Kapitel 17

Über der Ehe, die mit einer intensiven körperlichen Leidenschaft in der Hitze des Sommers angefangen hatte, lag im Dezember der Frost des Winters. Die Leidenschaft hatte sich beträchtlich abgekühlt.

Vincent und Audra lagen in den letzten Monaten des Jahres 1928 ziemlich oft über Kreuz, und ganz sicher war die Ruhe, die zu Anfang im kleinen Haus in der Pot Lane vorgeherrscht hatte, nun von ständigem Gezänk und stürmischen Auftritten abgelöst worden.

Seltsam daran war, dass sie sich in vielen Dingen glichen, und das war eine der Ursachen für ihre Schwierigkeiten. Beide waren störrisch, hartnäckig und unabhängig. Und so mussten sie zwangsläufig aufeinanderprallen. Auch waren beide immer der Ansicht, der andere sei im Irrtum und habe schuld. Sie waren jung und hatten kein Verständnis für die menschlichen Schwächen, und ebenso wenig konnten sie Kompromisse eingehen, die vielleicht dazu beigetragen hätten, die Spannungen zwischen ihnen zu mildern.

Vincent war zu diesem Zeitpunkt seines Lebens noch allzu sehr mit sich selbst beschäftigt, um weiter sehen zu können als bis zu seinen eigenen Wünschen und Interessen, und er verstand Audra eigentlich kaum.

Und erstaunlicherweise war sie, die sonst Menschen so gut einschätzen konnte, selten dazu imstande, seine Reaktionen richtig zu deuten. Audras Bild von Vincent Crowther sollte immer unklar und etwas schief bleiben, so sehr wurde sie dabei von den heftigsten Gefühlen beeinflusst.

Meist war Audra seinetwegen ganz aufgewühlt und wurde von widerstreitenden Empfindungen bestürmt. Es gab Zeiten, da sie glaubte, sie würde ihn bis zum Wahnsinn lieben, und andere Zeiten, in denen sie meinte, nichts als Hass für ihn zu empfinden. Und Vincent ging es ebenso, und er war genauso oft durcheinander, was Audra anging, wie sie es seinetwegen war.

Eine weitere Erschwernis der Beziehung war ihre jüngste Gewohnheit, sich über fast alles heftig zu streiten. Plötzlich konnten sie über nichts mehr ruhig und vernünftig sprechen, sodass am Ende keiner von den beiden länger wusste, was der andere wirklich dachte oder fühlte. Und die Zweifel, die sie beide an ihrer Ehe hatten, sowie ihre Unzufriedenheit mit dem anderen nahmen zu.

Manchmal gelang es ihnen, sich im Dunkel ihres Schlafzimmers wieder zu versöhnen, wenn sie – fast gegen ihren Willen – von der starken körperlichen Anziehungskraft bewegt wurden, die sie für einander ausstrahlten. Aber auch das wurde immer seltener, weil sich ihre Probleme immer häufiger dazwischenschoben, und weil besonders Audra ihren Ärger mit zu Bett nahm.

Seit September gab es eine ganze Reihe von Dingen, die sie Vincent übelnahm, und was sie am meisten erboste, war seine eiserne Weigerung, sie zur Krankenpflege zurückkehren zu lassen. Sie hatte mit ihm diskutiert, ihm geschmeichelt, mit ihm gestritten und gebettelt, um ihn die Dinge mit ihren Augen sehen zu lassen. Aber Vincent war ebenso unbeugsam geblieben wie an jenem Abend, als sie mit Gwen am Tisch gesessen hatten.

Schließlich war Audra diejenige gewesen, die nachgegeben hatte, da sie plötzlich begriffen hatte, dass er sie verlassen würde, wenn sie ihm Widerstand leistete und die Stelle im Krankenhaus anträte. Und sie konnte sich ein Leben ohne Vincent Crowther einfach nicht vorstellen, was immer sie auch für Probleme haben mochten. So hatte sie schließlich zugelassen, dass seine Wünsche vor ihren eigenen kamen, indem sie sich sagte, dass ihre Ehe wichtiger sei als ihre Arbeit. Und irgendwie hatte sie es auch geschafft, die meiste Zeit ein fröhliches Gesicht zu machen, das nichts von ihrer Enttäuschung und Wut über seine Dickköpfigkeit ahnen ließ.

Aber als Audra zum Calpher House gegangen war, um Mrs Bell mitzuteilen, was sich zugetragen hatte, waren ihr die Tränen in die Augen gestiegen und all ihr Kummer plötzlich herausgekommen.

Irène Bell war mitfühlend gewesen, wie sie es Audra gegenüber stets war, und hatte ihr Bestes getan, um sie zu trösten. Und was immer Mrs Bell auch über Vincents Haltung denken mochte, sie schwieg klug darüber. »Vielleicht wird er noch nachgeben«, hatte Mrs Bell gesagt und Audra aufmunternd zugelächelt.

Aber Audra wusste, dass er das nicht tun würde. Es lag nicht in Vincents Natur umzukehren. Oder zuzugeben, dass er im Unrecht gewesen war. Und wenn sie sich auch in vieler Hinsicht glichen, so teilte Audra diesen Zug nicht. Sie konnte immer erkennen und offen eingestehen, wenn sie sich geirrt oder falsch gehandelt hatte.

Und als sie an diesem rauen Nachmittag zu Beginn des Dezembers die Pot Lane entlangeilte, sagte sie sich gerade, wie falsch sie alles gemacht hatte. Wie falsch es gewesen war, ihn überhaupt zu heiraten, und falsch, bei ihm zu bleiben, wie sie es getan hatte, immer im unklaren darüber, was sie tun sollte, immer unentschlossen. Sie hätte schon damals, als alles aus dem Lot geriet, damals im August schon, ihre Sachen packen und ihn verlassen sollen.

Nun, das holte sie jetzt nach. Es gab keinen Weg zurück.

Sie ergriff ihren kleinen Koffer und biss die Zähne zusammen, schob das entschlossene Kinn vor. Der Entschluss war gefasst. Endlich. Sie hatte Vincent Crowther verlassen und nicht die geringste Absicht, wieder zurückzukommen.

Tief im Innersten wusste Audra, dass sie Vincent immer noch liebte. Sie nahm an, dass sie ihn wohl immer lieben würde. Aber sie war zu der Einsicht gelangt, dass Liebe nicht ausreichte, um eine Beziehung zu halten. Zwei Menschen mussten in der Lage sein, ein harmonisches Leben miteinander zu führen, wenn eine Ehe funktionieren sollte. Und offenbar waren Vincent und sie dazu nicht imstande. Sie zerrissen sich gegenseitig mit zornigen, verletzenden Worten, die sich hinterher nicht gut ungeschehen machen ließen.

Gestern Nacht hatten sie einen besonders heftigen Streit miteinander gehabt, ihren schlimmsten bisher, der Audra verzweifelt und zitternd zurückgelassen hatte.

Vor einer Stunde hatte sie noch in der Wohnküche gestanden und das letzte seiner Hemden gebügelt, als sie plötzlich das Eisen mit einem Knall auf den Untersetzer fallen ließ, plötzlich sicher, was zu tun war. Dann hatte sie schnell die Bügelsachen weggeräumt, sich umgezogen, einen Koffer gepackt, ihre mageren Ersparnisse genommen und das Häuschen verlassen.

Als sie den Schlüssel im Schloss umdrehte, fiel ihr Blick auf die Nummer achtunddreißig, die an die grüne Tür gemalt war, und sie sah sie lange an und verspürte einen merkwürdigen Schmerz in der Brust. Dann legte sich eine ungeheure Trauer über sie, und sie lehnte den Kopf gegen die steinerne Einfassung der Tür, schloss die Augen und dachte an die vergangenen Monate in diesem Haus. Wenn es auch ganz einfach und gewöhnlich aussah, war dieses bescheidene kleine Haus doch ein Palast für sie gewesen. Es war ihr erstes eigenes Zuhause und enthielt nicht nur all die Dinge, die sie besaß, sondern auch gewissermaßen ihr Leben. Ihre Träume und Zukunftshoffnungen verbargen sich innerhalb dieser Wände. Sie hatte geglaubt, dass sich alle hier mit Vincent erfüllen würden, dass sie eine eigene Familie gründen, ein gemeinsames Leben aufbauen würden. Aber so sollte es nicht sein – zumindest kam es ihr jetzt so vor.

Dann unterdrückte Audra diese Gedanken, wagte nicht, sich ihnen hinzugeben. Nachdem sie den Schlüssel unter die Fußmatte gesteckt hatte, nahm sie ihren Koffer und lief fast aus der Sackgasse heraus auf die Straße.

Während sie auf die Straßenbahnhaltestelle von Whingate zuging, versuchte sie immer noch, jene Traurigkeit zu vertreiben, jene schreckliche Niedergeschlagenheit, die sie ergriffen hatte. Aber sie war machtlos dagegen. Ihre Träume waren zerbrochen, ihre Hoffnungen ausgelöscht, und jenes Verlustgefühl, das sie von früher her sehr wohl kannte, hatte sich erneut gewaltig erhoben. Sie hatte wieder verloren. Ihren Mann verloren, ihr gemeinsames Leben verloren, ihre Zukunft verloren.

Audras Schritte wurden langsamer, und den Bruchteil einer Sekunde überlegte sie es sich beinahe anders und wollte wieder zum Häuschen zurückgehen. Aber irgendetwas in ihr sagte nein, und so marschierte sie entschlossen vorwärts.

Das Wetter, das den ganzen Tag lang schlecht gewesen war, verhieß nun Unheil.

Eine bleifarbene Lasur lag über dem Himmel, und die Landschaft ringsum war öde und bar jeglicher Farbe. Mit den vielen Grautönen ähnelte es einem Grisaille-Bild, und die nackten, schwärzlichen Bäume hoben sich scharf ab, standen wie Metallskulpturen vor dem niedersinkenden Himmel.

Es hatte angefangen zu nieseln. Das leise Dröhnen des noch fernen Gewitters hallte wie Kanonendonner über die nahen Felder, die sich in langer, fließender Linie bis nach Old Farnley erstreckten. Ein Sturm stand bevor, und der Wind peitschte über Hill-Top.

Audra stand gegen das Geländer des Charlie Cake Parks gekauert und suchte so gut es ging Schutz, während sie auf die Straßenbahn von Leeds wartete. Sie hatte sich schon lange verspätet.

Zitternd zog sich Audra den dicken Wollschal enger um den Hals und stampfte mit den Füßen, um sich warmzuhalten. Die Küche im kleinen Haus, mit ihrem den Kaminschacht hoch emporlodernden Feuer, war so kuschelig und gemütlich gewesen, dass sie vorhin gar nicht gemerkt hatte, wie unfreundlich es draußen war. Dann trat sie vor und sah über die Town Street hin. Die Hauptstraße war seltsam leer; die wenigen Fußgänger, die bei diesem Wetter unterwegs waren, hatten es offenbar eilig, ihr Zuhause zu erreichen, bevor der Sturm richtig losging.

Scheußliches Wetter, dachte Audra, passt genau zu meiner Stimmung. Seufzend zog sie sich in die Nische zwischen dem Parkgeländer und dem Unterstand des Polizisten zurück. Sie hatte sich dazu entschlossen, Vincent zu verlassen, und vermisste ihn schon. Wie verdreht ich doch bin, dachte sie und verstand sich selbst nicht mehr. Und dumm wie ich bin, kann ich mir über ihn immer noch nicht klar werden. Aber ich habe die rechte Entscheidung getroffen. Das weiß ich. Tatsächlich? Tatsächlich?

Audra schlang ihre Arme um ihren Körper und versuchte, nicht an ihn zu denken oder sich sein Gesicht vorzustellen, wenn er heute Abend heimkam, den Brief fand und merkte, dass sie gegangen war. Sie schob die Hände unter die Achseln, um noch etwas mehr Wärme abzubekommen, und trampelte weiter mit den Füßen. Die Kälte drang ihr bis in die Knochen, und sie spürte, wie die Feuchtigkeit durch ihren Meltonmantel zog.

Ungefähr zwanzig Minuten später hörte sie, wie die Straßenbahn ratternd auf der anderen Seite des winzigen, keilförmigen Parks hielt und bemerkte die Stimmen und Schritte der Aussteigenden. Erleichtert nahm sie ihren Koffer und eilte vorwärts, um hart mit einer jungen Frau zusammenzustoßen, die in halsbrecherischem Tempo um die Ecke bog.

Beide fanden ihr Gleichgewicht wieder, fingen an, sich zu entschuldigen und hielten mitten im Satz inne, als sie einander im trüben Spätnachmittagslicht erkannten. Audra starrte in das hübsche Gesicht ihrer Schwägerin, die ihre engste Vertraute innerhalb des Crowther-Clans war. Das Herz wurde ihr schwer.

»Audra! Was machst du denn hier?«, wollte Laurette wissen und strahlte sie herzlich an.

»Muss die Straßenbahn kriegen«, murmelte Audra und wollte sich davonschleichen.

Stirnrunzelnd entdeckte Laurette den Koffer. »Wo willst du denn hinfahren?«

»Weiß ich noch nicht«, antwortete Audra wahrheitsgemäß und platzte dann heraus: »Irgendwohin, wenn es nur weit weg von Vincent ist.«

»Wie meinst du das?« Laurette sah sie scharf an, sie wurde hellhörig.

»Ich verlasse ihn.«

Laurette hielt den Atem an und riet dann: »Nein. Audra, sag das nicht. Du kannst ihn doch nicht verlassen.«

»Und ob ich das kann.«

»Aber wohin willst du denn gehen? Du weißt doch, dass du nirgendwohin kannst. Wir sind doch die einzige Familie, die du hast.«

Audra überging diese Bemerkung und improvisierte schnell: »Ich kann immer noch ins Fever Hospital von Ripon gehen.« Dann nickte sie in der Erkenntnis, dass dies richtig war. »Oberin Lennox wird schon etwas für mich finden. Ich bin mir ganz sicher.«

»Audra, hör mir doch mal zu! Bitte tue nichts, was dir hinterher vielleicht leid tut. Überleg es dir noch mal ... zumindest für heute. Es ist schon vier, und das Wetter ist scheußlich. Bis du in Leeds bist, hast du den letzten Zug nach Ripon verpasst. Komm, meine Liebe, lass uns zurück zum Häuschen gehen und über alles reden«, bat Laurette und ergriff Audras Arm.

»Bitte lass mich los, Laurette.« Audra versuchte, die Hand ihrer Schwägerin abzuschütteln, aber Laurette hatte einen festen Griff. »Laurette, bitte! Das ist doch lächerlich. Ich werde bestimmt nicht zurück ins Häuschen gehen.«

»Dann gehen wir eben zu meiner Mutter ... das ist doch nur fünf Minuten von hier. Los, Audra, sei doch nicht so stur. Du zitterst, dein Gesicht ist beinahe blau vor Kälte, und du wirst dir hier noch den Tod holen.«

»Aber was soll ich im Haus deiner Mutter? Ich habe meinen Entschluss gefasst und werde ihn auch nicht wieder rückgängig machen. Ich verlasse Vincent.«

Laurette rückte dichter an sie heran und legte ihr den Arm um die Schultern – liebevoll, fast beschützend. Dann sagte sie leise und zutraulich: »Sieh mal, ich will gern zugeben, dass ich anfangs gegen eure Ehe war, aber nun, wo ihr verheiratet seid, finde ich, dass du und unser Vincent versuchen solltet, eure Schwierigkeiten zu bewältigen ...«

»Wie kannst ausgerechnet du mir so etwas sagen!«, explodierte Audra und betrachtete Laurette entgeistert. »Schließlich befindest du dich gerade mitten in einer Scheidung.«

»Ja, das weiß ich, aber das ist etwas anderes. Du und Vincent, ihr liebt euch. Jimmy und ich haben das nicht getan, nicht wirklich.«

»Liebe allein ist nicht immer genug.«

»Aber sie ist ein Fundament, auf dem man ein Leben errichten kann, Audra, wirklich.«

»Ich habe wochenlang über alles nachgedacht, und ich lasse mich hier nicht einfach zu etwas überreden, das ich gar nicht will.« Audra stockte plötzlich, als eine Glocke erklang und die Straßenbahn die Gleise hinabrollte, Leeds entgegen.

Verzweifelt sah Audra ihr nach, dann drehte sie sich zornig zu Laurette um. »Nun sieh dir an, was du angerichtet hast! Durch deine Schuld habe ich jetzt meine Straßenbahn verpasst! Und es wird mindestens eine halbe Stunde dauern, bis die nächste kommt!«, klagte sie und brach dann vor Ärger und hilfloser Wut in Tränen aus.

Die Fülle von Rosen an den Wänden, auf dem Fußboden und auf dem Porzellan im Geschirrschrank wirkte an diesem kalten Winternachmittag prächtiger denn je. Es war, als leuchteten sie so lebendig wie echte Blumen im Widerschein des Feuers, das wie ein Hochofen im Kamin dröhnte und eine unglaubliche Hitze verbreitete.

Eliza Crowthers Küche atmete eine willkommen heißende Wärme und Fröhlichkeit. Es duftete nach dem frisch gebackenen Brot, den Mincepies und den Teekuchen, die gerade auskühlten, nach den schärferen Aromen von Nelken, Zimt, Muskat und anderen indischen Gewürzen, die sich mit dem fruchtigen Geruch von Zitronat, Sultaninen und ägyptischen Datteln vermischten.

Eliza Crowther hatte gerade gebacken, was sie freitagnachmittags meist tat, Sommer wie Winter. Aber heute war sie fleißiger gewesen als sonst. Es waren nur noch drei Wochen bis Weihnachten, und sie hatte schon begonnen, die Festtagsspeisen für ihre große Familie zuzubereiten. Gewandt bewegte sie sich zwischen dem Tisch unter dem Fenster und dem Spülstein hin und her, wo sie jetzt gerade stand und ihre schmutzigen Rührschüsseln und Löffel hineinstellte und hinter sich saubermachte. Bald würde sie anfangen, den Tee für diejenigen ihrer Familienmitglieder zu bereiten, die noch zu Hause wohnten, und sie hatte es gern blitzblank in ihrer Küche, bevor sie eine neue Aufgabe in Angriff nahm.

Man sah Eliza, einer Frau von mittlerer Größe und Statur, jedes ihrer neunundvierzig Jahre an. Das lag besonders an der schlichten Art, wie sie sich kleidete, und ihrer strengen Frisur – die Haare waren glatt nach hinten gekämmt und zu einem Knoten geschlungen. Auch hatte sie seit der Geburt ihres letzten Kindes Danny an Gewicht zugenommen. Aber ihr Gesicht war angenehm und sympathisch und ihre blassblauen Augen hell und lebendig – und kühl abschätzend.

Und genauso, wie sich nichts Künstliches an ihrer Aufmachung fand, gab es auch nichts davon in ihrem Benehmen. Sie ließ sich von niemandem etwas vormachen und war stolz darauf, eine hart arbeitende Frau aus Yorkshire zu sein, die mit beiden Beinen auf der Erde stand. Sie redete schlicht und direkt, manchmal sogar etwas unverblümt, und hatte für beinahe alles im Leben ein Sprichwort oder eine Redensart parat, mit denen sie ihre Ansprachen freigebig würzte.

Nachdem sie ihre Kochgeräte gespült und abgetrocknet hatte, ging Eliza zum Ofen hinüber, um nach ihren Weihnachtskuchen zu sehen, den Dattelbroten und dem enormen Schinken-und-Ei-Auflauf, den sie zum Tee buk. Befriedigt stellte sie fest, dass alles sehr nette Fortschritte gemacht hatte, und kehrte dann zum Tisch am Fenster zurück, schraubte die Deckel der Gläser mit Trockenfrüchten zu, die sie gerade für die Kuchen benutzt hatte.

Da sie um diese Zeit niemanden erwartete, sah sie überrascht auf, als plötzlich die Eingangstür aufging.

Laurette kam hereinspaziert, gefolgt von Audra. Sie sahen eingefallen und verfroren aus und zitterten vor Kälte.

»Du bist ja früh zurück, Schatz«, sagte Eliza zu Laurette. »Es ist doch nichts passiert auf der Arbeit?«

»Ach nein, Mam, es ist doch mein kurzer Freitag heute, hast du das denn vergessen?«

»Ach so, ja.« Eliza blickte zu ihrer Schwiegertochter herüber. »Hallo, Audra.«

»Guten Tag, Mrs Crowther.«

Dann wandte Eliza sich wieder ihren Gläsern zu und schloss die letzten Deckel. Ihr war der Koffer aufgefallen, den Audra trug, aber sie beschloss, nichts zu sagen. Laurette schob diesen schnell in den Kleiderschrank, als wolle sie ihn verstecken. Da braut sich was für Vincent zusammen, dachte Eliza, sagte aber: »Wenn du deinen Mantel ausgezogen hast, Laurette, setz doch bitte eine Kanne Tee auf, und du, Audra, komm hierher ans Feuer, und wärm dich erst einmal auf. Ihr seht ja ganz steifgefroren aus.«

Beide jungen Frauen taten schweigend, was man ihnen geboten hatte.

Laurette freute sich, dass es ihr gelungen war, Audra hierher mitzunehmen. Es war zwar nicht ihre Absicht gewesen, sie die Straßenbahn verpassen zu lassen, aber schließlich war es doch gut so. Zugänglich wie sie war, hatte Laurette Audra inzwischen sehr ins Herz geschlossen, und die Vorstellung, dass ihre Schwägerin in dieser bitteren Kälte durch die Straßen von Leeds irrte, war mehr gewesen, als sie ertragen konnte. Wenn sie heute Nacht nicht in die Pot Lane zurückgehen will, kann sie in meinem Zimmer schlafen, dachte Laurette und machte sich mit der Teedose zu schaffen. Und dann werde ich mal ein deutliches Wörtchen mit meinem Bruder reden, sobald sich eine Gelegenheit bietet. Wir haben ihn zu sehr verwöhnt, Mam und Olive und ich. Und sogar die kleine Maggie tanzt immer nach seiner Pfeife. Bestimmt ist er kein einfacher Ehemann und das Zusammenleben mit ihm schwierig.

Audra saß zusammengekauert in einem der mit grünem Mokett bezogenen Armsessel und sah bedrückt ins Kaminfeuer. Erst war sie wütend darüber gewesen, dass sie Laurette nachgegeben hatte, aber nun musste sie sich eingestehen, dass sie froh war, im Warmen sitzen zu können. Die Feuchtigkeit war ihr bis in die Knochen gedrungen, und sie fror immer noch schrecklich, trotz des großen Feuers.

Wie stets im Winter zischte und dampfte der Wasserkessel auf dem Kaminvorsprung, und Laurette füllte die große braune Teekanne mit kochendem Wasser, drehte sich um und stellte sie auf den Tisch, der mitten im Zimmer stand.

Dann setzte sie sich, sah zu ihrer Mutter hinüber und fragte: »Wo sind denn Maggie und Danny? Es ist doch schon nach vier, sie müssten doch inzwischen aus der Schule sein, oder?«

»Nein, heute nicht. Sie sind in den Gemeindesaal gegangen, um wegen des Märchenspiels der Sonntagsschule nachzufragen. Die beiden wollen so gern mitmachen, dass ich ihnen gesagt habe, sie dürften für die Rollen vorsprechen. Dies Jahr ist es Aschenbrödel.«

»So wie ich Maggie kenne, wird sie die Hauptrolle spielen wollen oder gar nichts«, lachte Laurette. »Nun aber los, Mam, trink deinen Tee, ehe er kalt wird.«

Eliza setzte sich zu ihnen vor den Kamin.

Sie nahm im anderen Armsessel Platz, trank einen Schluck Tee und richtete dann ihre Aufmerksamkeit auf die Schwiegertochter. »Na, Audra, mein Mädel, was ist denn das jetzt alles? Ich habe den Koffer wohl gesehn, weißt du. Läufst du weg, oder willst du hierherziehen?«

Audra errötete und biss sich auf die Lippen. Dennoch schwieg sie, da sie sich Vincents Mutter nicht anvertrauen wollte.

Laurette kam ihr zu Hilfe. »Ich habe Audra an der Straßenbahnhaltestelle getroffen, Mam. Sie sah ganz aufgelöst aus und sagte, sie wolle Vincent verlassen und ginge zurück nach Ripon, um dort im Krankenhaus zu arbeiten. Aber während wir noch dastanden, verpasste sie die Bahn nach Leeds, und da habe ich sie überredet, mit nach Hause zu kommen.«

»Aha.« Eliza richtete sich auf und sah ihre Schwiegertochter streng und stirnrunzelnd an. »Was ist denn das für ein Unsinn, Mädchen?«

»Es ist kein Unsinn!«, rief Audra entrüstet, und bevor sie sich noch bremsen konnte, brach es aus ihr heraus: »Vincent hat sich sehr schlecht aufgeführt in den letzten Monaten! Er behandelt mich nicht anständig, und es gibt keinen Grund, warum ich noch länger bei ihm bleiben sollte!«

»Er hat dich bestimmt nicht geschlagen«, sagte Eliza fest, da sie genau wusste, dass ihr Sohn niemals eine Frau schlagen würde, auch nicht, wenn man ihn ernsthaft provozierte. »Also was willst du damit sagen, Mädchen? Erklär uns das mal.«

Audra, die wusste, dass es jetzt kein Entrinnen mehr gab, holte tief Luft und sagte dann etwas ruhiger: »Er lässt mich in der letzten Zeit viel allein, das wissen Sie doch auch, Mrs Crowther. Er sitzt dauernd im Pub mit seinen Brüdern oder Freunden oder wettet im Büro des Buchmachers, und ich finde das nicht richtig von ihm. Ebenso gut könnten wir nicht verheiratet sein, so wenig, wie wir uns sehen.«

Eliza seufzte und schüttelte den Kopf. »Aber so ist das nun mal bei uns, so ist das in der Arbeiterklasse, Audra. Unsere Männer müssen hart arbeiten, körperlich arbeiten, und sie entspannen sich, erholen sich, indem sie auf ein Halbes in das Pub gehen, ein bisschen Darts spielen und mit ihren Kumpels ein paar Witze machen. Und was ist dabei, wenn sie ein paar Münzen auf irgendein Pferd setzen und ab und zu mal ein bisschen wetten? Du wirst Vincent doch nicht diese harmlosen Vergnügungen neiden.«

»Nein, natürlich nicht. Es ist bloß, dass ich gern meine Freizeit mit ihm zusammen verbringen würde, schließlich bin ich doch seine Frau. Aber er geht allein ins White Horse, mehrmals in der Woche, und am Wochenende verschwindet er auch immer. Er überlässt mich mir selbst, und ich fühle mich einsam.«

»Ja, das versteh’ ich schon, aber ich habe dir ja eben gesagt, dass es nun mal so ist und immer sein wird, nun, wo ihr zwei verheiratet seid. Wenn man sich kennenlernt, ist alles anders, da ist alles eitel Sonnenschein. Aber wenn ein Mann erst den Ehering auf deinen Finger gesteckt hat, ist er verändert, Audra, damit musst du dich abfinden. Wirklich, Kleines. Alle Ehen sind gleich, und du wirst das alles nicht mehr so merken, wenn erst ein paar kleine Rangen an deinen Röcken hängen. Die werden schon deine Zeit mit Beschlag belegen, das kannst du mir glauben, und dann wirst du froh sein, wenn du Vincent ein bisschen los bist.«

Audra kniff gereizt den Mund zusammen. »Ich habe jetzt noch nicht die Absicht, Kinder zu bekommen, Mrs Crowther. Ich möchte gern in die Krankenpflege zurückkehren, aber das ist ein weiteres Problem zwischen uns, weil Vincent nicht will, dass ich wieder arbeite.«

Eliza war entsetzt. »Das will ich wohl meinen!«, rief sie entgeistert. »Wie konntest du ihm so etwas vorschlagen! Er würde sich gedemütigt vorkommen, wie ein halber Mann, wenn seine Frau arbeiten ginge. Was sollen denn die Leute denken? Und was würden seine Freunde sagen?«

»Das weiß ich nicht, und es ist mir auch egal! Und wir könnten das Geld, das ich als Krankenschwester verdienen würde, wirklich gebrauchen!«, wehrte sich Audra, die ihren Zorn nicht länger bändigen konnte. »Gestern Abend hatten Vincent und ich den schlimmsten Streit unserer Ehe. Es war wirklich schrecklich, fast handgreiflich. Und es ging um Geld. Ich habe festgestellt, dass wir Schulden haben, eine Menge Schulden, Mrs Crowther, und das liegt an Vincent, nicht an mir, also schauen Sie nicht mich so vorwurfsvoll an. Er ist losgezogen und hat ohne mein Wissen Möbel auf Raten gekauft, bei Wigfalls in Leeds. Dazu hatte er gar nicht das Recht.«

»Was hat er denn gekauft?«

»Das Ledersofa, den Kleiderschrank und das Bett.«

»Und wieso tust du so überrascht? Du wusstest doch, dass ihr diese Sachen besitzt, sie stehen doch bei euch zu Hause, oder etwa nicht, Mädel?«

»Das schon, aber ich wusste ja nicht, dass er sie auf Raten gekauft hatte – ich dachte, er hätte sie bar bezahlt. Und ich weiß das überhaupt nur, weil Vincent ein paar Zahlungen versäumt hat und Wigfalls uns einen üblen Brief geschrieben haben, den ich aufgemacht habe, als er gestern mit der Post kam. Und offenbar ist es nicht der erste Brief, den sie ihm geschrieben haben.« Audra schüttelte den Kopf, ihr Gesicht sah ratlos aus. »Wir brauchen das Geld so dringend, und trotzdem geht Vincent trinken und spielen, als hätte er gar keine Sorgen auf der Welt. Und er will nicht, dass ich zum Krankenhaus zurückgehe. Es ist einfach absurd ... sein Stolz steht ihm überall im Wege, und das ist doch dumm von ihm.«

»Ich bin sicher, dass es einen guten Grund dafür gibt, dass er ein paar Zahlungen versäumt hat«, verteidigte Eliza sofort ihren Liebling, ihren Sturmvogel. »Vincent hat Geld auf der Bank, das weiß ich genau.«

»Hat er nicht, Mrs Crowther. Er hat seine Ersparnisse für die Hochzeitsgarderobe ausgegeben, für unsere Flitterwochen in Robin Hood’s Bay und für andere Sachen im Häuschen. Ich habe ihm mein Erspartes angeboten und gesagt, dass ich gern etwas vom Schmuck meiner Mutter verkaufen würde, um dazu beizutragen, dass wir von unseren Schulden herunterkommen, aber er wollte nichts davon hören.«

»Weil er eben deine Hilfe nicht braucht«, rief Eliza verärgert. »Er hat bestimmt noch irgendwo einen Notgroschen, und wie ich meinen Sohn kenne, wird er nur noch bockiger, wenn du versuchst, ihn festzunageln. Überlass doch ihm diese Sachen, Audra, und misch dich da nicht ein. Schließlich ist er doch der Mann im Haus.« Eliza kniff die Augen zusammen und sagte: »Überhaupt bin ich sicher, dass du aus einer Mücke einen Elefanten machst, es ist immer dasselbe mit den Ehen, deine ist bestimmt auch nicht anders als die übrigen. Zumindest läuft er nicht anderen Frauen nach, und dafür solltest du dankbar sein. Nimm meinen Rat an, und gib dir ein bisschen mehr Mühe, versuche, Vincent besser zu verstehen.«

Vollkommen fassungslos sah Audra ihre Schwiegermutter an. Offenbar gab diese Frau ihr an allen Schwierigkeiten die Schuld und sprach Vincent frei. Plötzlich fühlte sie sich erschöpft und unverstanden. »Ich habe mir Mühe gegeben ... ich weiß, dass Sie mich nicht mögen, aber ich bin kein schlechter Mensch ...« Dann fing Audras Mund an zu zittern, und sie wandte den Kopf zur Seite, als ihr die brennenden Tränen in die Augen traten.

Eliza rief ganz überrascht: »Nein, Audra, mein Mädchen, sag doch so was nicht! Ich mag dich, hab’ dich immer gemocht, und ich finde, dass du eine prächtige junge Frau bist.«

»Tatsächlich?« Audra schluckte die aufsteigenden Tränen hinunter. »Aber Sie haben sich nie so verhalten, als ob Sie mich gern hätten, wirklich nicht, Mrs Crowther. Und Sie waren doch auch gegen unsere Heirat, oder nicht?«

»Das ist richtig, das war ich«, gab Eliza ruhig zu. »Aber nur, weil du aus einer anderen Welt als der unsrigen stammst. Ich war mir sicher, dass du und unser Vincent schließlich andere Dinge im Leben wollt, und da habe ich mich doch auch nicht getäuscht, oder?«

Audra biss sich auf die Lippen. »Ich weiß nicht, ich bin ein bisschen durcheinander.«

Eliza nickte. »Ja, das bist du, und grad deshalb solltest du nichts Übereiltes tun, womöglich unseren Vincent verlassen.«

»Aber wenn Sie auch meinen, dass unsere Ehe nicht funktionieren wird, warum wollen Sie dann, dass ich bei ihm bleibe?«

»Wir sind anständige Leute, und eine Scheidung in der Familie reicht«, murmelte Eliza und sah aus den Augenwinkeln zu Laurette hinüber. Dann räusperte sie sich. »In Eile geheiratet, in Muße bereut, das hab’ ich unserem Vincent auch gesagt. Aber er wollte nicht auf mich hören, und du wohl auch nicht, auf deine Freunde, meine ich. Na, und da ständen wir nun. Ihr beiden habt euer Bett gemacht, und nun müsst ihr auch drin liegen, ob nun die Matratze uneben ist oder nicht.« Dann beugte sie sich vor und sah Audra scharf an: »Es ist immer die Frau, an der das Gelingen einer Ehe hängt, nie der Mann. Das darfst du niemals vergessen, Mädel.«

»Aber das ist doch nicht gerecht!«, rief Audra, die ihre Empörung nicht länger verbergen konnte.

Eliza lachte wegwerfend. »Wer hat denn gesagt, dass ein Frauenleben gerecht ist? Bestimmt nicht für die Frauen aus meiner Schicht.« Dann lachte sie wieder und schüttelte den Kopf. »Ach, Audra, glaub mir, dass es mit Vincent und dir besser klappen wird, wenn sich Nachwuchs einstellt und du etwas Kleines hast, was du lieben und worum du dich kümmern kannst.«

»Aber ich möchte mehr mit meinem Leben anfangen, Dinge erreichen, glücklich sein ...«

»Glücklich«, rief Eliza heftig und schaute Audra an, als hätte diese eine Obszönität zum Besten gegeben. »Das ist ein Wort, welches du besser vergisst, mein Mädel, und zwar schnell. Sei einfach dankbar dafür, dass du ein Dach über dem Kopf hast, was im Magen und einen guten Mann, der für dich sorgt. Glück, das ist nicht für solche wie uns, Audra, das ist was für den Adel, für die Reichen, die Zeit zum Glücklichsein haben und es sich leisten können. Wir können das nicht.«

Wie trostlos sie alles sieht, dachte Audra und wandte sich Laurette zu. Die beiden wechselten einen wissenden Blick, dann zuckte Laurette die Achseln. Sie richtete sich auf und zog die Luft ein. »Mam, brennt hier irgendwas an?«

»O Gott, das Weihnachtsgebäck und der Auflauf für euren Vater zum Tee!« Eliza sprang auf, griff ein Tuch und riss die Ofentür auf. Dann fing sie an, ihre Backformen herauszuziehen, und rief Laurette über die Schulter zu: »Steh da nicht herum und sieh mir zu, Mädchen, hol dir ein Handtuch und hilf mir. Und Audra, du machst bitte etwas Platz frei auf dem Kaminvorsprung.«

Laurette und Audra kamen ihr zur Hilfe, und innerhalb von Sekunden waren die Weihnachtskuchen, die Dattelbrote und der Schinken-Ei-Auflauf zum Abkühlen ausgebreitet. Elizas kritischer Blick schweifte über sie hin, und dann nickte sie glücklich, als sie feststellen konnte, dass nichts angebrannt war.

»Ich bin’s nur, Mam!« Die Tür flog auf, und Vincent kam hereingestürmt, wobei er sich die Mütze vom Kopf zog. Als er Audra entdeckte, zog er überrascht die Augenbrauen hoch. »Was machst du denn hier, Liebes?«, fragte er mit der zärtlichsten Stimme und strahlte sie an.

Als hätte es die letzte Nacht nie gegeben, dachte Audra und sah ihn stumm an, staunte über seine Fähigkeit, alles abzuschütteln. Wirklich bemerkenswert, diese Lässigkeit. Es ärgerte sie.

»Sie trinkt hier grad einen Tee«, sagte Laurette schnell. »Wir sind uns in der Town Street begegnet, und ich hab’ sie überredet, doch noch auf einen Sprung mit zu uns zu kommen.

»Ach so.« Er fing an, seinen Mantel aufzuknöpfen und wollte zur Garderobe gehen.

Laurette kam ihm hastig zuvor. »Lass mich das machen, Vincent«, sagte sie und nahm ihm den Mantel ab. »Geh schon ans Feuer und wärm dich auf. Du siehst ja ganz verfroren aus.«

Sie will nicht, dass er den Koffer entdeckt, dachte Eliza, die ihre Kinder beobachtete. Aber er muss ihn ja doch irgendwann sehen. Dann seufzte sie und ging zu ihren Kuchen zurück.

»Danke, Laurette«, sagte Vincent, der sich die kalten Hände rieb, und schritt durch das Zimmer. »Ich hätte auch nichts gegen einen Schluck Tee einzuwenden.«

»Sofort«, sagte seine Schwester und ging zum Geschirrschrank hinüber. Sie kam mit einer Tasse und Untertasse zurück, ergriff die Teekanne und goss ihm ein.

Einen Augenblick später flog wieder die Tür auf, und Danny rannte in die Küche, gefolgt von der gesetzteren Maggie, die sich an diesem Nachmittag sehr erwachsen und bedeutend vorkam.

»Wir haben die Rollen gekriegt! Wir haben die Rollen gekriegt!«, rief Danny ins Zimmer, an alle gerichtet, und warf dann Mütze und Schal auf das Sofa. Sein Mantel kam hinterdrein, dann flitzte er zum Vogelkäfig in der Ecke. »Ich bin wieder da, Flyaway«, gurrte er. Liebevoll blickte er den kleinen Vogel an, den Vincent für ihn gekauft und auch getauft hatte.

»Danny, häng sofort deine Sachen auf«, rief Eliza ihrem Jüngsten zu.

»Ja, Mama, gleich.«

Maggie, die gerade ihren eigenen Mantel auszog, sagte: »Ach lass, das mach ich schon, Mutter.«

»Und was für eine Rolle hast du gekriegt, Knirps?«, fragte Vincent den Kleinen, als der einen Moment später an seinem Knie stand.

Danny sah zu seinem hübschen älteren Bruder empor und lächelte selig. »Ich werde ein Page sein. Ich brauche nichts zu sagen, aber ich muss ein schönes rotes Samtkissen tragen, auf dem der gläserne Schuh liegt.«

Vincent fuhr ihm durchs Haar. »Das ist ja großartig, mein Junge.«

Dann kam Maggie zu Laurette und Vincent an den Tisch, setzte sich zwischen sie und lächelte verschmitzt. »Aber ich hab’ eine Sprechrolle, eine große Rolle. Ich werde eine der hässlichen Schwestern sein.«

»Welch passende Besetzung!«, rief Vincent und brüllte vor Lachen.

»Du bist ein Ekel, Vincent!«, kreischte Maggie und stieß ihn hart an. »Und wenn ich hässlich bin, bist du’s auch, denn alle sagen, wir sähen uns völlig ähnlich.« Sie stieß ihn noch einmal.

Er packte ihre Handgelenke und hielt sie eisern fest.

»Schluss ihr beiden, es reicht jetzt!«, rief Eliza. »Euer Dad kann jede Minute nach Hause kommen, und dann will er ein bisschen Ruhe und Frieden nach seinem harten Tag.«

Eliza ging zum Schrank hinüber und nahm zwei der größten Servierplatten heraus. »Und ihr solltet dableiben, Audra und Vincent. Es ist genug da für alle. Zuerst gibt es Schinken-und-Ei-Auflauf, und gestern habe ich uns eine schöne Zunge in Aspik vorbereitet.« Sie sah zu Audra hinüber. »Wollt ihr hierbleiben?«

»Das soll Vincent entscheiden«, murmelte Audra.

»Natürlich bleiben wir hier, Mam, warum denn nicht?« Er holte seine Woodbines heraus und steckte sich eine an.

Audra ließ sich dankbar in den Armsessel zurücksinken und sah mit abwesender Miene in die Flammen.

Lieber war sie hier als allein mit ihm im Häuschen, wo sie sich bestimmt streiten würden. In wenigen Minuten würden seine Brüder Jack und Bill von der Arbeit kommen, und dann würde es laut werden, wie meist, wenn sie alle zusammen waren. Doch wenn der Crowther-Clan auch manchmal raubeinig war, wusste sie doch, dass sie alle ein gutes Herz hatten.

Oft fühlte sich Audra von ihnen überwältigt, und manchmal bemerkte sie, dass man sie befremdet anschaute. Sie spürte, dass die Familie sie für arrogant hielt, und manchmal waren sie ihr gegenüber auch misstrauisch. Aber nicht Laurette und Mr Crowther. Die beiden waren ihre Freunde, und Audra war sicher, dass sie sie aufrichtig gern hatten, und sie erwiderte dieses Gefühl. Die zwei würde sie vermissen, wenn sie wieder in Ripon war. Denn trotz allem, was seine Mutter gesagt hatte, wollte Audra Vincent immer noch verlassen. Morgen wollte sie fahren.

»Wie konntest du nur? Wie konntest du meiner Mutter und Laurette was vorklatschen!«, schäumte Vincent, sobald sie das Häuschen in der Pot Lane erreicht hatten.

Dann sagte er, wobei er sie wütend anstarrte: »Ich wollte meinen Ohren nicht trauen, als Laurette mich nach dem Tee mit ins Wohnzimmer nahm und mir erzählte, wie sie dich davon abgehalten hatte, wegzulaufen und mich zu verlassen. Es ist verdammt peinlich, weißt du das überhaupt!«

»Ich habe ihnen nichts vorgeklatscht«, sagte Audra beherrscht und rührte sich kaum. Sie war fest entschlossen, sich nicht von ihm in Wut bringen zu lassen wie in der Nacht zuvor. »Laurette hat dir ja gesagt, wie es gekommen ist. Wenn ich ihr an der Straßenbahnhaltestelle nicht vollkommen zufällig begegnet wäre, hätten weder sie noch deine Mutter irgendwas erfahren.«

»Na, jetzt wissen sie es aber, und du hast mich wieder gedemütigt!«

»Was willst du damit sagen?«, fragte sie, richtete sich zur vollen Größe auf, nun doch wütend geworden.

»Erst erniedrigst du mich vor Gwen mit deinem Gerede, du wolltest dir eine Stelle besorgen – als könnte ich dich nicht ernähren! –, und nun hast du dich bei meiner Mutter und meiner Schwester über mich beschwert. Man sollte meinen, ich sei der leibhaftige Teufel, so wie du dich aufführst.« Er lachte unvermittelt auf, und etwas Sarkastisches schwang in seiner Stimme mit, als er fortfuhr: »Und ich habe gedacht, ich würde dir Schande machen, wo du doch so eine große Dame bist. Aber es ist genau andersherum, scheint mir.«

»Du brauchst dir keine Sorgen mehr zu machen, Vincent. Ich werde dich nicht weiter beleidigen. Weil ich nicht mehr da sein werde. Ich gehe morgen. Für immer.«

»Mach, was du willst.« Er ging durch die kleine Wohnküche zur Eingangstür und nahm seine Mütze.

»Wohin gehst du?«, fragte Audra.

»Zum Pub«, erwiderte er und stürmte hinaus, ohne noch ein Wort zu sagen. Die Tür fiel krachend hinter ihm ins Schloss.

Aber Audra ging am nächsten Morgen nicht fort, wie sie es angedroht hatte. Sie konnte nicht einmal ihr Bett verlassen. Sie hatte einen rauen Hals, ihre Augen tränten, und heftige Fieberschauer schüttelten sie.

Um elf Uhr war Vincent so besorgt, dass er nach Doktor Stalkley schicken ließ, dem praktischen Arzt in der Nähe, der ihn schon ans Licht der Welt befördert hatte.

»Leider eine Grippe, Vincent«, verkündete der alte Arzt, nachdem er Audra untersucht hatte. »Ist momentan verbreitet in Armley. Achten Sie darauf, dass sie im Bett bleibt und viel zu trinken bekommt. Viel mehr können Sie nicht machen, mein Junge, ansonsten muss die Krankheit ihren Lauf nehmen.«