Kapitel 34

Vincent entdeckte Christina, ehe sie ihn sah.

Sie war am Ende des Bahnsteigs aus dem Londoner Zug gestiegen, und er konnte beobachten, wie sie sich zwischen den anderen Reisenden durchschlängelte, die nun zum Drehkreuz am Ausgang drängten.

Wie jung und reizend sie in dem Kamelhaarmantel und den sehr hochhackigen Schuhen aussah. Sie kam forsch daher, die Schultern zurückgeworfen, den Kopf hoch; es war etwas sehr Selbstsicheres an ihr, und das freute ihn.

Im nächsten Monat würde sie dreiundzwanzig werden. Er konnte es kaum glauben. Es kam ihm vor, als sei es erst gestern gewesen, da er sie in ihrem Kinderwagen spazieren gefahren hatte. Sie war zu einem guten Mädchen herangewachsen, mit einem wachen Kopf auf den Schultern. Er vertraute ihr völlig. Als sie zuerst nach London gegangen war, hatte er sich Sorgen gemacht, hatte gebangt um ihre Menschenkenntnis, ihre Einschätzung von Situationen und besonders von Männern. Und dann hatte er sich eines Tages gefragt, warum er sich überhaupt sorgte. Sie hatten sie anständig erzogen, sie kannte den Unterschied zwischen Gut und Böse. Und sofort war er ruhig. Ja, auf ihre Tochter konnten sie stolz sein.

Plötzlich sah Christina ihn, winkte, lief schneller, strahlte sofort übers ganze Gesicht.

Vincent trat eilig vor, lächelte und winkte ebenfalls.

Sie blieben voreinander stehen.

»Hallo, Daddy!«, rief sie und ließ ihren Koffer zu Boden sinken.

»Hallo, mein Liebling«, sagte er glücklich und streckte den Arm nach ihr aus.

Sie umarmten sich lachend, traten dann zurück und sahen sich an. Es war der Nachmittag des Karfreitags, und sie hatten sich seit Weihnachten nicht mehr gesehen.

Er sieht ein bisschen müde aus, älter, dachte Christina verwundert. Man sah ihrem Vater selten das Alter an.

Sie sieht zufriedener aus denn je, dachte Vincent, und sein Herz zog sich unmerklich zusammen. Er wusste, dass sie sich aufregen würde, wenn er ihr von Audra erzählte. Er fragte sich, wann er es ihr sagen sollte. Na, auf jeden Fall, bevor sie zu Hause waren.

»Nun komm, Süße«, sagte er, nahm ihren Koffer, reichte ihr den Arm und schritt rasch mit ihr vom Bahnsteig. »Deine Mutter wartet schon auf uns und kann es kaum erwarten, wie immer.«

»Ich kann es auch kaum erwarten. Wo steht denn dein Auto, Dad?«

»Direkt vor dem Bahnhof, wir sind gleich zu Hause.«

Und als Vincent sie die Stanningley Road in Richtung Upper Armley entlangfuhr, erzählte Christina ihrem Vater fröhlich über ihre Pläne für die Osterferien. »Ich wollte gern das Wochenende bei dir und Mummy zu Hause verbringen, und wenn ihr beide dann nichts dagegen habt, würde ich gern einen Ausflug machen und ein paar Tage lang malen.«

»Schön. Und wohin wolltest du?«

»Erst hatte ich an den Lake District gedacht, aber ich möchte die See malen und überlege, ob ich an die Ostküste fahren soll ... Whitby, Scarborough, Flamborough Head, irgendwo dort. Was meinst du dazu?«

»All die Lieblingsplätze deiner Kindheit, was? Ich finde deine Wahl gar nicht schlecht, aber wie ist es denn mit der Gegend bei Ravenscar? Da gibt es einige dramatische Ansichten von den Klippen aus, und ganz in der Nähe ist ein nettes Hotel. Wir möchten gern, dass du es ein bisschen gemütlich hast bei deinen Exkursionen, weißt du.«

»Ihr verwöhnt mich viel zu sehr«, sagte sie lachend. »Ich wünschte, Mummy könnte ein paar Tage vom Krankenhaus weg und mich begleiten. Das würde ihr bestimmt guttun, meinst du nicht auch, Daddy?«

Vincent schwieg. Dann fuhr er rechts heran und hielt, drehte sich zu seiner Tochter um. »Ich muss dir etwas sagen ...«

»Was ist los?«, rief sie und schnitt ihm das Wort ab, wusste sofort, dass es etwas Schreckliches war, weil seine Stimme so merkwürdig klang und seine lebendigen Augen so besorgt dreinschauten. »Es geht um Mummy, nicht wahr?«

Vincent nickte. »Leider ja, Schätzchen.«

Sie ergriff seinen Arm und sah ihm angstvoll ins Gesicht. »Was ist passiert?«, wollte sie wissen.

»Deine Mam ist krank gewesen, schwer krank, Christie. Vor drei Wochen ist sie mit einer infektiösen Lungenentzündung zusammengebrochen. Sie war über zwei Wochen im Krankenhaus ... zuerst gab es Komplikationen, die Ärzte machten sich Sorgen um ihre Lungen. Nun schau mich nicht so ängstlich an, Süße, jetzt geht es ihr gut. Sie erholt sich zu Hause.«

Christina war einen Augenblick lang wie betäubt.

Sie starrte ihren Vater an, dann rief sie in aufflammender Wut: »Und warum hast du mir nichts davon gesagt? Wie falsch von dir, Dad, mich nicht zu benachrichtigen. Ich hätte bei ihr sein sollen, zumindest in der letzten Woche, die sie zu Hause gewesen ist.« Ihr Blick wurde noch wütender, und fast schreiend fügte sie hinzu: »Das hättest du mir doch sagen müssen!«

»Ich habe nicht gewagt, gegen den Wunsch deiner Mutter zu handeln, Christie, mein Liebling«, sagte Vincent ruhig. »Ich wollte sie nicht aufregen, und das hätte ich getan, wenn ich dich geholt hätte. Sie wollte nicht, dass du dir Sorgen machst. Du weißt doch, wie deine Mam ist.«

»Ich verstehe dich nicht, wirklich nicht«, sagte Christina hitzig und schüttelte dann verständnislos den Kopf. »Wie konntest du nur auf Mummy hören. Und wer hat sich denn überhaupt um sie gekümmert, seit sie zu Hause ist?«

»Ich«, sagte Vincent, ließ den Motor an und sah in den Rückspiegel, bevor er losfuhr. »Ich habe mir eine Woche Urlaub genommen. Wir haben nicht sehr viel zu tun im Moment, und ich hatte sowieso noch ein paar freie Tage.«

»Ich hätte doch letzte Woche schon kommen können«, zischte Christina in unvermindertem Zorn. »Ich habe in London nur die Zeit totgeschlagen und darauf gewartet, dass ich heimfahren konnte. Ich hatte überhaupt keine wichtigen Kurse am College.«

Vincent sah ein, dass es klüger war, zu schweigen. Da sie sich so ähnlich waren, konnten sie sich sehr leicht in die Haare geraten, und das war das letzte, was er heute wollte. Er trat den Gashebel durch und konzentrierte sich auf die Straße.

Als sie die Hälfte der Ridge Road hinter sich gelassen hatten, sah er sie aus den Augenwinkeln an und sagte sanft aber fest: »Ich hoffe, du hast dich jetzt beruhigt, meine Christie. Ich will nicht, dass du streitsüchtig ins Haus gestürmt kommst und deine Mutter aufregst.«

»Meine Güte, Dad, manchmal bist du wirklich unmöglich. Wie kannst du mir so etwas zutrauen?«

Audras Augen sahen noch blauer und größer aus als sonst. Ihr Gesicht war eingefallen und kreideweiß, es spiegelte deutlich ihre Leiden in den vergangenen Wochen wider. Aber als sie Christina in der Tür stehen sah, leuchtete ihr Antlitz.

»Hallo, mein Liebling«, sagte Audra mit schwacher Stimme und versuchte sich auf die Ellbogen zu stützen, als Christina an ihr Bett geeilt kam.

»O Mummy, liebe Mummy«, flüsterte Christina, kniete nieder und nahm Audra zärtlich in den Arm, hielt sie ganz fest. »Du hättest Daddy erlauben sollen, mich zu holen«, sagte sie leise ins Haar ihrer Mutter hinein. Dann gab sie sie frei, lehnte sich zurück und betrachtete sie genau, wollte ihren wahren Zustand ergründen.

Audra hob die Hand und berührte Christinas Gesicht. »Du musst dich um deine Studien kümmern, sie sind jetzt wichtiger als alles andere.«

Obwohl Christina das nicht fand und ihr die Gesundheit ihrer Mutter näherlag, nickte sie. Dann stand sie auf, ging zum Erkerfenster hinüber, zog einen Stuhl an Audras Bett und setzte sich.

Vincent kam herein und blieb am Fußende stehen. Er wandte sich an Audra: »Wie geht es dir denn, Liebes? Fühlst du dich wohl? Einigermaßen bequem?«

»Ja, danke, Vincent.«

»Dann werde ich mal Wasser aufsetzen«, sagte er.

Christina beugte sich vor, als ihr Vater das Zimmer verlassen hatte, und sagte fröhlich: »Na, jetzt bin ich endlich hier, Mummy, und in der nächsten Woche werde ich mich um dich kümmern. Ich werde dich so verwöhnen und verhätscheln, wie du es verdienst.«

Audra runzelte die Stirn. »Weihnachten hast du mir gesagt, du wolltest eine Exkursion zum Lake District machen. Du hast es dir doch hoffentlich nicht meinetwegen anders überlegt.«

»Nein, nein«, entgegnete Christina rasch. »Mein Studienberater meint, es sei nicht notwendig. Ich habe auch genügend fertige Bilder bei der Hand.«

»Das ist schön, dich eine ganze Woche lang hierzuhaben«, murmelte Audra und lehnte sich in die Kissen zurück, das Gesicht plötzlich ganz zufrieden. »Und wie geht es Jane?«

»Gut wie immer, und sie lässt dich herzlich grüßen.«

»Ich bin froh, dass du sie zur Freundin hast und gut mit ihr zurechtkommst in eurer Wohnung in der Walton Street. Es ist dort so hübsch und gemütlich.« Wieder ging ein Lächeln über Audras mageres Gesicht. »Erzähl mir alles, was du so machst ... du weißt, wie gern ich was von deinem aufregenden Leben in London höre.«

»Ja, das will ich gern tun, aber erst gehe ich nach unten und helfe Daddy ... möchtest du vielleicht auch etwas essen zu deiner Tasse Tee?«

»Nein, ich habe keinen Hunger, mein Liebling, aber vielen Dank.«

Christina lief nach unten und wollte ihren Vater warnen, dass sie ihre Pläne geändert hatte, bevor er mit irgendetwas vor ihrer Mutter herausplatzen konnte.

Sie fand ihn in der Küche, wie er ein Stück Butter auswickelte. Er sah auf, als sie hereinkam. »Ach, da bist du ja, Schätzchen. Ich habe vorhin beim Bäcker ein paar Rosinenbrötchen gekauft. Ich werde eines für deine Mutter streichen.«

»Sie hat gesagt, sie sei nicht hungrig, Dad.«

»Das wird sie bestimmt essen«, sagte er zuversichtlich. »Sie mag zu Ostern immer gern Rosinenbrötchen, das weißt du doch. Es ist eine Art von Tradition bei ihr, aus ihrer Kinderzeit in High Cleugh ... Rosinenbrötchen am Karfreitag.« Er schnitt das Brötchen durch und strich Butter darauf. »Dir kommt deine Mutter vielleicht sehr dünn vor, aber es geht ihr schon viel besser, Christie, wirklich, sie ist jetzt über den Berg.«

Christina nickte. »Hör mal, ich wollte dich nur warnen, dass du ja nichts über meinen Ausflug zur Ostküste sagst. Ich bleibe die ganze Woche hier und kümmere mich um Mutter.«

»Das wird ihr aber gar nicht gefallen, sie wird sich aufregen ...«

»Ich habe es ihr schon gesagt, Dad«, unterbrach Christina ihn fest. »Also verrate bitte nichts. Ich habe ihr gerade erzählt, dass mein Studienberater die Exkursion unnötig findet.«

»Na gut.« Er sah auf, und die Liebe zu seinem einzigen Kind blickte ihm aus den Augen. »Du bist ein gutes Mädchen, Christie, und es wird deiner Mutter mächtig Auftrieb geben, dich mal für eine Weile hierzuhaben. Mehr als jede Medizin.«

Es war eine anstrengende Woche für Christina.

Sie übernahm zu Hause die Pflichten, machte sauber, kaufte ein, kochte und bügelte, und natürlich kümmerte sie sich sorgfältig und mit der größten Hingabe um ihre Mutter.

Als die Osterwoche zu Ende war, bestand sie darauf, dass ihr Vater wieder zur Arbeit ging, und das tat er auch, obwohl er sich bei ihrer Mutter lautstark über ihre herrschsüchtige Art beschwerte. Als sie eines Morgens an ihrem Schlafzimmer vorüberging, hörte sie, wie er zu Audra sagte: »Ich habe dich ja immer gewarnt, dass sie das Zeug zu einem General hat, und ich habe doch auch recht behalten. Sie hat es mir gerade bewiesen. Und ich will dir was sagen, unter ihr würde ich nicht gern arbeiten.«

Christina hatte lächelnd ihre Pflichten erledigt. Sie wusste ja ganz genau, von wem sie ihre herrschsüchtige Art geerbt hatte – von ihrem Vater.

Ihre Mutter zu pflegen, sie zu verwöhnen und ihr jeden Wunsch von den Augen abzulesen gab Christina große Befriedigung. Aber als die Woche voranschritt, merkte sie plötzlich, dass ihre Mutter sich enorm angestrengt hatte, um vor ihr fröhlich und munter zu wirken.

Nun wurde es langsam offenbar, dass dies eine schreckliche Anstrengung für sie gewesen war. Am Ende der Woche sah Audra vollkommen erschöpft aus, und Christina machte sich immer mehr Sorgen.

Am Freitag, ihrem letzten Tag zu Hause, sah sie erschreckt, dass ihre Mutter vom Frühstück, das sie für sie bereitet hatte, kaum etwas aß. Sie hatte das Rührei mit Speck gar nicht angerührt, den Toast nur halb gegessen, den Pfirsich nicht einmal geschält.

»Mummy, du hast ja einen Appetit wie ein Spatz! Ich werde ja ganz krank vor Sorge sein, wenn ich weg bin.«

»Sei doch nicht albern, Liebling. Ich habe momentan keinen Hunger, das ist alles, und vergiss nicht, dass ich ziemlich krank gewesen bin, Christie. Mein Appetit wird schon zunehmen, wenn ich erst wieder bei Kräften bin, wenn ich aufstehen darf.«

»Ich will lieber noch eine Woche hierbleiben.«

»Das kommt gar nicht infrage, das lasse ich nicht zu. Du musst an deine Studien denken. Du darfst sie nicht vernachlässigen, es sind jetzt die letzten Monate.«

Christina seufzte, nahm das Tablett hoch und stellte es auf eine Kommode. Dann trat sie ans Bett heran, nahm die Hand ihrer Mutter. »Willst du denn nicht versuchen, den Pfirsich zu essen, wenn ich ihn für dich schäle?«

»Nein, danke.« Audra drückte ihr die Hand. »Es war wunderschön, dich hierzuhaben, Liebling, aber nun musst du zurück zu deinem Londoner Leben, zum College, zu deinen Freunden«, sagte sie und lächelte ihrer Tochter eindringlich zu.

Christina lächelte zurück, wurde dann aber zunehmend ernster.

Im strahlenden Sonnenlicht des Aprilmorgens lag das Gesicht ihrer Mutter hell beleuchtet, und zum ersten Mal seit Jahren erblickte sie Audra mit bestürzender Nüchternheit. Als ihre Augen auf jenem blassen Gesicht ruhten, das ihr so teuer war, empfand Christina ein wahres Entsetzen.

Wie ist sie in den letzten drei Jahren doch gealtert, dachte sie. Obwohl noch keine siebenundvierzig, sieht sie heute aus wie eine alte Frau.

Sie sah das mühevolle, aufopfernde Leben ihrer Mutter plötzlich mit solch atemberaubender Klarheit vor sich, dass Christina von einem tiefen Schmerz erfüllt wurde. Ihr Herz schmerzte vor Zärtlichkeit und Mitleid für diese kleine, zerbrechlich aussehende Frau, die für sie riesengroß war.

Christina spürte einen Kloß im Hals, beugte sich vor und schloss ihre Mutter in die Arme, wollte nicht, dass diese ihre Gefühle sehen sollte, die sie unvorhergesehen überwältigt hatten.

Und während sie Audra liebevoll an sich drückte, verstand Christina. Sie konnte nicht zulassen, dass ihre Mutter so weiterlebte. Ich darf es nicht, ich darf es einfach nicht, sagte sie sich. All diese Arbeit, diese Opfer, dieser Kampf für mich müssen ein Ende haben.

Ich selbst werde dem ein Ende setzen.