Christina liebte ihre kleine Londoner Wohnung.
Sie befand sich in einem großen engen Haus in der Chester Street, nicht weit vom Belgrave Square. Das Haus gehörte Irène Bell. Christina und ihre Mutter waren dort in der Vergangenheit schon öfter kurz abgestiegen, auf ihren Bildungsfahrten nach London, um die vielen Galerien und Museen zu besuchen. Und so kannte Christina sich schon gut aus.
Irène Bell vermietete Audra das Apartment für vier Guineen in der Woche. Audra meinte, es sei ein guter Handel, und das war es auch, aber Christina wusste, dass Mrs Bell nur sehr ungern von ihrer Mutter Miete verlangte. Sie hätte ihr die Wohnung viel lieber umsonst überlassen. Aber wie sie Christina unter vier Augen gesagt hatte, wäre das nicht Audras Art. »Deine Mutter ist zu klug«, hatte Irène Bell gesagt. »Wenn die Miete ihr nicht hoch genug erscheint, wird sie misstrauisch.« Christina hatte dem zugestimmt, und so hatten sie sich eine angemessene Summe überlegt.
Die Wohnung befand sich im obersten Stockwerk, ein ausgebautes Dachgeschoss mit Wohnzimmer, Schlafzimmer, Badezimmer und Küche. Sie besaß einen separaten Eingang und bildete eine abgeschlossene kleine Einheit innerhalb des Hauses.
Ursprünglich hatte Irène Bell dieses Apartment oben im Haus für ihre Töchter ausbauen lassen, die dort in verschiedenen Abschnitten ihres Lebens wohnten. Erst war es ihre kleine Zweitwohnung gewesen und später die Theos, als er in Cambridge Jura studierte und manchmal die Wochenenden in London verbrachte. Theo, inzwischen dreißig Jahre alt und Anwalt, hatte vor Kurzem geheiratet und wohnte mit seiner Frau Angela im Stadthaus. Manchmal kam Irène Bell und besuchte ihren Sohn und ihre Schwiegertochter, aber nur selten. Sie war jetzt in ihren Siebzigern und machte seit dem Tod von Thomas Bell vor drei Jahren nur noch selten weite Reisen. Sie hielt lieber in Calpher House hof und ließ ihre Kinder und die vielen Enkelkinder dorthin zu Besuch kommen.
Am Tag, da Christina und Audra aus Leeds ankamen, war das Haus der Bells in Belgravia vollkommen verlassen. Theo und Angela machten Urlaub in Frankreich, aber Mrs Bell hatte Audra die Schlüssel gegeben und ihr gesagt, dass sie es sich dort gemütlich machen sollten.
Das hatten sie inzwischen getan, und nun, zum Ende der ersten Woche in London, hatte Christina sich in ihrem neuen Zuhause unter dem Dach eingerichtet. Sie hatte die Staffelei, ihre Leinwandvorräte, Farben und Pinsel ausgepackt und weggeräumt, ebenso wie ihre Bücher, Kleider und übrigen Sachen.
Ihre Garderobe füllte den großen Schrank im Schlafzimmer ganz aus, und jedes Mal wenn Christina hineinschaute, war sie aufs Neue beeindruckt von der großartigen Auswahl an Kleidern, die ihre Mutter ihr genäht hatte.
Das Maßnehmen, Schneiden, Feststecken, Nähen und Bügeln hatte in den vergangenen acht Monaten kein Ende genommen, aber erst jetzt, da sie alles nebeneinander hängen sah, begriff sie, was für eine unglaubliche Leistung es von ihrer Mutter gewesen war, diese modischen Stücke anzufertigen.
»Ich werde das eleganteste Mädchen am Royal College of Art sein«, sagte Christina zu Audra an einem ausklingenden Freitagnachmittag, als sie ein perlgraues Seidenkleid aus dem Schrank nahm, es sich anhielt und in den Spiegel schaute.
»Das will ich hoffen«, lachte Audra verhalten, die sie von der Tür des Schlafzimmers aus beobachtete. »Ich habe hart genug dafür gearbeitet.«
»O Mummy, das hast du wirklich! Das weiß ich. Ich danke dir für all meine schönen Kleider, für all die Zeit und Mühe, die du darauf verwandt hast und für das Geld, das du dafür ausgegeben hast. Du bist wirklich fantastisch, Mutter.«
»Da bin ich mir nicht so sicher«, sagte Audra und fegte hastig den Dank und das Lob beiseite. Aber trotzdem sah sie sehr erfreut aus, als sie ins Schlafzimmer trat und sich auf eins der beiden Betten setzte.
Christina wirbelte herum, das Seidenkleid immer noch an ihren biegsamen Körper gepresst. »Wie fändest du dies fürs Theater heute Abend, Mummy?«
Audra nickte zustimmend.
Christina strahlte sie an, hängte das Kleid an die Schranktür und sagte: »Dann will ich die passenden Schuhe und Handtasche dazu suchen ... werde wohl die schwarzen Lacklederschuhe wählen. Und vielleicht auch den grauen Seidenschal von Dior, den mir Grandma zum Geburtstag geschenkt hat, falls es hinterher kühl wird.«
»Das wird kaum der Fall sein«, erwiderte Audra. »Es ist schrecklich heiß heute. Ich glaube, uns steht dieses Wochenende eine Hitzewelle bevor.«
»Sag das nicht, Mutter«, rief Christina und verzog das Gesicht. »Wir wollen doch am Sonntag einen Ausflug nach Windsor Castle machen. Ich habe nicht die geringste Lust, den ganzen Tag unter der glühenden Augustsonne herumzustolzieren.«
Audra lächelte und lehnte sich in die Kissen, sah ihrer Tochter zu, wie sie ihre Accessoires für den Abend zusammensuchte und dachte, wie großartig sie doch aussähe.
Das hellbraune Haar, das Christina als Kind gehabt hatte, war schon vor Jahren zu einem dunkleren, satten Kastanienbraun geworden, und im Sommer war es von der Sonne mit rotgoldenen Strähnen durchzogen. Die Ähnlichkeit mit ihrem Vater war auffällig, und wenn sie auch nicht direkt schön war, hatte sie doch ein faszinierendes Gesicht mit reinen, wie gemeißelten Zügen und einer genauso schönen Haut wie Audra. Ihre riesigen grauen Augen waren Laurettes, und sie maß 1,70 Meter. Das freute Audra besonders. Sie hatte es immer gehasst, so klein zu sein.
Von ihrem attraktiven Äußeren und ihrer offensichtlichen künstlerischen Begabung abgesehen hatte sich Christina auch in anderer Hinsicht zu einer außergewöhnlichen jungen Frau entwickelt. Das fanden alle. Und Grandma Crowthers Prophezeiungen, dass die Privatschule und Audras Flausen im Kopf nur Ärger bringen würden, hatten sich nicht erfüllt. Christina war nicht schwierig, aufsässig oder eingebildet geworden, und sie hatte sich auch nicht von ihren Eltern abgewandt und ihnen ihre Freunde vom College vorgezogen. Ganz im Gegenteil. Sie war eine liebevolle Tochter, die Audra und Vincent ebenso liebhatte wie die beiden sie. Nach wie vor liebte es die Tochter, mit den Eltern zusammen zu sein und glaubte, sie seien etwas ganz Besonderes.
Audra Crowther hatte ihre Arbeit gut gemacht.
Sie hatte Christina nicht nur von allem das Beste gegeben, soweit es in ihrer Macht stand, sie hatte dem Mädchen auch das Wertvollste von sich selbst geschenkt. Sie hatte Christina die menschlichen Tugenden beigebracht und ihr Ehrgefühl, Pflichtbewusstsein und Strebsamkeit vermittelt. Sich ihrer eigenen vornehmen Erziehung entsinnend, hatte Audra Christina so erzogen, dass diese rücksichtsvoll anderen gegenüber war. Doch vielleicht war es das Wichtigste, dass Audra Christina noch etwas anderes gezeigt hatte, etwas von unschätzbarer Bedeutung – Selbstwertgefühl.
Wenn Audra auch Vincent gegenüber oft verschlossen und reserviert gewesen war, was häufig den Grund für ihre Schwierigkeiten ausgemacht hatte, war es ihr bei ihrem Kind gelungen, ihre Liebe in Worte zu fassen und körperlich zum Ausdruck zu bringen. Doch war diese bedingungslose Liebe auch von Disziplin begleitet gewesen, und zwar von beiden Elternteilen. Vincent war oft streng zu Christina gewesen, besonders während ihrer Teenagerjahre, und immer wenn es sich um Jungen handelte.
Ja, sie besitzt eine gewisse Anmut, dachte Audra, als sie ihre Tochter beobachtete. Aber sie ist keinesfalls vollkommen – wer ist das schon? Christie hat Vincents leicht erregbares, ziemlich heftiges Gemüt geerbt, und seinen teuren Geschmack, seine Freude an Kleidungsstücken und an den schöneren Seiten des Lebens. Sie kann sehr ungestüm sein. Doch im Großen und Ganzen ist sie kein verwöhntes Kind. Audra lächelte. Wie oft hatte Eliza gesagt: »Du und Vincent, ihr verwöhnt das Mädel. Ihr werdet das noch bereuen ... wer sein Kind liebt, der züchtigt es.« Die Stimme ihrer Schwiegermutter hallte in ihr nach.
»Du siehst so nachdenklich aus, Mummy. Ist irgendetwas passiert?«
Audra richtete sich abrupt auf. »Nein, nein.« Sie lachte trocken. »Ehrlich gesagt habe ich gerade an deine Großmutter gedacht. Sie dachte immer, meine Pläne für dich seien viel zu hochgesteckt und vermessen. Und überkandidelt ... das war ihr Lieblingsausdruck für alles, was mit mir zu tun hatte, als du noch klein warst.«
»Weiß ich doch. Sie ist altmodisch und hat solche Klassenvorurteile, die Arme. Aber sie meint es gut, Mummy, und sie ist immer sehr liebevoll mit mir umgegangen.« Christina schmunzelte wissend. »Aber ich bin ja auch das einzige Kind ihres geliebten Sturmvogels.«
»Sturmvogel?«
»Ja, so hat sie Daddy nach seiner Geburt genannt und als kleinen Jungen. Hat sie dir das nie erzählt?«
»Nein. Aber deine Grandma und ich, wir haben uns nie sehr nahegestanden, hatten selten die gleiche Meinung, und ihre Ansichten über die Rolle der Frau sind mir immer gegen den Strich gegangen.«
»Was willst du damit sagen?«
»Deine Grandma ist immer der Ansicht gewesen, die Frau solle dem Mann ... hm, eben Untertan sein. Lange bevor du zur Welt kamst, war sie ganz entsetzt, als ich sagte, ich wolle als Krankenschwester vorankommen. Sie sagte, es sei meine Pflicht, im Haus zu bleiben, Babys zu bekommen, nicht aus der Reihe zu tanzen und deinen Vater zu verwöhnen.«
»Das glaube ich, dass sie das gesagt hat, Mutter. Sicher hält sie es auch für falsch, dass ich nach London gegangen bin und nun das Royal College of Art besuche. Sie findet wohl, es sei pure Geldverschwendung. Als ich mich vor ein paar Tagen von ihr und Grandpa verabschiedet habe, schnalzte sie mit der Zunge und sagte, es sei alles ein völliger Unsinn, da ich meine Kunst doch aufgeben würde, um zu heiraten und Babys zu bekommen, sobald ich dem ersten passenden jungen Mann begegnete.«
Audra lächelte verkniffen. »Das hört sich ganz nach Eliza an ...« Nachdenklich richtete sie ihren strahlendblauen Blick auf Christina. »Weißt du was, Christie, ich bin stolz darauf, dass du ehrgeizig bist, dass du Karriere machen willst, dass du eine Menge vom Leben erwartest. Du kannst alles erreichen. Es gibt nichts, was du nicht schaffen kannst, wenn du nur hart genug dafür kämpfst, hart genug dafür arbeitest, dein Ziel nie aus den Augen verlierst. Und dir nie Grenzen setzt ...«
Lächelnd unterbrach Christina sie: »Das hast du mir ja schon immer gesagt ... ich kann mich noch gut daran erinnern, was Grandpa in jenem September äußerte, als du mich auf Miss Mellors Schule geschickt hattest und Grandma wie immer meckerte. Er sagte ihr, du hättest recht, nach den Sternen zu greifen. Er hat dich stets dafür bewundert, Mummy.« Dann klingelte das Telefon, und Christina ging zum kleinen Schreibtisch und nahm ab.
»Hallo, Daddy. Wie geht es dir?« Eine kurze Pause trat ein, in der sie aufmerksam lauschte, dann sah sie zu Audra hinüber und nickte lächelnd. »Ja, Daddy, ich verstehe.« Wieder eine Pause. »Ja, wir haben bei Fortnum gegessen und dann den Nachmittag im Tate verbracht, um uns die Turners anzuschauen.« Christina lachte über irgendeine Bemerkung, dann kam sie zum Ende. »Ich gebe dir jetzt Mummy.«
Audra erhob sich und ergriff den Hörer, den Christina ihr hinhielt. »Hallo, Vincent. Ist alles in Ordnung bei euch?«, fragte sie und verstummte sofort, als Vincent sie mit Worten überschüttete.
Christina schlüpfte aus dem Zimmer. Sie ging über den winzigen Flur und betrat die Küche, die neben dem Wohnzimmer lag. Nachdem sie den Kessel aufgesetzt hatte, holte sie Endivien, grünen Salat und Tomaten aus dem Kühlschrank und fing an, das Gemüse zu waschen.
Ein paar Minuten später trat Audra zu ihr in die kleine, wie eine Kombüse eingerichtete Küche. »Ich möchte dir helfen«, sagte sie.
»Es gibt aber nicht viel zu helfen«, Christina sah über ihre Schulter und sagte dann: »Ehrlich, Dad ist so schrecklich umständlich in letzter Zeit. Momentan kann ich überhaupt nicht mit ihm reden, ohne dass er mir sagt, ich solle auf mich aufpassen, und er sagt immer: ›Sei vorsichtig, Schätzchen, sei vorsichtig.‹ Ich weiß wirklich nicht, was in ihn gefahren ist.«
»Na, du bist eben nach wie vor sein kleines Mädchen, und er macht sich Sorgen, weil du jetzt ganz auf dich gestellt bist.«
»Mhm«, antwortete Christina nur, während sie eine Tomate abzog. Dann kicherte sie plötzlich und sagte: »Wirklich, du wirst eine enorme Telefonrechnung haben, Mum, wenn du nach Hause kommst. Daddy hat den Hörer die ganze Woche kaum aus der Hand gelegt.« Sie lachte, und ihre Augen tanzten mutwillig. »Ich glaube, er macht dir ein zweites Mal den Hof.«
»Sei doch nicht so albern«, rief Audra.
An jenem Abend lud Christina Audra ein, ihre Lieblingsschauspieler zu sehen – Vivien Leigh und Laurence Olivier.
Diese traten beim Festival of Britain auf, in Shaws Caesar und Cleopatra und Shakespeares Antonius und Cleopatra, was an aufeinanderfolgenden Abenden gegeben wurde.
Dies war Christinas große Überraschung für ihre Mutter.
Audra wusste, dass sie ins Theater gingen, aber sie hatte keine Ahnung, was sie sehen würden, und sie war freudig erregt, als Christina ihr es während der Busfahrt erzählte.
»Es hat keinen Sinn, das eine Stück ohne das andere zu sehen, also habe ich Karten für beide Abende gekauft, Mummy, wir gehen morgen noch mal.«
»O Liebling, du bist genauso extravagant wie dein Daddy«, sagte Audra, aber ihr Gesicht strahlte vor Glück.
»Es ist das Theaterereignis, Mum. Ich weiß bestimmt, dass wir einen wundervollen Abend vor uns haben, den wir nicht wieder vergessen werden«, versetzte Christina, so froh darüber, ihre Mutter einmal verwöhnen zu können.
Audra vermochte ihrer Aufregung kaum Herr zu werden, als sie ihre Plätze einnahmen. Sie drückte die Hand ihrer Tochter und flüsterte: »Danke, Christie, dass du dir diese wunderschöne Überraschung für mich ausgedacht hast ... das werde ich nie vergessen.«
Viel zu schnell ging Audras zweiwöchiger Aufenthalt in London zu Ende.
Für beide war es eine herrliche Zeit gewesen. Sie hatte es nicht nur Christina in ihrer Wohnung gemütlich gemacht, bevor diese im September ihre Kurse am Royal College of Art aufnahm, sondern sie konnten auch ein paar unbeschwert glückliche Tage miteinander verbringen. Neben weiteren Theaterstücken und Filmaufführungen, die ihnen immer Spaß machten, hatten sie Museen und eine große Zahl Kunstgalerien besucht.
Vincent hatte Audra etwas Geld mitgegeben und gemeint, dass sie dafür essen gehen sollten. Das hatten sie auch getan und einen Tisch in einem kleinen Bistro reservieren lassen, im Chez Jacques. An manchen Tagen machten sie sich nur in der kleinen Wohnung zu schaffen, spazierten im Green Park und The Mall entlang, bewunderten die Schaufenster in der Bond Street und stöberten bei Hatchard, Audras bevorzugtes Buchgeschäft. Mutter und Tochter hatten jede Minute genossen, und Audra würde ihre zwei Wochen mit ihrer Tochter zu diesem Zeitpunkt in Christinas Leben nie vergessen.
»Mein Aufenthalt hier in London war so schön«, sagte Audra, als sie im Taxi zum King’s Cross-Bahnhof saßen, Freitagmorgen, am Ende ihrer zweiten Woche.
»Für mich auch, Mummy«, erwiderte Christina und verstummte. Plötzlich wurde ihr klar, wie sehr sie ihre Mutter vermissen würde – und dass sie nun gänzlich auf sich selbst gestellt war.
Sie waren beide ein wenig traurig, als sie den Bahnsteig zum Zug nach Leeds entlanggingen, und bevor die Mutter einstieg, nahm Christina sie in den Arm und sagte mit bebender Stimme: »Ich werde dir nie genügend danken können oder imstande sein, es wiedergutzumachen, was du alles für mich getan hast, Mummy. Du bist die beste und großartigste Mutter.«
Staunen trat in Audras Gesicht. »Aber ich habe doch bloß meine Pflicht getan«, entgegnete sie.
Audra hatte Vincent gesagt, er bräuchte sie nicht vom Bahnhof abzuholen, und sparsam wie immer fuhr sie mit der Straßenbahn zurück nach Upper Armley.
Von dem Augenblick an, da sie das Haus betrat, war sie sich der Stille bewusst, ja sie war fast bestürzt darüber. Und als sie im Flur ihren Koffer abstellte und den Hut abnahm, fühlte sie, wie ihr die Tränen, die sie schon den ganzen Tag lang unterdrückt hatte, in die Augen stiegen. Jetzt ist aller Sonnenschein aus meinem Leben verschwunden, dachte sie und suchte nach einem Taschentuch.
Auch Vincent spürte Christinas Abwesenheit, als er abends von der Arbeit kam. Aber er sagte nichts davon zu Audra, da er ihren Kummer bemerkte. Stattdessen plauderte er über ihre Reise und bemühte sich, sie zum Reden zu bringen, um sie aufzuheitern. Und das gelang ihm auch für eine Weile.
Aber nach dem Abendessen, als sie vor dem Kamin saßen und Kaffee tranken, wurde Audra immer einsilbiger. Und so überließen sie sich ihren eigenen Gedanken.
Plötzlich glaubte Vincent, dass er mit ihr über seine Gefühle sprechen müsse. Er schaute zu ihr hinüber und murmelte: »Es ist seltsam, nicht wahr, unsere Christie nicht hier zu haben? So still, Audra, findest du nicht?«
»Ja.«
Vincent seufzte leise. »Na, mein Liebling, sie ist nun mal fort. Sie wird wohl nie wiederkommen – um hier zu wohnen, meine ich.«
Stirnrunzelnd sah Audra ihn an. »Das wünsche ich mir auch gar nicht für sie, Vincent. Wenn sie das täte, wozu wäre dann alles gut gewesen?«
»Ja, da hast du recht. Als sie noch ein Baby war, damals im St. Mary’s Hospital, hast du gesagt, du würdest ihr die Welt zu Füßen legen. Und das hast du auch getan, Schätzchen.«
Vincent trank langsam seinen Kaffee und holte dann seine Zigaretten heraus. Er spielte ein bisschen mit ihnen herum, ehe er sie auf den Kaffeetisch legte. Dann richtete er seinen Blick auf Audra. »Wir haben viel durchgemacht, du und ich.«
»Ja, das haben wir.« Sie hielt seinem Blick stand. Dann kam ihr eine seltsame Idee, und bevor sie sich bremsen konnte, sagte sie: »Wir sind geprüft worden, denke ich.«
Er sah sie aufmerksam an.
»Aber wir haben alles gut überstanden, nicht wahr, Vincent?«
Er nickte, dann räusperte er sich. »Was hältst du davon, am nächsten Wochenende mit mir einen Ausflug zu machen ... nun, wo wir allein sind, spricht doch nichts dagegen, oder?«
Audra war überrascht. »Wohin denn? Wo wollen wir hin?«
»Vielleicht nach Robin Hood’s Bay?«
»Und warum?«
»Weil wir dort unsere Flitterwochen verbracht ...« Vincent brach ab und holte tief Luft. »Es ist doch noch nicht zu spät für uns, Audra, was meinst du? Vielleicht können wir noch einmal von vorn anfangen, als ob dies der Anfang sei?«
»Vielleicht ist es das«, erwiderte sie.