Und so wurde es zum Hauptantrieb in Audras Leben – der Wunsch, Christina alles auf der Welt zu geben.
Sie dachte an nichts anderes mehr, und der Kampf auf dieses Ziel hin, der mehr als zwanzig Jahre dauern sollte, begann in jenem Sommer des Jahres 1931.
Sobald sie aus dem Krankenhaus entlassen wurde, ging Audra wieder zu Mrs Jarvis, die sie vier Monate lang gepflegt hatte, bevor Christina geboren wurde. Sie hatte der alten Dame versprochen, dass sie nach ihrer Niederkunft ihre Pflichten wiederaufnehmen würde. Ganz davon abgesehen waren sie dringend auf das Geld angewiesen. Vincent erhielt nur fünfundzwanzig Schillinge Arbeitslosenunterstützung und nun, wo sie ein Kind hatten, zwei Schillinge mehr die Woche. Es reichte kaum aus, sie alle drei zu ernähren.
Die Tätigkeit bei Mrs Jarvis war weder kompliziert noch besonders anspruchsvoll – es war sehr günstig für Audra, dass die bettlägerige Frau in The Towers wohnte, nur ein paar Minuten vom Häuschen in der Pot Lane entfernt.
Aber Audra zog das Krankenhaus der privaten Pflege vor. Nach einem kurzen Monat, in dem sie sich um Mrs Jarvis gekümmert hatte, sagte sie der alten Dame, dass sie sich um eine Stelle im St. Mary’s bewerben würde. Und das tat sie dann auch Anfang Juli.
Im November wurde im Krankenhaus eine Stelle frei, die man Audra gab. Zu ihrer großen Freude kam sie auf die Kinderabteilung.
Audra wusste, dass sie diese begehrte Stelle nur bekommen hatte, weil Oberin Lennox einige Hebel in Bewegung gesetzt und wegen des Einflusses, den Mrs Bell bei Oberin Fox geltend gemacht hatte. Aber das bereitete ihr nicht das geringste Kopfzerbrechen. Sie hatte die Stelle, und das war alles, was zählte.
Bis zum Frühling 1932 hatte sich Audra im Krankenhaus eingelebt und genoss ihre Tätigkeit. Oberin Fox hatte sie ins Herz geschlossen, sie war bei den Ärzten beliebt und glaubte, dass sie bald befördert werden würde. Die bevorstehende Beförderung schmeichelte nicht ihrer Eitelkeit – sie wusste nur, dass es ihr mehr Geld bringen würde, und deshalb wartete sie darauf. Geld für Christina ... für ihre Kleidung, ihre Ausbildung, ihre Zukunft.
Obwohl sie im Augenblick keinen einzigen Penny für Christina zurücklegen konnte, hatte sie sich das für die nächsten Jahre doch fest vorgenommen. Audra hatte langfristige Pläne geschmiedet. Sie glaubte, dies sei die einzige Möglichkeit, bei den ihr zur Verfügung stehenden Mitteln zu siegen. Ihr war auch schon eingefallen, wie sie sich zusätzlich Geld verdienen könnte. Sie würde dieses Vorhaben durchsetzen, sobald sie im Krankenhaus richtig Fuß gefasst hatte. Sie wollte in ihrer freien Zeit Kleider nähen.
Die Krankenpflege befriedigte Audra, und sie stürzte sich mit der ihr eigenen Begeisterung und Energie auf die Arbeit. Wenn sie so über die Stationen ging, lag ein neuer Schwung in ihrem Schritt und ein Lächeln auf ihrem Gesicht.
Aber zu Hause sah es nicht gut aus.
Es gab schon wieder Probleme zwischen Audra und Vincent, und ihre Ehe stand erneut auf wackligen Beinen.
In gewisser Weise war der Abgrund, der sich in der letzten Zeit zwischen ihnen aufgetan hatte, diesmal eher von Audra verursacht worden. Ihre ganze Aufmerksamkeit richtete sich auf Christina, die sie mit fast abnormer Leidenschaft liebte, vielleicht weil sie schon ein Kind verloren hatte.
Vincent liebte sein kleines Mädchen auch, aber er hatte sehr mit seinen eigenen, gravierenden Problemen zu kämpfen. Als junger, kräftiger Mann hatte er auch dringende Bedürfnisse. Er wollte eine Beziehung zu seiner Frau haben, die in jeder Hinsicht normal war. Unglücklicherweise war Audra nicht nur vollkommen von Christina und ihrer Arbeit in Anspruch genommen, sondern sie hatte auch nicht mehr das mindeste sexuelle Verlangen nach Vincent.
Sie hatte schon vor einigen Monaten aufgehört, mit ihm zu schlafen, und das fraß an ihm. Es erfüllte ihn mit einem Gefühl von Ohnmacht, arbeitslos zu sein und sich bloß um das Kind kümmern zu können. Und seine zunehmende Verbitterung wurde durch Audras Kälte und Zurückweisung noch verstärkt.
Eines Samstagabends im April, als Christina oben in ihrem Zimmer zu Bett gebracht worden war, entschloss er sich zu einer Aussprache mit Audra.
Er wartete, bis sie den Tisch abgeräumt und das Geschirr gespült hatte. Aber sowie sie es sich vor dem Kamin gemütlich gemacht und ihr Nähzeug ergriffen hatte, schaltete er das Radio aus und setzte sich ihr gegenüber.
»Warum machst du das?«, fragte sie, ohne aufzusehen, ganz auf das Loch in seiner Socke konzentriert, das sie gerade stopfte.
»Ich möchte mit dir sprechen, Audra, und zwar ernsthaft«, sagte Vincent, der sich angespannt vorgebeugt hatte, und richtete seinen Blick auf sie.
»Aha«, erwiderte sie nur und ließ ihr Flickzeug niedersinken, da ihr die Strenge seines Tons sofort aufgefallen war. Sie lehnte sich zurück und ließ ihm ihre ganze Aufmerksamkeit zuteilwerden.
Darauf hatte er nur gewartet. »Wir haben Probleme, Audra, du und ich, und es ist an der Zeit, dass wir sie mal auf den Tisch legen. Jetzt ist Schluss mit dem Unter-den-Teppich-Kehren, bloß weil du ...«
»Probleme?«, unterbrach sie ihn und betrachtete ihn kühl. »Was meinst du damit, Vincent?«
»Audra, nun stell dich doch nicht dumm. Du weißt ganz genau, was ich meine. Unsere Probleme im Bett. Du wendest dich immer von mir ab. Liebst du mich nicht mehr?«
Wie immer, wenn er über geschlechtliche Dinge sprach, trat ihr eine leichte Röte in die Wangen. Nun rief sie leicht erzürnt: »Natürlich liebe ich dich.«
»Dann hast du aber eine seltsame Art, es zu zeigen. Ein Eisberg ist nichts gegen dich.«
»Du bist ungerecht, Vincent! Hör auf damit. Ich mag dich gern, liebe dich. Aber ... also ... ich habe Angst davor, wieder schwanger zu werden. Du weißt doch ebenso gut wie ich, dass ein weiteres Kind einfach zu viel für unsere Mittel wäre. Wir haben so schon kaum genug Geld ...«
»Es ist doch nicht meine Schuld, dass das verdammte Land am Ende ist!«, fiel er ihr erhitzt ins Wort und warf ihr einen zornigen Blick zu. »Da musst du Ramsey Macdonald und seine verdammte Regierung anklagen! Ich bin nicht der einzige Arbeitslose. Es gibt jetzt schon zwei Millionen und achthunderttausend davon. Und wir sind nicht bloß arbeitslos, sondern verzweifelt und in unserer Männlichkeit gekränkt, weil wir stempeln gehen müssen ...«
»Du missverstehst mich! Ich habe dir gar keine Vorwürfe gemacht, Vincent. Das würde ich nie tun. Ich weiß, dass es nicht deine Schuld ist, und ich weiß auch, wie sehr du dich jeden Tag darum bemühst, etwas zu finden. Aber wenn wir noch ein Kind hätten, würde das Christinas Aussichten ernstlich gefährden ... stimmst du mir da nicht zu? Verstehst du das denn nicht?«
»Natürlich – es ist mir schon verdammt klar. Du planst ihr eine glänzende Zukunft, und sie ist noch nicht mal ein Jahr alt. Manchmal staune ich über dich, Audra, und ich frage mich, ob du noch bei Sinnen bist.«
Dann sprang er auf, von seinem Zorn übermannt, und ging zur Garderobe hinüber, riss seine Sportjacke vom Haken und warf sie sich über.
»Wohin willst du?«, fragte sie, überrascht, dass er nun ihre wichtige Unterhaltung abbrach, doch auch etwas erleichtert.
»Zu meiner Mutter.«
»Natürlich. Und nachdem sie dich bemitleidet hat, dich verhätschelt hat, wird sie dir Geld geben, damit du in das Pub gehen kannst, wie immer.«
»Was sich zwischen meiner Mutter und mir abspielt, geht dich einen Dreck an«, rief er mit funkelnden Augen. »Ich habe dich nie um einen einzigen Penny gebeten und werde das auch nie tun.«
Sie sagte nichts.
Er stürzte aus dem Haus, widerstand aber der Versuchung, die Tür hinter sich zuzuknallen. Er wollte sein Kind nicht wecken.
Als er zehn Minuten später die Town Street entlangging, begann Vincent sich zu beruhigen. Trotzdem fand er keine Entschuldigung für Audras Haltung, und in seinem Innersten verzieh er ihr nicht. Ja, er war sogar wütender auf sie als vorher. Er wusste nicht genau warum, wenn sie ihn auch heute Abend so richtig auf die Palme gebracht hatte.
Wenn ich reich wäre, überlegte er, und mit einer kalten, gleichgültigen Frau wie Audra verheiratet, dann würde ich mir eine Geliebte nehmen. Diese würde schön, zugänglich und sehr zärtlich sein, und ich würde sie mit Geschenken überschütten. Leider bin ich nicht reich und kann mir keine Geliebte leisten.
Da kam ihm eine Idee. Er konnte sich Millicent Arnold leisten, die ihn nichts kosten würde außer guten Manieren, liebenswürdigem Geschwätz und ein bisschen von seinem einschmeichelnden Charme. Millie war nicht gerade eine Schönheit, aber sie hatte ein angenehmes Gesicht und ein sanftes Wesen. Und das Wichtigste war, dass sie schon immer etwas für ihn übriggehabt hatte, schon seit Jahren, fiel ihm jetzt ein.
Es geht nichts über eine Frau, die sich richtig nach einem sehnt, dachte er. Und sofort änderte Vincent seine Pläne.
Er ging nicht zum Haus seiner Mutter. Und er schaute auch nicht ins White Horse hinein, wo seine Brüder Jack und Bill Darts spielten und auf ihn warteten.
Stattdessen machte er sich auf den Weg, Millicent Arnold zu besuchen, eine erst fünfunddreißigjährige Witwe ohne Kinder, die ihn sicherlich sehr herzlich willkommen heißen würde.
Er eilte die Moorfield Road entlang und lief fast über den Sportplatz und durch das gegenüberliegende Tor, flitzte dann den Weg hinauf, der zum Rose Cottage führte. Dort lebte Millie ganz allein, seit Ted vor zwei Jahren gestorben war. Das Haus lag in einem versteckten Winkel von Armley, und das kam ihm sehr zupass. Sollte er das Glück haben, ein häufiger Gast zu werden, war es besser, wenn ihn keiner kommen und gehen sah.
Nachdem er mehrmals geklopft hatte und niemand kam, wandte er sich ab, zutiefst enttäuscht.
Da sprang plötzlich die Tür auf, und Millie rief: »Hallo, Vincent. Was führt denn dich an einem Samstagabend hierher?«
»Also weißt du, es ist so«, sagte er, drehte sich um und lächelte in die warmen, samtbraunen Augen, die zu ihm aufschauten. »Ich ging gerade über den Sportplatz, als mir einfiel, was du mir letzte Woche gesagt hattest, du weißt schon, als wir uns vor der Leihbücherei begegnet sind. Du hattest mir gesagt, dass du mit jedem Tag trauriger und einsamer würdest. Und weißt du was, Millie? Mir geht’s ebenso ... genauso.«
»Wirklich, Vincent?«
Er nickte, lächelte sein gewinnendstes Lächeln und lehnte sich gegen den Türknauf. Dann ließ er provozierend seinen Blick über sie gleiten. Es war ihm vorher noch gar nicht aufgefallen, was für einen üppigen Körper sie hatte. Plötzlich lachte er in sich hinein, wie er es schon seit Jahren nicht mehr getan hatte, und seine Augen tanzten.
»Ich wollte grade zum Pub gehen, um mich mit meinen Brüdern zu treffen, als du mir einfielst, Millicent. Ich dachte daran, wie einsam du doch bist und wie einsam ich bin.« Er hielt kurz inne. »Und da fiel mir ein, dass du vielleicht gern ein wenig Gesellschaft hättest, und vielleicht so gütig wärst, einem sehr durstigen Mann ein Bier anzubieten.«
Millicent schluckte schwer, sie konnte ihr Glück gar nicht fassen, dass er bei ihr vorbeigekommen war. Sie hatte ihn schon seit Jahren gewollt, schon als ihr Mann Ted noch lebte. Sie öffnete ihre feuchten Lippen, sagte aber nichts. Dann ergriff sie ihn einfach am Arm und zog ihn sanft ins Haus hinein.
»Ich habe so viel Bier, wie du trinken kannst«, sagte sie schließlich und streifte ihre Brüste gegen ihn, zog ihn durch den Flur.
Dann blieb Millie unvermittelt stehen, drückte seinen Arm und sah zu dem schönen Antlitz empor, das auf sie herabschaute. Ein langsames, sehnsüchtiges Lächeln trat in ihr Gesicht. »Und vielleicht möchtest du auch eine Kleinigkeit zu Abend essen? Du kannst doch zum Abendessen bleiben, Vincent, oder?«
»Das kann ich in der Tat«, sagte er und warf seine Schultern zurück, hielt sich aufrechter, fühlte sich wieder wie ein Mann.
Wie selbstverständlich legte er den Arm um ihre schlanke Taille und geleitete sie ins Wohnzimmer. Und als sie sich enger an ihn schmiegte, wusste er, dass er sich um den Abend keine Gedanken zu machen brauchte.
Vincents Alltag änderte sich nicht, obwohl er sich in eine Affäre mit Millicent Arnold gestürzt hatte.
Er war diskret.
Er mochte Millie, war gern mit ihr zusammen, sonnte sich in ihrer Zuneigung zu ihm und genoss es, wie sie ihm jeden Wunsch von den Augen ablas. Und sie fanden eine Menge Lust und Erlösung in ihren langen Stunden des Liebesspiels in dem großen, gemütlichen Bett im Rose Cottage.
Aber es war eine rein körperliche Beziehung.
Vincent wusste, dass es nicht lange anhalten würde, und Millie wusste das auch. So waren sie übereingekommen, die Sache einfach ihren Lauf nehmen zu lassen. Sie hatten abgemacht, sich gegenseitig keine Vorwürfe zu machen, wenn einer die Beziehung beenden sollte.
Davon abgesehen war Vincent viel zu verantwortungsvoll, um das Kind zu vernachlässigen, das er so liebte, oder nur einer Romanze wegen nicht mehr so intensiv wie bisher nach Arbeit zu suchen. Er besuchte Millie einmal in der Woche, immer darauf achtend, dass ihre Freundschaft nicht außer Hand geriet, und war sehr vorsichtig. Er betrat das Rose Cottage nur im Dunkeln.
Und ansonsten plackte er sich ab wie all die Monate zuvor.
Er kümmerte sich morgens um Christina, fuhr sie gegen Mittag zum Haus seiner Mutter, wo er mit dieser und Danny einen leichten Imbiss einnahm. Meist überließ er Christina dann für den Rest des Tages seiner Mutter und holte sie gegen vier Uhr wieder ab.
Fast jeden Nachmittag kämmte Vincent die Stadt und ihre Außenbezirke auf der Suche nach Arbeit ab. Manchmal gelang es ihm, einen Gelegenheitsjob zu ergattern, aber nie für länger als einen oder zwei Tage. Er konnte nichts Festes finden.
Und als der Frühling und Sommer verstrichen und der Herbst dem Winter Platz machte, begann Vincent Crowther sich einzugestehen, dass er auch nichts finden würde. Die Regierung befand sich in der größten und längsten Wirtschaftskrise, die es je gegeben hatte. England stand am Rande des Abgrunds, ebenso wie der Rest der Welt, denn inzwischen war die Krise weltweit. Vincent wusste, dass sie einer langen Zeit der Not entgegengingen. Überall braute sich etwas zusammen; Aufstände und Hungermärsche wurden langsam alltäglich.
Leeds hatte es ebenso wie die anderen großen Industriestädte schwer getroffen. Die Heilsarmee machte Suppenküchen auf; andere Wohltätigkeitsorganisationen beschafften Kleidung und Schuhe für bedürftige Kinder und halfen denjenigen, welche die am schwersten betroffenen Gebiete verlassen wollten.
Vincent hatte noch nie so viele Männer auf der Straße herumstehen sehen – sie standen Schlange vor dem Arbeitsamt, standen in Grüppchen an den Straßenecken und schauten unzufrieden und mürrisch drein, bemitleideten sich gegenseitig. Über ihnen allen hing das Verhängnis. Und wenn er sich umsah, schob Vincent alle Gefühle von Hoffnungslosigkeit beiseite, die ihn in der letzten Zeit so oft bedrängten, und suchte verzweifelt nach einer inneren Kraft. Er wusste, dass er weitermachen und um seine Zuversicht ringen musste.
Obwohl Vincent nie damit einverstanden gewesen war, dass Audra arbeitete, war er nun außerordentlich froh darüber, dass sie Krankenschwester im St. Mary’s war. Er war auch dankbar, dass die anderen Mitglieder des Crowther-Clans alle noch eine Anstellung hatten; es war ein Trost, zu wissen, dass es seinen Eltern besser ging als den meisten anderen.
Sein Vater arbeitete schon seit Jahren in der Transportabteilung der Leeds Industrial Cooperative Society, und sein Arbeitsplatz schien gesichert zu sein. Bill war in einer der hiesigen Leihbibliotheken als Bibliothekar beschäftigt, und Jack, der sich abends als Landschaftsgärtner fortbildete, war bei der städtischen Parkverwaltung von Leeds. Sogar Maggie war es gelungen, Arbeit in einer Schneiderei in Armley zu finden, wo sie Knopflöcher an Männerjacken fertigte.
Diese drei verdienten keineswegs so viel wie ihr Vater, aber ihre Löhne ergaben zusammen mehr, als den meisten Leuten zur Zeit zur Verfügung stand. Immer fand sich ausreichend gutes und nahrhaftes Essen bei seiner Mutter auf dem Tisch, und ihr Keller war voll Kohlen. Vincent wusste, dass Audra und Christina in keinem Fall hungern oder frieren würden wie so viele andere Leute in dieser schrecklichen Zeit.
Als das Weihnachtsfest des Jahres 1932 nahte, verdoppelte Vincent seine Anstrengungen, Arbeit zu finden. Über die Festtage wollte und musste er unbedingt etwas für seine kleine Familie zusammenbekommen. Er wünschte, Audra zu beschenken, wenn es auch nur etwas Kleines sein sollte, und Christina ein Spielzeug und ein paar Leckerbissen auf den Tisch stellen zu können.
Anfang Dezember gab es mehrere große Schneestürme, und der Schnee blieb liegen. Viele Einfahrten waren blockiert, und schließlich hatte Vincent eines Freitagnachmittags Glück und fand einen Job. Er durfte bei einem der großen Häuser in der Nähe Schnee räumen. Da es schon dämmerte, sagte ihm die Haushälterin, er solle am nächsten Morgen um neun Uhr wiederkommen.
Der Samstagmorgen kam strahlend, aber bitterkalt, und es peitschte ein beißender Wind. Aber Vincent kümmerte das nicht. Er war so aufgeregt, dass er ein bisschen Geld verdienen konnte, nichts hatte ihn zurückzuhalten vermocht. Audra, die an diesem Wochenende keinen Dienst im Krankenhaus leisten musste, bestand darauf, dass er sich gut einpackte. Sie zwang ihn, zwei Pullover unter seiner Sportjacke anzuziehen, und als er seinen Mantel zuknöpfte, wickelte sie ihm einen dicken, wollenen Schal um und reichte ihm seine Handschuhe.
Er küsste ihre Wange und sagte: »Es sollte höchstens drei Stunden dauern, die Auffahrt von Fell House zu räumen, ich werde also rechtzeitig zum Mittagessen zurück sein, Liebes.«
»Am besten koche ich dir heute einen großen Topf Suppe, die wirst du brauchen können, nachdem du bei diesem Wetter draußen warst«, sagte sie und ging mit ihm an die Tür. Ein eisiger Windstoß schlug ihr ins Gesicht, als er hinausging, und sie erschauerte. »Ich werde heute Morgen nicht mit Christina spazieren gehen, es ist viel zu kalt.«
»Nein, das sollst du auch nicht. Mach’s gut, Liebes, bis später.« Er schritt den Weg entlang, drehte sich noch einmal um und winkte. Er war fröhlicher Stimmung.
Audra hatte den ganzen Morgen über viel zu tun; sie kümmerte sich um Christina, kochte die Gemüsesuppe und erledigte ihre häuslichen Pflichten. Die Zeit verging rasch.
Bevor sie sich dessen gewahr wurde, schlug es zwölf. Nachdem sie den Tisch für das Mittagessen gedeckt hatte, schaltete sie das Radio ein, nahm Christina auf den Arm und setzte sich an den Kamin, um sie zu füttern.
Als Vincent um ein Uhr noch nicht zurückgekehrt war, fragte sich Audra langsam, was wohl mit ihm passiert sei; um zwei Uhr machte sie sich ernsthafte Sorgen. Er verspätete sich zwar manchmal, wenn er mit seinen Brüdern oder Freunden im Pub war, aber nie, wenn er von der Arbeit kam. Dann kehrte er immer gleich nach Hause zurück, um eine Tasse Tee zu trinken, eine Kleinigkeit zu essen oder sich umzuziehen, wenn er hinterher noch weggehen wollte.
Sie legte Christina in ihr Bettchen, das in der Wohnküche stand, und füllte sich einen Teller mit Suppe. Aber sie merkte, dass sie keinen rechten Appetit hatte.
Von Zeit zu Zeit ging sie ans Fenster und zog die Vorhänge beiseite, hielt nach ihm Ausschau, doch es war nichts von ihm zu sehen.
Es war fast drei Uhr, als sie den harten, metallischen Tritt seiner Stiefel draußen auf dem Weg hörte.
»Ich habe mir schreckliche Sorgen gemacht«, sagte sie, als er hereinkam und die Tür hinter sich schloss. »Ich konnte einfach nicht begreifen, wo du bleibst.«
»Da war eine ganze Menge Schnee zu schippen«, sagte er, nahm die Mütze ab, wickelte sich den Schal vom Hals und zog langsam seine Handschuhe aus, die ganz steifgefroren waren. »Mehr, als mir lieb gewesen ist ... die vordere Auffahrt, zwei lange Terrassen, der Weg zwischen den beiden Rasenstücken und der Hinterhof.«
»Was, so viel! Du musst völlig erschöpft sein, Vincent, und du bist ja ganz blau vor Kälte. Komm zum Kamin, und wärm dich erst einmal auf.«
»Sie haben mir nicht mal eine Tasse Tee angeboten um zwölf ...«
»Mein Gott, was sind das nur für Menschen!« Entsetzt starrte sie ihn an.
Er antwortete nicht.
Als er an den Kamin trat, sah Audra etwas in seinem Gesicht, das sie beunruhigte. »Vincent«, fing sie an und zögerte dann. »Fühlst du dich wohl?«, fragte sie und betrachtete ihn aufmerksam.
Er schwieg immer noch, stand mit dem Rücken zum Feuer und wärmte sich. Dann fuhr er mit der Hand in die Tasche und holte etwas heraus. Er wandte ihr sein eingefallenes, erschöpftes Gesicht zu und machte dann die zitternde Hand auf.
»Das haben sie mir gegeben«, sagte er bitter und zeigte ihr die Münze in seiner Hand.
Einen Moment lang wollte Audra ihren Augen nicht trauen. »Sixpence!« Sie war zutiefst erschrocken. »Sie haben dir Sixpence gegeben für sechs Stunden Arbeit. Das ist doch ganz unglaublich ... diese Leute ...«
Sie konnte vor Zorn nicht weitersprechen.
»Ja ...«
Nun holte Audra tief Luft, nahm sich zusammen. »O Vincent, Vincent, mein Liebling ...« Dann sprang sie auf und eilte zu ihm hin, sah ihn besorgt an. Mit großer Zärtlichkeit nahm sie ihn beim Arm. »Ich lass dich nie wieder so was machen. Nie.«
Er schüttelte den Kopf und wandte den Blick ab. Dann sah er sie nach einigen Minuten wieder an. Sein Gesicht war trostlos.
»Es liegt ein Fluch über diesem Land«, sagte er.