Der Frühling kam und mit ihm das Ende des »Scheinkriegs«.
Abends saß Audra wie gebannt vor dem Radio, während Christina ihre Hausaufgaben machte, zeichnete oder malte. Und je mehr Audra hörte, desto mehr sorgte sie sich um ihren Mann und die übrigen Familienmitglieder und Freunde, die gegen den Feind kämpften.
Die Ereignisse überschlugen sich, sodass sie kaum folgen konnte. Am 9. April marschierte Hitler in Dänemark und Norwegen ein. Dänemark fiel sofort, aber die wehrhaften Norweger kämpften heldenhaft und baten England um Hilfe. Ohne zu zögern, schickte man ihnen See- und Landstreitkräfte.
Drei Wochen lang taumelte Audra wie eine Schlafwandlerin umher und tat alles automatisch, als hätte man sie aufgezogen. Aus dem Radio wusste sie, dass Vincents Zerstörer zu den Schiffen gehörte, die man nach Norwegen entsandt hatte. Sie war ganz gelähmt vor Angst, und zum ersten Mal schien es, als habe sie ihr natürlicher Optimismus im Stich gelassen.
Die Nachrichten wurden mit jedem Tag finsterer; immer wenn sie eine Zeitung anfasste, befiel sie eiskalte Furcht.
Die deutsche Luftwaffe hatte die britischen Streitkräfte fast völlig vernichtet, als diese vergeblich versuchten, den Norwegern zu helfen. Gegen Ende des ersten Monats hatte man die meisten Engländer evakuiert. Vincents Schiff schleppte sich schließlich in die britischen Hoheitsgewässer zurück; wunderbarerweise war ihm nichts zugestoßen. Die Verluste waren sehr hoch, und bald sahen Audra und die übrigen Inselbewohner ein, dass es ein verhängnisvoller Fehler gewesen war, nicht auf die früheren Warnungen von Winston Churchill zu hören.
»Gott sei Dank ist er endlich Premierminister«, sagte Audra zu Laurette, als sie am Abend des 13. Mai vor dem Radio saßen. An jenem Morgen hatte Churchill vor dem Unterhaus seine erste Rede als Premierminister gehalten. In wenigen Minuten sollte er sich an die Nation wenden.
»Vincent hat immer gesagt, dass Churchill der Einzige ist, der uns aus diesem Dilemma herausführen kann, und ich weiß, dass er recht hat«, sagte Audra.
Laurette nickte. »Ja, das glaube ich auch, aber trotzdem wird dieses Unglück noch lange dauern.«
»Aber wir haben jetzt einen richtigen Führer ...« Dann brach Audra ab, tippte Christina auf die Schulter und machte eine Bewegung zum Radio hin, legte den Finger an die Lippen.
Alle drei saßen ganz reglos da und bemühten sich, jedes Wort mitzubekommen. Die großartige Stimme und Rhetorik von Winston Churchill begeisterte sie, der dem englischen Volk Anregung, Hoffnung und Mut zu geben verstand.
Audra und Laurette befanden sich an jenem Abend in Hochstimmung, aber als die Tage vergingen, merkte Audra, dass ihre Schwägerin recht gehabt hatte. Sie gingen äußerst schweren Zeiten entgegen, es würde lange dauern und gefährlich werden.
Zuerst kam die Hölle von Dünkirchen.
Tausende und Abertausende von englischen und alliierten Truppen waren an den Stränden Frankreichs gefangen, grausam zwischen den vorrückenden Deutschen und dem Meer eingeklemmt. England hielt den Atem an. Und dann wurden sie nur durch verzweifelte Bravourstücke gerettet, von einer kunterbunten Armada, die sich aus englischen Zerstörern, Kreuzern, Ausflugsbooten, Ruderbooten, Trawlern, Jachten und sogar Lastkähnen zusammensetzte. Zivilisten hatten auf Winston Churchills Bitte reagiert, dass jeder, der ein Schiff sein Eigen nannte, einspringen möge und der Royal Navy helfen solle, die Männer vom Strand zu holen. Und so hatten sie unzählige Leben gerettet – und die Fantasie von ganz England und ihren Alliierten mit ihrem außergewöhnlichen Mut gefesselt.
Das große Epos von Dünkirchen gab allen neuen Auftrieb, und wenn Audra über die allgemeinen Stationen des Krankenhauses ging, die ihr nun oblagen, merkte sie, wie stark bei allen der Kampfeswille war. Männer und Frauen ergriffen ihre Hand und sprachen mit Tränen in den Augen von ihrem Stolz und ihrer Vaterlandsliebe, erwähnten Churchill mit ehrfürchtiger Verehrung.
Auch Audra setzte großes Vertrauen in Winston Churchill, diesen Mann, der ihnen erst einige Wochen zuvor gesagt hatte: »Ich habe nichts zu bieten als Blut, Mühsal, Tränen und Schweiß.« Sie begriff solche Worte nur zu gut, und sie wusste auch, dass Dünkirchen erst der Anfang war ... am 4. Juni hatte Churchill das englische Volk gewarnt, dass bald ein schrecklicher Sturm über sie hereinbrechen und sie alle auf die Probe stellen würde. Und so kam es auch.
Frankreich fiel.
Plötzlich stand England allein.
Im August warf sich die deutsche Luftwaffe mit ihrer ganzen Kraft auf das Land, und die Bombardements sollten monatelang anhalten.
Die Schlacht um England hatte begonnen.
Zuerst konzentrierten sich die Bombenangriffe auf London und die Grafschaften im Süden, aber bald wurden sie weiter gefächert und viele der Industriestädte und Flughäfen in den Midlands und im Norden stellten bevorzugte Ziele dar.
Eines Samstagnachmittags schnitt Audra gerade in ihrem Garten Rosen, als das Dröhnen von Flugzeugen und das harte, gnadenlose Rattern von Maschinengewehren die Stille des schwülen Tages durchbrachen.
Ruckartig schaute sie auf. Und als sie gegen das Sonnenlicht die Augen zusammenkniff, konnte sie einen verzweifelten Luftkampf erkennen, der im blauen Sommerhimmel direkt über ihrem Haus und ihrer behüteten kleinen Welt tobte.
Audra war erschreckt und schockiert von dem Anblick eines Nahkampfes zwischen der Royal Air Force und der deutschen Luftwaffe. Dass so etwas über England mitten am hellen Tag passieren konnte, machte sie sprachlos. Einen Augenblick stand sie wie angewurzelt da und starrte zum Himmel empor. Dann explodierte eines der Flugzeuge in einem Flammenwirbel und stürzte ab.
»Mam! Mam!«, schrie Christina und warf Palette und Pinsel hin, kam den gepflasterten Pfad entlanggerannt.
Ihre Stimme riss Audra aus ihrer Starre und ließ sie schlagartig handeln. Sie griff nach Christinas Hand, lief schnell mit ihr den Pfad wieder zurück und in den Luftschutzkeller hinein.
»Es ist wohl besser, wenn wir uns hier ein Weilchen unterstellen, falls Trümmer herunterfallen«, sagte Audra und warf der Neunjährigen einen beruhigenden Blick zu. Dann zwang sie sich zu einem optimistischen Lächeln. »Wir hätten wohl auch ins Haus gehen können, aber ich laufe in der letzten Zeit immer in den Keller.«
»Es war so ein schöner Nachmittag, und dann passierte es so plötzlich, nicht, Mam?«
»Ja.« Audra sah starr auf die Wellblechwand des Unterstands, und ein abwesender Zug trat in ihr Gesicht, als sie mit betrübter Stimme leise sagte: »Friedvolle Herzen, unterm Himmel Englands.«
»Das ist von Rupert Brooke, aus dem Buch, das deine Mutter dir vor langer Zeit geschenkt hat, nicht wahr, Mam?«
Audra nickte. »Ja, und als ich vor ein paar Minuten zu unserem schönen englischen Himmel empor sah, Christina, und diese Flugzeuge sah, die sich da bis zum Letzten bekämpfen, da fiel mir diese Zeile wieder ein. Ich fragte mich, wann wohl unsere Herzen wieder friedvoll sein dürfen.«
Etwas wie Angst flackerte kurz in Audras blauen Augen auf, als sie sagte: »Es hätte Theo sein können, da oben ... er ist so jung, erst neunzehn. Aber all unsere Burschen in der Air Force sind noch so jung. Ach, ich bete darum, dass Theo nichts passiert, Christie, ich bete jeden Tag für ihn.«
»Ja, Mam, ich auch, wenn ich für Daddy und Tante Maggie und Onkel Mike bete, und für all meine Onkel und jeden, der für uns kämpft.«
Nicht lange nach diesem Vorfall verstärkten die Deutschen ihre Luftangriffe auf England, und wenn London auch die Hauptzielscheibe war, gehörte Leeds doch zu den Städten des Nordens, die unter heftigen Beschuss gerieten.
Audra und Christina fanden sich nun fast jede Nacht im Luftschutzbunker ein. Aber sie waren die einzigen Bewohner dort. Es war Audra nicht gelungen, die alte Miss Dobbs zu bewegen, mit ihnen zu kommen, und die Familie im dritten Häuschen der Sackgasse war während der Angriffe zu Freunden aufs Land gezogen.
War Laurette gerade zu Besuch, wenn das todverkündende Klagen der Sirenen ertönte, bestand Audra darauf, dass sie die Nacht bei ihnen im Bunker verbrachte. Sie ließ es nicht zu, dass Laurette während eines Angriffs nach Hause in die Moorfield Road ging, auch wenn der Himmel hell war vor Suchscheinwerfern. Audra hielt sich streng an die Vorschriften, von der Zivilverteidigung war Order ergangen, dass man nicht auf die Straße gehen durfte.
Der Luftschutzraum war gut ausgerüstet mit Feldbetten, Decken und Kissen, Kerzen, Paraffinlampen, einem Kerosinherd zum Heizen sowie einer Erste-Hilfe-Ausrüstung. Audra hatte Dosen mit Lebensmitteln gestapelt, und jeden Tag trugen sie und Christina Flaschen mit frischem Wasser zum Unterstand hin, um für alles gerüstet zu sein.
Aber trotz der Bombenangriffe, der ständigen Angst, der Sorgen, die sie sich um Vincent und die übrigen Familienmitglieder und Freunde machte, der erschwerten Lebensverhältnisse, ging der Alltag weiter.
Die Zeitungen waren voll mit Spekulationen über eine deutsche Invasion Ende August, aber das englische Volk schien das mit der ihm eigenen Unerschütterlichkeit hinzunehmen.
Audra fasste die allseits verbreiteten Ansichten zusammen, als sie an einem der letzten Augusttage zu Christina sagte: »Invasion ja oder nein, du fängst in Miss Mellors Privatschule für Mädchen an, wenn das Wintersemester im September beginnt. Denn du musst ja eine Ausbildung haben, ob nun die Deutschen hier landen oder nicht. Und außerdem werden wir bis zuletzt gegen sie kämpfen, wie Winston Churchill gesagt hat, sodass keiner von ihnen übrigbleibt.«
»Willst du damit sagen, dass ich nun doch auf Miss Mellors Schule komme?«, rief Christina aufgeregt und strahlte sie an.
Die beiden saßen im Oberdeck der Straßenbahn, die nach Leeds hineinfuhr, und Audra drehte sich zu ihr um und sah sie an. »Natürlich wirst du das. Warum bist du denn so überrascht?«
»Na, du hast eben in der letzten Zeit nicht mehr davon gesprochen, obwohl ich die Aufnahmeprüfung bestanden habe. Ich dachte, du hättest es dir anders überlegt.«
»Warum sollte ich es mir denn anders überlegt haben, Liebling?«
»Ich dachte, Grandma hätte vielleicht was zu dir gesagt, Mam.«
»Grandma?«
»Ja. Ich habe gehört, wie sie Grandpa gesagt hat, du solltest mich nicht auf eine Privatschule schicken, Christ Church sei gut genug. Sie sagte, du hättest große Rosinen im Kopf, was mich anginge, und damit würdest du dir bloß Ärger einhandeln. Ich dachte, sie hätte dir dasselbe gesagt und du hättest auf sie gehört.«
»Den Tag möchte ich erleben«, entgegnete Audra mit einiger Schärfe. »Aber nur so aus purer Neugier – was hat denn Grandpa dazu gesagt?«
»Er sagte, es sei klug von dir, nach den Sternen zu greifen, dass er dich dafür bewunderte, und dann hat er ihr gesagt, dass ich eines Tages eine große Künstlerin sein würde.«
Audra lächelte in sich hinein. »Da hat dein Großvater ganz recht, Christie.«
Kameradschaftlich hakte Christina ihre Mutter ein. »Und fahren wir deshalb in die Stadt, Mam? Um mir eine Schuluniform zu kaufen?«
»Ja, genau. Und ich bin ganz aufgeregt, dass du nun bei Miss Mellor anfängst, Christie. Sie haben dort hervorragende Kunstkurse, und ich habe mich lange mit der Kunstlehrerin unterhalten. Sie ist mit unseren Plänen vertraut und wird dich gut auf das Leeds College of Art vorbereiten.«
»Und danach komme ich ans Royal College of Art in London, ja, Mutter?« Christina sah Audra an, die grauen Augen hell vor freudiger Erregung.
Audra konnte sich das Lachen nicht verkneifen. »Natürlich, das habe ich dir schließlich versprochen, nicht wahr? Aber sie werden dich nicht nehmen, ehe du zwanzig bist, weißt du. Wir haben noch einen langen Weg vor uns.«
Christina und Audra hatten immer ein enges Verhältnis zueinander gehabt, das nun in den Kriegsjahren noch inniger wurde. Da Vincent weit weg war, gab es nur sie beide, und obwohl sie Laurette mindestens einmal in der Woche sahen, waren sie meistens allein.
Audra war hauptsächlich mit der glänzenden Zukunft beschäftigt, die sie für ihr Kind geplant hatte. Wenn sie nicht gerade an jeder Ecke sparte, um Christinas Ausbildung bezahlen zu können, fand sie Mittel und Wege, den Horizont des Kindes in bildender Kunst und auf anderen Gebieten zu erweitern.
In Anbetracht des Krieges wurden im Theater von Leeds nicht sehr viele Stücke aufgeführt. Aber wenn etwas Neues Premiere hatte, bemühte sich Audra immer um Karten; sie nahm Christina auch mit in Konzerte klassischer Musik und in die Oper. Jedes Mal wenn Ensembles nach Leeds kamen. Außer diesen Vergnügungen gehörten auch Bücher zu Audras Kulturprogramm, das sie für ihre Tochter entwickelt hatte, besonders die englischen Klassiker. So entwickelte Christina schon in jungen Jahren die Freude am Lesen.
Wie immer bildeten die Filme ihr Hauptvergnügen in den vierziger Jahren, und es war ein großer Spaß für sie beide, Samstagabend ins Kino zu gehen. Meist begleitete Laurette sie. Sie und Audra standen sich nun näher denn je, zusammengeführt durch so viele Gemeinsamkeiten und Familienbande, aber vor allem, weil sie sich so gern hatten.
Als sich die Kriegsjahre dahinschleppten, wurden die Heimaturlaube seltener und unregelmäßiger, und weder Vincent noch Mike kamen mehr als einmal zu Besuch zwischen dem Sommer 1941 und dem Winter 1942.
Beide Frauen machten sich endlose Sorgen um ihre Männer und den Rest der Crowther-Familie, der im Feld war. Aber sie waren tapfer und lernten, mit ständigen Luftangriffen, den Aufenthalten im Luftschutzbunker, Lebensmittelkarten, Engpässen und Schwierigkeiten zu leben, und mit der schrecklichen Angst, geliebte Menschen zu verlieren. Und so klagten sie nicht und bemühten sich immer, nach vorn zu schauen, zum Tag, an dem England den Krieg gewinnen und das Leben wieder normal werden würde.
Im Oktober 1944 ereignete sich etwas sehr Schönes für Audra. Margaret Lennox, die sie seit ihrer Zeit in Ripon immer verehrt hatte, wurde zur Oberin des Leeds Infirmary ernannt. Und fast umgehend rief sie Audra im St. Mary’s an, um ihr die Stelle als leitende Oberschwester der Operationsstation anzubieten. Audra nahm gleich am Telefon ihr Angebot an, ohne darüber länger nachzudenken. Sie würde mehr verdienen als im Augenblick, und es war eine Herausforderung. Außerdem hatte Audra schon immer davon geträumt, wieder mit Oberin Lennox zusammenzuarbeiten.
Sie brauchte nicht lange, um sich im Leeds General Hospital einzuleben, auch wenn es dort riesig und hektisch war und lange nicht so gemütlich und intim wie im St. Mary’s. Aber sie fand ihre Arbeit anregend und befriedigend, und während sie sich mit der ihr eigenen Verve darauf stürzte, merkte sie, dass es ihr auch dabei half, ihre Ängste zu vergessen.
Zu Audras großer Erleichterung brachte der Anfang des Jahres 1945 die gute Nachricht eines alliierten Durchbruchs in ganz Europa. Das Blatt wendete sich, und es war deutlich zu erkennen, wer den Krieg gewinnen würde. Alles war nur noch eine Frage der Zeit.
Bald griff Audra eher eifrig als ängstlich nach der Zeitung und schaltete das Radio gern an. Im Frühling war sie schon ganz optimistisch – so wie jeder Engländer –, und am 7. Mai unterzeichnete Deutschland in der französischen Stadt Reims die bedingungslose Kapitulation.
Plötzlich war der Krieg in Europa zu Ende.
Audra und Christina konnten es kaum glauben. Sie lachten und weinten abwechselnd, als sie sich im Häuschen in der Pot Lane fest in den Arm nahmen.
Zwei Tage zuvor hatte Christina ihren vierzehnten Geburtstag gefeiert, und nun sagte sie zu Audra: »Aber dies ist mein schönstes Geburtstagsgeschenk, dass ich weiß, dass es vorbei ist und Daddy nun in Sicherheit.«
»Ja, mein Liebling.« Audra sah zur Sammlung gerahmter Fotografien hinüber, die dort nebeneinander auf der Anrichte standen: Vincent, ihr Bruder William in der australischen Uniform, Mike, Theo Bell, Maggie und Vincents Brüder Frank, Jack, Bill und Danny, und Olives Mann Hal. Wie schneidig und stolz sie alle aussahen in ihren verschiedenen Uniformen!
Dann wandte sie sich Christina zu und sagte sehr leise: »Sie sind jetzt alle in Sicherheit, Gott sei Dank! Welch Glück wir gehabt haben ... mehr als die meisten anderen.«