberin bekannt gemacht, und ich freue mich schon sehr. Es ist eine wirkliche Herausforderung, denn ich werde auf der Entbindungsstation sein.«

»Wie konntest du nur so was Blödsinniges machen?«, wollte Vincent aufgebracht wissen – seine grünen Augen funkelten, Hals und Gesicht waren von Zornesröte bedeckt. »Ich glaube, ich höre nicht recht!«

Audra war von seinem heftigen Ausbruch so überrascht, dass sie kurz die Fassung verlor. Aber dann richtete sie sich noch gerader auf und erwiderte: »Ich finde es überhaupt nicht blödsinnig! Ich finde es sehr gescheit von mir! Schließlich habe ich eine gute Ausbildung gehabt, es wäre doch ein Jammer, nichts damit anzufangen. Und Oberin Lennox hat immer gesagt, ich sei eine sehr begabte Pflegerin, warum soll ich dann keinen Gebrauch davon machen? Und davon ganz abgesehen will ich auch arbeiten.«

»Das schlag dir aus dem Kopf! Meine Frau geht nicht arbeiten, Ende!«

Seine Geduld war jetzt aufs Äußerste strapaziert, und er schüttelte heftig den Kopf. »Meine Güte, Audra, wie kommst du nur auf so etwas? Wie konntest du nur? Ich kann schon hören, was meine Kumpel sagen werden, und wie sie hinter meinem Rücken lachen, weil meine Frau arbeiten gehen muss, um uns zu ernähren.«

»Aber ich will doch nicht deshalb arbeiten!«, rief Audra.

»Vielleicht nicht, aber das werden sie denken. Vergiss nie, dass ich hier der Mann im Haus bin und der Brotverdiener, dass ich die Hosen anhabe und die Entscheidungen treffe, nicht du.« Dann sah er zu Gwen hinüber und bat um ihren Beistand: »Du gehst doch bestimmt nicht arbeiten, wenn du erst verheiratet bist, oder? Würdest du weiter als Krankenschwester im Infirmary arbeiten?«

»Nein«, sagte Gwen leise. Dann sah sie Audra entschuldigend an, streckte die Hand aus und berührte ihren Arm. »Tut mir leid, Schätzchen, aber hierbei muss ich Vincent wirklich zustimmen. Und warum willst du auch wieder im Krankenhaus arbeiten? Es ist doch solch eine anstrengende Arbeit und bringt auch nicht viel ein.«

»Ich möchte meine Kenntnisse anwenden und nützlich sein.« Fest entschlossen, sich von Vincent nicht unterkriegen zu lassen, warf Audra ihm einen erregten Blick zu. »Und was zählt das Gerede der Leute? Du bist doch wirklich albern ...«

»Ich will nicht mehr darüber reden, Audra!«, fiel er ihr ins Wort. »Die Sache ist erledigt!« Und dann schlug er mit der Faust auf den Tisch, heftiger, als er es beabsichtigt hatte, sodass das Geschirr klapperte.

»Vincent, sei doch nicht so störrisch!« Audra war über seine Haltung und sein Benehmen so entsetzt, dass sie sich kaum noch beherrschen konnte. »Nur, weil ich mit dir verheiratet bin, lasse ich mich noch lange nicht von dir herumkommandieren und beherrschen. Ich möchte meine Laufbahn als Krankenschwester fortsetzen, und es ist auch mein gutes Recht ...«

»Nun geht das schon wieder los, Audra«, lachte Vincent sarkastisch. »Es ist das verdammte Gerede von Mrs Irène Bell, nicht von dir. In meinem Haus will ich nichts von ihren Frauenrechten und dem ganzen Suffragetten-Unsinn hören, Mädchen, das musst du dir ein für alle Mal merken!«

Audra hielt die Luft an und bemühte sich um Beherrschung. »Du bist so ungerecht, Vincent«, murmelte sie sanfter. Dann ergriff sie seine Hand in der Hoffnung, ihn beruhigen zu können, aber immer noch entschlossen, letztlich ihren Kopf durchzusetzen. »Du missverstehst alles, was ich gesagt habe.«

Er warf ihr einen kalten, mürrischen Seitenblick zu und schwieg.

Schüchtern lachend, sah Gwen von Audra zu Vincent hinüber und sagte dann: »Ich kann es gar nicht leiden, wenn ihr beiden euch hier so streitet. Kommt, gebt euch einen Kuss und vertragt euch wieder.«

Audra wusste, dass Vincent dies niemals von sich aus tun würde, und da sie wegen Gwens Anwesenheit dem Streit gern ein Ende setzen wollte, schob Audra ihren Stuhl zurück und stand auf. Dann legte sie ihm den Arm um die Schulter, beugte ihr Gesicht zu seinem herab und küsste ihn auf die Wange.

»Also gut, du kriegst deinen Willen«, sagte sie leise. »Nächste Woche gehe ich zum Krankenhaus und sage ihnen, dass ich die Stelle nicht antreten kann.« Aber dies war nur eine friedliche Geste. Sie meinte kein Wort von dem, was sie gesagt hatte, und war entschlossen, nicht nachzugeben.