Es war die allerschönste Teestunde.
Audra durfte nicht helfen.
Sie saß am Tisch in der Wohnküche und sah ihrem Mann und ihrem Kind zu, wie sie geschäftig herumwirbelten. Es war ihr vorher schon aufgefallen, wie schön sich die beiden gemacht hatten; sie hatten ihren Geburtstag zu einem richtigen Fest gemacht, und sie musste einfach darüber glücklich sein und sich geschmeichelt fühlen. Sie wünschte nur, sie hätte noch die Zeit gehabt, das Baumwollkleid abzustreifen, das sie zur Arbeit angehabt hatte, und sich etwas Hübscheres anzuziehen. Aber Christina hatte ihr keine Chance gegeben.
Wie gut Vincent aussieht, dachte Audra, als sie ihren Mann betrachtete, der in der Wohnküche auf und ab ging. Er trug ein strahlendweißes Hemd, eine burgunderrote Krawatte und dunkelgraue Hosen – ganz offensichtlich war er eilig von der Arbeit gekommen, hatte sich frisch rasiert und sich dann für die Teestunde umgezogen. Er war beim Friseur gewesen, und sein schwarzes Haar, das glatt zurückgekämmt war und den in die Stirn gezogenen Haaransatz erkennen ließ, war noch feucht.
Und Christina sieht einfach reizend aus, dachte Audra. Ja, sie ist mein allerhübschestes Püppchen heute.
Ihre kleine Tochter hatte ihr bestes Festtagskleid aus blassblauer Seide angezogen, das am Oberteil und am Rock mit einer schmalen Spitzenborte verziert war. Dazu hatte sie saubere weiße Söckchen angezogen und ihre feinsten Schuhe mit den Fußriemen aus glänzendem Lackleder. Sie hatte sich ein blaues Seidenband um den Kopf gebunden. Audra lächelte still vor sich hin. Vincent hatte die Schleife vorbildlich geknotet.
Dann ließ Audra sich in den Sessel zurücksinken und sah sich aufmerksam den Tisch an. Er war mit ihrer guten Leinentischdecke und ihrem besten Porzellan gedeckt, das sonst nur für Besuch verwendet wurde. Eine Leinenserviette war über jeden Teller gefaltet, und in der Mitte des Tisches stand ein Sträußchen gelber Rosen aus dem Garten in einer Glasvase. Wieder lächelte sie. Das hatte sich wohl ihre Tochter ausgedacht.
Vincent ging zum Kaminvorsprung und drehte den Kessel aus, der auf dem Gas pfiff. Er goss den Tee in der silbernen Kanne aus High Cleugh auf; Christina trug indessen Platten aus der Speisekammer auf.
Mit piepsender Kinderstimme sagte sie: »Diese klitzekleinen Sandwiches sind genau so gemacht, wie du es liebst, Mam, all deine Lieblingssorten ... Frühstücksfleisch, Tomaten und Gurken, und dann hat Dad noch eine Dose Lachs gekauft, und davon haben wir auch eine Menge Sandwiches gemacht.«
»Sie sehen ganz köstlich aus«, sagte Audra. »Du hast dir viel Mühe gegeben, nicht wahr?«
»Dad hat mir geholfen«, sagte Christina und verschwand wieder. Dann kam sie mit Schokoladenkeksen, Rosinenbrötchen mit Zuckerglasur, Scones und Himbeermarmelade wieder. »Grandma hat die Brötchen und Scones gebacken«, erklärte sie Audra und lief dann noch einmal in die Speisekammer zurück. »Erdbeeren, Mam!«, verkündete sie und stellte den Teller vor ihre Mutter hin. »Ach, die Sahne! Jetzt habe ich die Sahne vergessen!«
»Nun lass mal, Christina, mein Liebling, und setz dich hin«, sagte Vincent, trug die Teekanne zum Tisch und schenkte ihnen ein. »Wie es um meine Mädels steht, weiß ich zwar nicht, aber ich sterbe vor Hunger.«
Während des Tees unterhielten sich Audra und Vincent angeregt.
Sie erzählte von ihrem hektischen Tag im St. Mary’s Hospital, an dem sie mittlerweile für zwei Kinderstationen sowie die Entbindungsstation verantwortlich war.
Er redete von dem befristeten Job, den er und Fred Varley hatten und bei dem sie an das Herrenhaus von Pinfold Ställe anbauten. Sie arbeiteten zusammen, Seite an Seite, da Fred Varley nach seinem Konkurs noch nicht wieder ein Geschäft aufmachen konnte, zumindest nicht im großen Stil. Varley übernahm kleine Bauarbeiten, wo er sie bekommen konnte, und meist stellte er Vincent an, ihm dabei zu helfen.
»Aber er wird wieder anfangen, bald sogar, und dann auf Dauer«, sagte Vincent. »Bestimmt, da brauchst du dir keine Sorgen zu machen.« Audra nickte und faltete die Hände unter dem Tisch, betete, dass es so sein würde. Vincent liebte seine Arbeit, und sie verstanden sich viel besser, wenn er eine Stellung hatte, Geld verdiente und sie alle ernähren konnte. Langsam war ihr klar geworden, dass es seine Verzweiflung über die Arbeitslosigkeit war, die einige ihrer größten Schwierigkeiten verursachte.
Dann fing Vincent an, von seinem Bruder Frank zu erzählen, der bei den Ninth Fancers – einem Kavallerieregiment – stationiert war und sich mit der englischen Armee in Indien befand. Er wollte im Urlaub nach Hause kommen, und Vincent hatte beschlossen, dass der ganze Crowther-Clan bei Franks Heimkehr eine Party veranstalten sollte.
Christina spitzte die Ohren, wie sie es immer tat, wenn sie mit ihren Eltern zusammen war. Sie schaute von einem zum anderen, wobei ihren großen, grauen, weit geöffneten Augen nichts entging.
Aufmerksam horchte sie auf jedes Wort von ihnen, während sie ihre Sandwiches kaute. Manchmal sagte sie auch etwas, aber meist hörte sie nur zu. Sie waren beide so klug, ihre Mam und ihr Dad. Sie hörte ihnen so gern zu. Ihre Mam hatte so eine liebliche Stimme, weich und melodiös.
Sie genoss Momente wie diesen, wenn sie so freundlich zueinander waren und ihre Mutter viel lächelte, ihre Augen ganz blau und strahlend wurden; sie mochte es gar nicht, wenn sie sich zankten. Dann ging Vater weg und knallte laut die Tür hinter sich zu, kam nachts erst spät wieder, wenn sie schon fest schliefen. Ihre Mutter war jedes Mal tagelang böse mit ihm und sah ihn immer so merkwürdig aus den Augenwinkeln an, mit zusammengepressten Lippen.
Einmal im letzten Jahr, als sie noch klein war, noch nicht erwachsen wie jetzt, war ihre Mam nach einem Streit aufgeblieben und hatte auf ihren Vater gewartet. Sie hatten sich angeschrien, und ihre Mam kreischte: »Wenn du so darüber denkst, dann geh doch zurück zu deinem feinen Liebchen.« Sie hatte alles mit angehört, weil sie so überrascht gewesen war, ihre Mam schreien zu hören. Hatte sich aus dem Zimmer geschlichen und sich übers Geländer gebeugt, um zu lauschen.
Und noch Tage danach hatte sie Angst, dass ihr Dad fortgehen und mit der Frau leben könnte, die so fein war. Sie hatte sich gefragt, ob sie nicht fein genug für ihn waren. Vielleicht würde er dableiben, wenn sie sich feinmachten, hatte sie überlegt, aber sie wusste nicht genau, wie man das anfangen sollte.
Schließlich hatte sie ihre Großmutter gefragt, wie ein feines Liebchen aussähe. Ihre Großmutter hatte die Luft angehalten und sie angestarrt, sie dann gefragt, wo sie das gehört habe. Christina hatte geflunkert und gesagt: »In der Schule.« Nicht einmal jetzt war ihr klar, warum sie Grandma etwas vorgelogen hatte. Aber sie ahnte, dass sie über Dinge, die sich zu Hause abspielten, nicht sprechen durfte. Ihre Mam machte das jedenfalls nie, wenn sie bei Grandma war. In Großmutters Haus sagte sie kaum etwas und war überhaupt nicht wie ihre Mam. Irgendwie war sie dann anders.
Sie hatten sich am Ende doch nicht fein machen müssen, denn ihr Dad war geblieben. Kurze Zeit nach jedem schrecklichen Streit waren ihre Mam und ihr Dad immer wieder ein Herz und eine Seele, küssten sich auf die Wangen und nahmen sich in den Arm. So war es jedes Mal.
Das plötzliche Lachen ihres Vaters brachte Christina in die Gegenwart zurück.
Sie sah ihn aufmerksam an.
Er schaute fröhlich drein, und seine grünen Augen glitzerten wie die Halskette, die Tante Gwen getragen hatte, als sie in ihrem Haus in Headingley zum Tee gewesen waren. Nur dass sie jetzt nicht mehr zu Tante Gwen gingen. Audra lachte auch, und ihre Augen hüpften und sprühten blaue Lichter, sodass Christina wusste, dass ihre Mutter heute glücklich war.
Die Tochter konnte nicht begreifen, warum ihre Eltern so lachten; sie hatte verpasst, was ihre Mutter gerade gesagt hatte. Aber jetzt fing sie auch an zu lachen, wollte dabei sein, zu ihnen gehören, an ihrer Fröhlichkeit und Ausgelassenheit teilhaben.
Immer noch kichernd, meinte Vincent: »Ach, was ich noch sagen wollte, Audra: Mike hat Karten fürs Grand Theatre am Samstag gekauft ... es gibt Noël Cowards Kavalkade. Er lädt uns ein, das ist eine weitere Geburtstagsüberraschung für dich, Liebes.«
»Wie nett er immer ist, und so umsichtig.«
Christina fragte: »Wird Tante Maggie auf mich aufpassen, wenn ihr Samstagabend weggeht?«
»Ja, mein Herz.«
»O toll, Dad. Es ist immer so lustig mit ihr, und sie lässt mich immer lange aufbleiben.«
»Was!«, rief Audra.
»Es ist jetzt Zeit für die Erdbeeren, ich werde euch auftun«, rief Christina und sprang vom Stuhl. »Und du kriegst am meisten, weil es dein Geburtstag ist.«
»Nun sei doch nicht lächerlich«, sträubte sich Audra. »Wir bekommen alle das gleiche, in dieser Familie wird ehrlich geteilt.«
»Nein, du bekommst am meisten«, beharrte Christina, während sie die Früchte vorsichtig in die Glasschälchen füllte, die sie von der Anrichte geholt hatte. Sie hatten schon lange keine Erdbeeren mehr gegessen, weil sie so teuer und so etwas Besonderes waren. Niemand sprach, während sie die Früchte langsam aßen und jeden Bissen genossen. Aber ihre Augen strahlten, und sie lächelten sich zu. Als sie fertig waren, fanden sie einstimmig, dass dies die allerbesten Erdbeeren waren, die sie jemals gegessen hatten ... so süß und saftig.
Aber der Höhepunkt der Teestunde war der Geburtstagskuchen.
Christina und Vincent machten sich damit in der Speisekammer zu schaffen, bevor das Kind feierlich hereingeschritten kam und den Kuchen mit ausgestreckten Armen vor sich hertrug.
Im Chor riefen Vater und Tochter: »Happy birthday! Happy birthday!«
Christina blieb vor ihrer Mutter stehen und sagte: »Tut mir leid, dass da nur eine Kerze ist, aber das war alles, was von meinem Geburtstagskuchen übrig war, Mam. Die anderen waren schon so heruntergebrannt.«
»Das macht doch nichts, Christie, eine Kerze ist doch besser als nichts.«
»Das habe ich ihr auch gesagt«, versetzte Vincent und nahm gegenüber von Audra Platz. »Und ich habe ihr auch gesagt, dass du eine Kerze bestimmt lieber hättest als dreißig.«
Audra lächelte ihn scheu und bedauernd an. »Ich kann es noch gar nicht glauben, dass ich tatsächlich dreißig Jahre alt bin. Vincent ... wo sind bloß all die Jahre geblieben?«
Dieser schüttelte den Kopf. »Frag mich nicht, Mädel. Ich habe keine Ahnung. Und ich werde in neun Tagen vierunddreißig ... oder hast du das vergessen?«
Bevor Audra etwas sagen konnte, rief Christina: »Wir müssen auch ein Fest für dich machen, Dad!«
Christina kniete nieder, um ihr Abendgebet aufzusagen. Audra saß im Schaukelstuhl und hörte zu.
Sowie Christina das langwierige Ritual beendet hatte, für ihre Onkel in Australien und alle Mitglieder des Crowther-Clans zu beten, kletterte sie ins Bett und kuschelte sich zwischen die Laken.
Audra ging zu ihr herüber, glättete die Bettdecke und setzte sich dann auf den Rand. Sie ließ ihre Hand über die unschuldige Wange des Kindes gleiten und lächelte ihm zu. »Das war eine wunderschöne Geburtstagsfeier, Christie, ich danke dir dafür.«
Christina erwiderte ihr Lächeln. Dann fragte sie ängstlich: »Wir können doch auch ein Fest für Daddy machen, oder nicht?«
»Natürlich können wir das. Es wäre doch ungerecht, wenn wir’s nicht täten ... du hattest deine Feier letzten Monat, und meine war heute – also ist er als nächster dran.« Audra beugte sich vor und küsste ihre Tochter.
Zwei rundliche Ärmchen streckten sich nach ihr aus und schlangen sich um ihren Hals. Christina schmiegte sich an ihre Mutter, genoss den vertrauten Duft ihrer kühlen, frischen Haut und ihres Gardenienblütenparfüms, das sie sich hinter die Ohren getupft hatte. Dann flüsterte sie: »Ich hab’ dich lieb, Mam.«
»Mein Liebling – ich dich auch. So sehr. Und nun komm, kuschel dich zusammen und schlaf. Es ist schon sehr spät. Und träum was Schönes, mein Mäuschen.«
»Ja, Mam. Gute Nacht, Mam.«
Aber Christina schlief nicht sofort ein.
Sie lag im Bett und betrachtete durchs Fenster den Himmel. Die Eltern hatten sie lange über ihre gewöhnliche Schlafenszeit hinaus aufbleiben lassen, weil es ein besonderer Anlass war, und nun war es draußen schon völlig dunkel.
Der Himmel war tintenschwarz und mit glitzernden Sternen bedeckt, die so weit weg waren. Der Mond war rund wie ein Halbes-Kronen-Stück und ebenso glänzend. Vollmond, hatte ihr Vater gesagt, ehe man sie ins Bett gesteckt hatte.
Wie lieb sie ihren Dad hatte. Und ihre Mam. Sie mochte es am liebsten, wenn sie nur zu dritt waren ... ihre Mam und ihr Dad und sie. Ihr Dad hatte Tante Laurette und Onkel Mike zur Teestunde eingeladen. Aber sie war so froh, dass sie nicht kommen konnten. Nicht, dass sie die beiden nicht gern hatte. Sie hatte all ihre Tanten und Onkel gern, und ihre Grandma. Und Grandpa. Ja, besonders den. Sie liebte es, wie er nach Leder, Pomade und den Eukalyptuspastillen roch, die er ihr manchmal heimlich gab, wenn niemand zusah. Er setzte sie immer auf seine Knie und erzählte ihr Geschichten über seltsame Ereignisse. Es machte ihr nichts aus, dass sein großer, weißer und lockiger Schnurrbart sie kitzelte, wenn er sie küsste, oder dass er immer an seiner Pfeife zog, die Grandmas Küche mit Rauch erfüllte und ihre Augen tränen ließ. Die Pfeife nannte er immer »meine gute Kalebasse« und erlaubte keinem, sie anzurühren, nicht einmal Tante Maggie, auf die er sonst nichts kommen ließ, wie ihr Dad sagte.
Aber sie liebte ihre Mam und ihren Dad am meisten. Mehr als alles auf der Welt. Und sie gehörte zu ihnen. Sie würde keine andere Mam oder einen anderen Dad haben wollen. Ihre waren etwas ganz Besonderes. Das wusste sie.
Sie schloss die Augen und driftete langsam in den Schlaf hinüber. Sie konnte das Gemurmel ihrer Stimmen hören ... leise, zärtliche, liebevolle Stimmen ... sie fühlte sich immer so geborgen, wenn sie ihre Stimmen hörte ...
»Sie ist ein außergewöhnliches Kind, Vincent«, sagte Audra und ließ sich ins Sofa des Wohnzimmers sinken.
»Ja, sie ist sehr aufgeweckt.«
»Was sie besitzt, ist mehr als Aufgewecktheit, auch mehr als Talent ... sie ist außerordentlich begabt, Vincent.« Audra ließ ihren Blick auf dem Kaminsims ruhen, wo das Bild inmitten der Glückwunschkarten lehnte. »Vor dem Tee hast du gesagt, das Aquarell hätte dich sehr beeindruckt, so sehr, dass du es hast rahmen lassen.«
»Ja, das ist gar keine Frage, es hat mich sehr beeindruckt.« Vincent ließ seinen Blick auf dem Bild ruhen, das Audra vor Jahren vom »Ort der Erinnerung« gemalt hatte und schaute dann zur hinteren Wand, wo eine Landschaft von Adrian Kenton hing. »Unsere Christina hat es von dir und von deinem Vater, Audra – ihre künstlerische Begabung, meine ich.«
»Ja, das hat sie. Aber sie wird viel besser sein als ich, wenn sie erst groß ist ... und vielleicht wird sie auch besser als mein Vater. Die Anzeichen dafür sind vorhanden.«
»Du kannst jetzt eigentlich keine Zweifel mehr daran haben, wer dein Vater gewesen ist, Audra.« Er lächelte sie zögernd an.
»Nein, habe ich auch nicht, und ich weiß nicht, ob ich je welche hatte. Ich wusste ja, dass meine Mutter nie etwas getan hätte, was meinen Vater hätte verletzen können. Es lag nicht in ihrer Natur, irgendetwas Schäbiges zu tun. Ich glaube, ich habe es immer schon gewusst, dass sie und Onkel Peter erst viel später ein Paar wurden, als sie schon verwitwet war.«
Vincent nickte und griff nach seinem Bierglas. Er war erleichtert, dass sie diese alte Geschichte endlich geklärt hatten.
Beide schwiegen einen Augenblick, jeder in seine eigenen Gedanken versunken.
Der Juniabend war kühl geworden, und Vincent hatte das Kaminfeuer angezündet, während Audra Christina zu Bett brachte. Nun saß sie da und sah in die Flammen, dachte an das Kind, das oben lag und schlief: das hochbegabte Kind, von dem sie immer schon gewusst hatte, dass ihm eine glänzende Zukunft bevorstand.
Plötzlich beugte Audra sich vor und überraschte Vincent mit dem Ausruf: »Ja, wir müssen es tun!«
»Was denn?«, fragte er und sah sie neugierig an.
Sie beantwortete seine Frage nicht direkt, sondern sagte stattdessen: »Ich habe ihr in den letzten Jahren so gut ich konnte geholfen, und ich werde das auch weiterhin tun, aber ich kann sie nur so viel lehren, wie ich selbst kann, und ich habe mir ja alles allein beigebracht.«
»Ja«, erwiderte er.
»Sie muss zur Kunstakademie, wenn sie sechzehn ist. Im Leeds College of Art wird sie früher nicht angenommen. Und dann muss sie nach London gehen, um am Slade zu studieren – oder besser noch am Royal College of Art.«
»Und wie sollen wir das alles bezahlen?«, fragte er, und seine Stimme schwoll an. »Wir werden so eine Ausbildung niemals finanzieren können, auch nicht, wenn die Wirtschaftskrise vorüber ist und ich eine feste Stellung bekomme. Es wird Tausende kosten.«
»Ja, das weiß ich, aber wir werden es tun«, erwiderte sie entschlossen. »Das müssen wir einfach, Vincent!« Ihre Stimme war so erregt und begeistert, wie Vincent sie lange nicht mehr gehört hatte. »Christina muss jede Chance haben«, fuhr Audra fort. »Ich will nicht, dass sie darum betrogen wird, bloß weil das Geld fehlt. Sie hat eine Begabung ... und die muss ausgebildet werden. Sie wird eine großartige Malerin werden, eine große Künstlerin, Vincent.«
»Na«, sagte er langsam, und seine Stimme wurde leiser, »also ich weiß nicht so recht ...«
Audra richtete sich gerade auf und fixierte ihn mit einem ihrer durchdringenden Blicke. »Es darf kein Zögern von unserer Seite geben, Vincent, nicht das geringste. Wir müssen auf dieses Ziel hinarbeiten, wie groß die Opfer auch sein mögen. Christina muss diese Chance haben. Und ich für meinen Teil werde dafür sorgen, dass sie sie bekommt!«