Kapitel 35

Später an jenem Tag, als sie im Zug saß, der nach London zurückfuhr, gelang es Christina immer noch nicht, das erschöpfte Gesicht ihrer Mutter abzuschütteln.

Und sie wusste, dass es sie noch lange verfolgen würde.

Als sie trübsinnig aus dem Zugfenster schaute, fragte sie sich, was sie nun tun sollte. Eines war sicher ... sie konnte nicht zulassen, dass ihre Mutter sie weiterhin unterhielt, nachdem sie zum Ende des Sommers am Royal College of Art abgeschlossen haben würde.

Christina seufzte und lehnte den Kopf gegen das Fenster. Sie würde Jahre brauchen, sich als Landschaftsmalerin einen Namen zu machen, bis sich ihre Arbeiten verkauften und sie davon leben konnte. Das war ihr vollkommen klar, wie es jedem Künstler heutzutage klar ist.

Audra wusste das. Wie oft hatte sie in den letzten Jahren gesagt: »Mach dir keine Sorgen, Christie. Mal du nur deine schönen Bilder und überlasse es mir, mich um das Geld zu kümmern und woher es kommt.«

Als Christina sich dieser Worte erinnerte, überlief sie ein kalter Schauer, und sie erbebte unwillkürlich. Genau das war ihr Problem – oder zumindest ein Teil davon: dass ihre Mutter entschlossen war, sie zu unterhalten, bis sie berühmt war und man sich um ihre Bilder riss.

Christina bekam eine Gänsehaut. Ein rätselhaftes Entsetzen ergriff sie. Wollte ihre Mutter im Leeds Infirmary arbeiten, bis sie eine alte Frau war, nur um ihre Miete zu bezahlen, ihr Kleider zu kaufen, ihr Essen zu verschaffen und für alles zu zahlen, was sie in ihrem Leben brauchte?

Nein, sagte Christina sich. Nein. Ich lasse es nicht länger zu, dass sie sich für mich abrackert, für mich Geld verdient. Das kommt gar nicht infrage. Ich werde dem ein Ende setzen, geradeso, wie ich es mir heute Morgen geschworen habe. Aber wie? Und was soll ich bloß tun? Sie kuschelte sich in der Abteilecke zusammen und schloss die Augen. Was soll ich bloß machen? Wie kann ich aus dieser Sackgasse herausfinden?

Die Räder des Zuges drehten sich unablässig, und es schien Christina, als hämmerten sie ihr diese Frage ein. Als sie endlich in den King’s Cross-Bahnhof einfuhren, hatte sie schreckliche Kopfschmerzen, und ihr war schwindlig. Sie überlegte sich, ob sie wohl nun eine Grippe bekäme.

Ein paar Sekunden danach, als sie den Bahnsteig entlangeilte, beschloss sie, ein Taxi zur Walton Street zu nehmen, auch wenn es jetzt ihre vordringlichste Aufgabe war, auf ihr Geld aufzupassen. Aber sie wollte unbedingt schnell in ihre Wohnung kommen. Sie sehnte sich nach deren friedvoller Einsamkeit. Sie wollte heute Nacht scharf nachdenken und ein paar gewichtige Entscheidungen treffen.

Wenn sie sonst aus Yorkshire zurückgekommen war nach den Ferien, war Christina immer enttäuscht gewesen, wenn Jane nicht schon in der Walton Street war und auf sie wartete. Aber als sie heute Abend aufschloss, war sie froh darüber, dass ihre Freundin nicht vor Sonntagabend von Hadley Court zurück sein würde.

Christina musste mit ihren Schwierigkeiten ringen, eine Lösung für sie finden. Aber bevor sie sich ganz darin vertiefte, rief sie ihren Vater in Leeds an, um ihm zu sagen, dass sie gut angekommen war. »Wecke Mummy nicht auf«, sagte sie, nachdem sie kurz mit ihm geplaudert hatte. »Nimm sie in den Arm und gib ihr einen dicken Kuss von mir.« Nachdem sie aufgelegt hatte, packte sie ihren Koffer aus und ließ sich ein Bad einlaufen.

Sie saß eine gute Viertelstunde lang in der Wanne, leerte ihren Kopf vollkommen aus, bemühte sich um Entspannung, und sobald sie merkte, dass sich ihre schmerzenden Muskeln lockerten, kletterte sie aus dem Wasser und trocknete sich kräftig ab.

In einen Bademantel gewickelt, lag sie zusammengerollt auf ihrem Bett und trank eine Tasse Kaffee mit Sahne und Zucker. Langsam ließ sie ihren Blick im Zimmer umherwandern ... an jeder Wand hing eines ihrer Bilder, und schließlich verweilte sie auf dem neuesten, das sie Lilie bei Hadley genannt hatte. Es war ein Ölbild vom Lilienteich bei Hadley Court, das von einer Unzahl von Grüntönen bestimmt war ... dem trüben Blaugrün des Teichs, dem helleren, weicheren Grün des feuchten Mooses und dem glänzenden, strahlenden Grün der schwimmenden Lilienblätter. Daneben stand das harte, klare Weiß der einzigen Lilie, deren Blütenblätter wundervoll konturiert und mit glitzernden, kristallklaren Tautropfen bedeckt waren, sowie die Farbe des Lichts – nur ein einziger schmaler Korridor von Strahlen, die im Hintergrund des Bildes das dschungelartige Blätterwerk durchschnitten. In diesem Licht lag ein Hauch von Gelb, sodass es aussah, als berühre es mit schimmerndem Sonnenschein das Wasser und breite sich dann fächerförmig und diffus über die Lilie aus.

Christina stellte ihre Kaffeetasse auf den Nachttisch und drehte sich auf die Seite, drückte das Gesicht ins Kissen. Plötzlich war es ihr unerträglich, dieses oder irgendein anderes Bild anzuschauen. Alle Freude, die sie an ihrer Kunst gehabt hatte, war plötzlich wie ausgelöscht, von ihrem Schmerz weggewischt.

Ein zu hoher Preis ist dafür gezahlt worden.

Audras Jahre der schweren, bedrückenden Arbeit ... ihre Gesundheit ... all die kleinen Annehmlichkeiten, aller Luxus, den sie sich sonst hätte leisten können ... ab und zu ein Urlaub ... ein neues Kleid.

Christina spürte ihre Tränen aufsteigen. Wie lange hatte sie ihre Mutter schon im selben blauen Matrosenmantel gesehen? Winter um Winter, jahrelang. Nun konnte sie den Tränenstrom nicht mehr aufhalten, und sie weinte um ihre Mutter und um all die verlorenen Jahre in Audras Leben, als sie sich abgeplackt hatte, um ihr eine Zukunft zu ermöglichen. Sie weinte, bis es schien, als hätte sich ihr Vorrat an Tränen erschöpft, dann schlief sie ein.

Es war Christina, als fiele sie ... fiele in einen dunklen Raum hinein, und sie riss die Augen auf, schreckte hoch und wurde wach. Einen Augenblick lang wusste sie nicht, wo sie sich befand. Dann erinnerte sie sich, dass sie in ihrem Bett in der Wohnung in der Walton Street lag. Sie sah zum Wecker. Es war fast ein Uhr morgens. Sie hatte schon länger geschlafen, erschöpft wie sie war.

Sie knipste das Licht aus, fiel in die Kissen zurück und schloss die Augen. Wieder dachte sie an ihr Problem. Sicher wäre es nicht allzu schwierig, einen Job zu finden, während sie malte, aber darum ging es nicht. Was zählte, war die Schuld, in der sie bei ihrer Mutter stand.

Diese plötzliche Erkenntnis war so einleuchtend, dass sie sich aufrecht im Bett hinsetzte. Und als sie ins Dunkel des Zimmers schaute, verstand sie, was sie seit Stunden gequält hatte: die Schuld, in der sie bei ihrer Mutter stand. Genau das war es. Diese musste sie abtragen.

Wenn mir das nicht gelingt, wird es mir alle Tage meines Lebens auf dem Gewissen liegen, dachte sie. Und das könnte ich nicht ertragen.