Ich weiß wirklich nicht mehr, was ich mit Audra machen soll, Mike. Ich bin einfach ratlos«, sagte Vincent mit bebender Stimme.
Dann sprang er auf und ging zum Fenster hinüber, stand da und sah mit blinzelnden Augen in die strahlende Aprilsonne hinaus.
Mike sagte: »Ja, ich weiß, wie viele Sorgen du dir in der letzten Zeit gemacht hast.« Der junge Arzt runzelte die Stirn, konnte den Kummer seines Freundes verstehen und auch seine ohnmächtige Wut darüber, noch immer arbeitslos zu sein. Vincent war in letzter Zeit sehr leicht reizbar und empfindlich. An der Art, wie er seine Schultern hielt, konnte Mike erkennen, wie angespannt und bedrückt er heute Morgen wieder war.
»Alles, womit ich dir helfen ...«, fing Mike an, brach aber ab, als die Tür des Wohnzimmers aufging.
Laurette trat rückwärts ins Zimmer, ein Tablett auf dem Arm. Dann drehte sie sich um und ging zum Kamin. »Tut mir leid, dass es so lange gedauert hat mit dem Kaffee«, sagte sie strahlend, »aber ich musste noch nach dem Sonntagsbraten schauen und den Röstkartoffeln ...« Laurette brach mitten im Satz ab, da sie Mikes besorgtes Gesicht und Vincents starre Haltung bemerkt hatte.
»Oh«, sagte sie schnell, »störe ich? Dann will ich lieber meine Tasse nehmen und in die Küche gehen, euch in Frieden lassen.«
»Nein«, sagte Vincent, wirbelte herum und trat zur Sitzgruppe beim Kamin zurück. »Es ist nichts, wovon du nicht wissen darfst.« Dann ließ er sich in einem Sessel nieder, holte seine Zigaretten heraus und zündete sich eine an.
Laurette reichte ihnen den Kaffee und setzte sich dann ebenfalls. Sie schaute Vincent neugierig an und wartete darauf, dass er weitersprach.
Vincent saß da und starrte trübselig ins Feuer, rauchte grüblerisch seine Zigarette.
Schließlich fragte Laurette, in der Hoffnung, ihren Bruder aufzutauen: »Und wo sind Audra und Christina heute hingegangen, was hast du gesagt?«
»Nach Fountains Abbey«, erwiderte er, ohne aufzusehen. »Noch eine Mallektion im Freien, eine Exkursion, wie Audra es nennt.« Dann sah er Laurette an und fügte hinzu: »Du weißt ja, dass sie Christie immer mit nach draußen nimmt, damit sie malt, an ihren freien Sonntagen.«
»Ja, und ich finde es großartig, wie sie euer Kind mit Bildern bekannt macht in den großen Häusern wie Temple Newsam und Harewood. Audra gibt Christie ein gutes Fundament, Vincent, sie wird gut vorbereitet sein für die Kunstakademie.«
Vincent nickte, sagte aber nichts.
Mike sagte: »Du hast gerade gesagt, dass du nicht mehr weißt, was du mit Audra machen sollst. Also lass uns darüber reden ... es hilft einem immer, wenn man sich aussprechen kann, und darum bist du doch heute Morgen hergekommen, oder?«
»Ja, das stimmt, Mike«, Vincent räusperte sich. »Ich mache mir Sorgen um Audras Gesundheit. Sie hetzt sich mehr denn je in der letzten Zeit und geht bis an die Grenzen ihrer Kräfte. Ihr kennt beide ihren Tagesablauf ... sie arbeitet verflixt hart am Krankenhaus und macht noch zusätzliche Dienste, wann immer sich die Gelegenheit bietet, verdient sich was dazu. Und dann, wenn sie heimkommt, kümmert sie sich um uns, kocht, macht sauber, wäscht und bügelt. Und unterweist Christie in Kunst. Und wenn sie all das gerade nicht macht, plackt sie sich an der verdammten Nähmaschine ab, die ihr Mrs Bell geschenkt hat, und schneidert für andere Leute. Von der Arbeit abgesehen spart sie an jeder Ecke, gönnt sich selbst nichts, um jeden Penny für Christinas Ausbildung zurückzulegen.«
Beide schauten ihn aufmerksam und mitfühlend an.
Vincent schüttelte resigniert den Kopf. »Diese unablässige Jagd nach Geld macht mir Sorgen, und ich kann sie nicht bremsen. Ich bin vollkommen hilflos.« Erneut wurde seine Stimme unerwartet flatterig. »Ich wage nicht, mich da einzumischen, ein Wort zu sagen ... wenn ich das früher gemacht habe, hat sie sich sofort auf mich gestürzt ... ich hatte gehofft, du könntest mit ihr reden, Mike, als Arzt, weißt du ... auf dich würde sie hören.«
»Das bezweifle ich, Vince«, erwiderte Mike düster. »Natürlich will ich es gern versuchen, aber es wird vergebens sein. Und Laurette wird es ebenso gehen, obwohl sie Audra so nahesteht. Niemand und nichts wird sie bremsen können. Sie hat es sich in den Kopf gesetzt und ist dickköpfig.«
»Ja, das weiß ich nur allzu gut«, murmelte Vincent. »Alles hat schon vor Jahren angefangen, als Christina zur Welt kam. Damals habe ich Audra gesagt, dass sie von einer schrecklichen Kraft in ihrem Inneren angetrieben sei, und ich hatte auch recht.« Er fuhr sich mit der Hand über das müde Gesicht. »Es ist völlig in Ordnung, wenn man ehrgeizig ist und das Beste für sein Kind will, das verstehe ich schon. Aber was Audra in den letzten Jahren gemacht hat – das ist einfach anomal, wenn ihr mich fragt.«
Laurette sagte: »Ich weiß nicht, ob anomal das richtige Wort ist, Vincent ...« Dann stockte sie und suchte nach dem passenden Ausdruck, um zu beschreiben, was ihr gerade eingefallen war. Langsam und bedächtig sagte sie: »Was wir da beobachten, ist ein Willensentschluss, und zwar einer, dem so selbstlos und unerbittlich gefolgt wird ... dass es geradezu ehrfurchtgebietend ist.«
»Verdammt abschreckend, willst du wohl sagen«, versetzte Vincent rau. Er holte tief Luft und bemühte sich um Beherrschung. »Sieh mal, Laurette, ich will das Beste für unsere Christie, das kannst du mir glauben. Aber es gibt Grenzen für Leute in unseren Verhältnissen. Audra will viel zu viel für das Kind. Und außerdem ist es auch nicht fair – Christie hat kaum Freunde, keinen Spaß. Ich liebe Audra ...« Er hielt inne und räusperte sich. »Ich möchte nicht, dass sie zusammenbricht, krank wird. Ich versuche nur, sie zu beschützen.«
»Wie ich schon sagte, glaube ich nicht, dass sie auf einen von uns hören wird, aber ich werde trotzdem morgen mit ihr sprechen, Vince«, versprach Mike. »Ich muss sowieso zum Krankenhaus, um nach einigen Patienten zu sehen, und da werde ich schon eine Gelegenheit finden, mit ihr zu reden. Ich werde darauf bestehen, dass sie sich mal gründlich untersuchen lässt, nur so routinemäßig. So brauchst du dir wenigstens keine Sorgen mehr zu machen.«
»Ja, das würde mich sehr beruhigen, Mike. Vielen Dank.«
Laurette lächelte ihrem Bruder zu und streichelte seinen Arm. »Sieh das doch nicht alles so verbissen, Schatz. Es wird schon wieder werden.«
Vincent nickte, steckte sich die nächste Zigarette in den Mund und riss ein Streichholz an.
»Willst du nicht zu unserem Sonntagsessen hierbleiben?«, fragte Laurette. »Es gibt Lammbraten, neue Kartoffeln und frischen Kohl – das magst du doch so gern.«
»Nein, aber hab vielen Dank. Ich habe Bill und Jack gesagt, dass ich mich mit ihnen auf einen Drink im Traveler’s Rest treffen würde, und dann gehe ich wohl mit ihnen zu unserer Mam und werde da essen.« Vincent sah seine Schwester aus den Augenwinkeln an und sagte betont: »Ich will nicht, dass du unserer Mam davon erzählst, aber unser Bill überlegt sich, ob er zur Handelsmarine gehen soll.«
Laurette starrte ihn mit aufgerissenen Augen an und sagte: »Das wird ihr gar nicht gefallen! Wo unser Frank schon bei der Armee ist.«
»Ich weiß.« Vincent wandte sich an seinen Schwager. »Es wird einen Krieg geben, Mike. Das ist ganz offensichtlich. Hitler befindet sich schon auf dem Marsch, ist im März in Teilen der Tschechoslowakei einmarschiert, und grade letzte Woche hat er Polen ganz unmögliche Forderungen gestellt ...«
»Das habe ich gerade im Sunday Express gelesen, bevor du kamst«, unterbrach Mike ihn. »Dieser Mann wird immer gieriger, was Land angeht – nun verlangt er sogar, dass die Freie Stadt Danzig an Deutschland gehen soll. Und es sieht aus, als hätten wir uns verpflichtet, Polen bei dieser neuen Krise zu unterstützen – ebenso wie Frankreich.«
Sie wechselten einen besorgten Blick.
»Ein unruhiger Frieden ist es, den wir zur Zeit haben, Mike, und er wird auch nicht mehr lange halten ... bevor das Jahr zu Ende ist, werden wir gegen Deutschland Krieg führen, denkt an meine Worte.«
»Sag das nicht!«, rief Laurette und sah von ihrem Bruder zu ihrem Mann. »Werdet ihr ... werdet ihr beide gehen müssen, wenn es Krieg gibt?«
»Ja«, sagte Mike.