Kapitel 44

Auch wenn sie nun keine Landschaften mehr malte, nahm Christina doch alles als Spiel des Lichts wahr.

Während ihrer ersten Woche in Paris schien es ihr, als sei jeder einzelne Tag von einem strahlenden, unglaublichen Licht erfüllt. Wenn sie vom Hotel Ritz, in dem sie abgestiegen war, zu ihren verschiedenen Terminen ging, sah sie auf und staunte über den schimmernden Himmel, der wie ein Baldachin aus blassblauer Seide hoch über dieser schönsten aller Städte gebreitet war.

Das Wetter war prächtig, mild und sonnig, ohne jene Schwüle, die ihr London so verleidet hatte, ehe sie wegfuhr. Doch trotz ihrer Anerkennung für den strahlenden Himmel, den Sonnenschein, der sich auf der Seine spiegelte und durch die grünen Laubkronen der Bäume flimmerte, seinen sanften, goldenen Schimmer auf die breiten Boulevards und alten Gebäude warf, hatte Christina nicht den Wunsch, das, was sie sah, auf der Leinwand einzufangen.

An dem Tag, als sie ihre Malerei aufgab, hatte sie sich geschworen, dass sie ihr nicht nachtrauern, dass es ihr nicht leidtun würde, und daran hatte sie sich gehalten.

In gewisser Weise war es auch eine Erleichterung, nicht mehr darum kämpfen zu müssen, die berühmtesten Maler der Welt zu übertrumpfen, was ihre Mutter immer für möglich gehalten hatte. Es war aber unmöglich, William Turner zu überbieten, den größten aller englischen Landschaftsmaler des neunzehnten Jahrhunderts, der es so hervorragend vermocht hatte, Licht auf der Leinwand einzufangen. Oder van Gogh, Renoir und Monet, denen ähnliches gelungen war.

Und ihre Arbeit als Modeschöpferin machte Christina wirklich viel Spaß. Es war eine ständige Herausforderung, und ihr gefiel die geschäftliche Seite daran ebenso gut wie die schöpferische.

Verständlicherweise gab ihr die außerordentliche Resonanz auf ihre Arbeit viel Befriedigung, und Geld zu verdienen war mehr als angenehm – es war aufregend. Sie wusste, dass sie schon zum Ende des Jahres in der Lage wäre, ihr Darlehen bei Dulcie und Elspeth abzuzahlen. Aber das Wichtigste für sie war, dass ihre Mutter endlich beim General Infirmary von Leeds aufgehört hatte und damit einverstanden war, jeden Monat einen Scheck von ihrer Tochter anzunehmen. Es war ein Kampf gewesen, aber sie hatte schließlich gesiegt, was nicht unwesentlich ihrem Vater zu verdanken war, der zwischen ihnen vermittelt hatte. Er hatte verstanden, wie viel es ihr bedeutete.

Und in dieser Woche, nachdem sie ihre Besprechungen mit den Parfümherstellern beendet hatte, Stoffe begutachtet und sich allgemein um ihre Geschäfte gekümmert hatte, war es ihr gelungen, Geschenke für ihre Eltern zu besorgen. Für ihre Mutter hatte sie weichste Ziegenlederhandschuhe, einen Seidenschal und einige Blusen gefunden, für ihren Vater Seidenkrawatten, Voilehemden und ein elegantes Feuerzeug. Auch Jane hatte sie nicht vergessen, und sie kaufte ihrer besten Freundin eine umwerfende seidene Abendstola von Hermès in den hübschen Rosatönen, die Jane so liebte.

Christina schlenderte langsam über den Place Vendôme zum Ritz, früh am Freitagabend nach ihrer ersten Woche in Paris, und dachte an Jane. Es kam ihr unglaublich vor, dass Jane erst am letzten Freitag nach New York geflogen war. Es schien so viel länger her zu sein.

Sie vermisste sie schmerzlich, aber da sie in den vergangenen fünf Jahren unzertrennlich gewesen waren, war das wohl völlig normal. Jane war die beste Freundin, die sie jemals gehabt hatte, ihre einzige enge Freundin. Ihre Mutter hatte sie so viel mit Malen beschäftigt, dass sie, als sie klein war, nur wenig Zeit für Spielgefährten gehabt hatte oder für Freunde, als sie ein Teenager war. Immer nur Malstunden, Exkursionen, Museen und Galerien, immer wieder Kunst, Kunst, Kunst. Nun, da sie zurückschaute, stellte sie fest, dass sie die meiste Zeit als Heranwachsende mit Audra zugebracht hatte, ehe sie nach London aufs Royal College of Art kam.

Christina lächelte vor sich hin, als sie das Ritz betrat, und dachte etwas sehnsüchtig an das kleine Hôtel des Deux Continents, wo sie und Jane bei mehreren Parisreisen während ihrer Collegezeit abgestiegen waren. Welch ein Unterschied zu diesem eleganten Gebäude, in dem sich einst Hemingway die Zeit vertrieben hatte und wo Filmstars und Prinzen wohnten. Sie wünschte, Jane könnte bei dieser Reise dabei sein, hier sein ... wie viel Spaß würden sie zusammen haben.

Ihre Suite befand sich auf dem anderen Flügel des Ritz, auf der Seite des Hotels, die auf die Rue Cambon hinausging, und sie musste an einer langen Galerie von Geschäften vorübergehen, um die kleinere der beiden Eingangshallen zu erreichen. Sie hielt nicht inne wie sonst, um hier und da herumzustöbern; sie hatte es viel zu eilig, auf ihre Zimmer zu gelangen, die Schuhe abzustreifen und sich ein Kännchen Tee kommen zu lassen. Es war ein anstrengender Tag gewesen, und sie war viel gelaufen.

Der Concierge lächelte freundlich, als er ihr den Zimmerschlüssel reichte, und sagte, nein, es gäbe keine Nachricht, als sie ihn danach fragte. Sie erwiderte sein Lächeln, murmelte einen Dank und wollte zum Fahrstuhl gehen.

Da sah sie ihn.

Sie blieb wie angewurzelt stehen und starrte ihn an.

Sein Blick war auf sie gerichtet. Er erhob sich aus seinem Sessel und kam mit anmutigem, lässigem Schritt auf sie zu.

Sie war wie betäubt vom blauen Glanz seiner Augen.

Als er bei ihr angekommen war, sagte er nur: »Hallo.«

»Miles.« Nach einem kurzen Schweigen fand sie ihre Stimme wieder und brachte schließlich heraus: »Was machen Sie denn hier?«

Das kleine, amüsierte Lächeln, an das sie sich so gut erinnern konnte, zog einen seiner Mundwinkel etwas herab. »Ich bin hier abgestiegen«, sagte er. »Ich steige immer im Ritz ab, wenn ich in Paris bin.«

»Ach so.«

Entschlossen schob er eine Hand unter ihren Ellbogen und geleitete sie zum Fahrstuhl. Ohne ein Wort fuhren sie hinauf. In ihrer Etage stieg er ebenfalls aus. Als sie bei ihrem Apartment angekommen waren, machte sie sich mit ihrem Schlüssel zu schaffen und ließ ihn aus Nervosität fallen.

Er hob ihn auf, steckte ihn ins Schloss, hielt die Tür auf und folgte ihr hinein. Dann lehnte er sich gegen den Rahmen und beobachtete, wie sie sich vor ihm bewegte, so geschmeidig und anmutig. Sie hatte wunderbare Beine. Warum war ihm das nicht schon eher aufgefallen? Aber wie sollte es? In Hadley hatte sie dieses lange griechische Gewand getragen. Aber eines wusste er: Es durchglühte ihn wieder, wie an dem Abend, als er sie zum ersten Mal gesehen hatte, zu Anfang des Monats. Und deshalb war er doch auch hier.

Er ging auf den Salon zu und lehnte sich dort gegen den Türknauf, beobachtete sie immer noch fasziniert. Er konnte es nicht erwarten, sie in die Arme zu nehmen, sie zu lieben. Das würde er gern jetzt gleich tun, in diesem Augenblick. Aber er wusste, dass er so etwas niemals tun durfte. Er war ein Gentleman, und er wollte sie nicht erschrecken, indem er sich dreist auf sie stürzte. Sie kam ihm naiv und unerfahren vor, zumindest, was Männer betraf. Und trotzdem brannte er danach, sie besser kennenzulernen, ihre Nähe zu kosten und genoss die Vorfreude, sie am Ende ganz zu besitzen.

Christina legte Handtasche und Diplomatenköfferchen auf einen Stuhl und drehte sich dann so plötzlich um, dass sie ihn erschreckte.

Sie sagte: »Es ist doch kein Zufall, oder?«

»Natürlich nicht, Christina.«

Dann schritt er ins Zimmer, trat neben sie und ergriff ihre Hand, hielt sie fest und drückte sie zwischen seinen Fingern. Er sah ihr tief in die Augen, sein Gesicht dicht an ihrem, ihre Augen auf gleicher Höhe. Dann sagte er: »Ich bin zu dem Entschluss gekommen, dass ich nicht zwei Wochen warten wollte, um Sie zum Essen auszuführen. Und deshalb bin ich hier ... um mit Ihnen zu essen. Heute Abend – darf ich hoffen? Sind Sie frei?«

»Ja.« Sie betrachtete prüfend sein Gesicht, zog die Brauen zu einem Stirnrunzeln zusammen. »Sie haben hier nicht geschäftlich zu tun? Ich meine, Sie sind doch nicht von London nach Paris geflogen, nur um mit mir essen zu gehen, oder?«

»Und ob ich das bin!«

»Oh.« Sie fühlte, wie ihr eine plötzliche Hitze ins Gesicht stieg, und da war wieder diese Enge in ihrer Brust. Sie wollte wegsehen, konnte es aber nicht. Seine Augen bannten sie ebenso wie damals in Hadley Court.

Miles lächelte ein seltsames, knappes Lächeln und ließ dann ihre Hand los, ging zum Fenster hinüber und teilte die Vorhänge, sah in die Gärten unten hinab. Dann drehte er sich zu ihr um und sagte beiläufig: »Wenn wir nicht Juli hätten und alles voller Touristen wäre, würde ich Sie heute Abend zu Maxim führen, aber so ... und da ich auch keinen Smoking mithabe, wie es den Herren freitags vorgeschrieben ist, schlage ich vor, dass wir hier in den Hotelgärten zu Abend essen.«

»Wo Sie möchten, Miles. Hier wäre es sehr schön, denke ich.«

»Dann treffe ich Sie unten in der American Bar um ...« Er schob seinen Ärmel hoch und sah auf seine Armbanduhr. »Um acht Uhr? Ist Ihnen das recht? Dann hätten Sie noch eine Stunde Zeit, sich auszuruhen und umzuziehen.«

»Ja, das ist reichlich, vielen Dank.«

Er schritt durchs Zimmer, hielt vor ihr an und sah ihr zum zweiten Mal in den letzten Minuten tief in die Augen. Er nahm ihre Hand, küsste ihre Fingerspitzen und sagte dann: »Natürlich bin ich Ihretwegen nach Paris gekommen. Glauben Sie mir – es ist wahr. Verstehen Sie, ich musste immer an Sie denken, seitdem wir uns in Hadley begegnet waren.«

Bevor sie auch nur ein Wort sagen konnte, war er verschwunden, hatte den Salon durchquert und die Suite verlassen. Er sah sich auch nicht noch einmal um, wie sie es eigentlich erwartet hatte.

Leise fiel die Tür hinter ihm ins Schloss.

Sie stand allein mitten im Zimmer.

Einen Augenblick lang außerstande, all das aufzunehmen, was sich in den letzten – höchstens fünfzehn Minuten ereignet hatte, blinzelte sie. Er war ihr, sobald er es irgend konnte, nach Paris gefolgt ... er hatte heute Abend in der Hotelhalle gesessen und auf ihre Rückkehr gewartet ... und natürlich dachte er an mehr als nur an ein gutes Essen, wie Jane schon so richtig vorausgesagt hatte. Aber ihr ging es ebenso.

Sie hatte ihre Gedanken in den letzten zwei Wochen nicht von Miles Sutherland abwenden können, und ihre Enttäuschung über den abgesagten Lunch hatte noch tagelang angehalten. Sie schritt ins Schlafzimmer, knöpfte ihr schwarzes Leinenkleid auf und dachte über Miles nach.

Er war anders als alle Männer, die sie kannte. Und er war ein Mann, nicht wie die Studenten, mit denen sie sonst ausgegangen war, oder die jungen Männer, die in den letzten Jahren ihre Freunde gewesen waren.

Miles Sutherland war ein Mann von Welt. Ein kleiner Schauer überlief sie, als sie aus ihrem Kleid schlüpfte und zum Kleiderschrank hinüberging, wobei sie weiter an ihn dachte. Sie erschauerte wieder, erinnerte sich, wie intensiv und leidenschaftlich er sie angeschaut hatte, als er ihre Hand hielt und ihre Fingerspitzen küsste. Einen Augenblick hatte sie gedacht, er würde sie in den Arm nehmen, und ihr war ganz schwach vor Verlangen nach ihm gewesen. Ihre Aufregung und Vorfreude auf den heutigen Abend nahmen noch zu. Und als sie auf die Kleider vor ihr schaute, fragte sie sich, wie der Abend wohl verlaufen würde.

Ihre Hand hielt bei einem Cocktailkleid aus Chiffon inne, das in verschiedenen Lilas und Malventönen gehalten war, die ineinander übergingen und zu zartestem Grau verliefen. Es war ärmellos, hatte ein gerüschtes Oberteil, vorn und hinten einen tiefen Ausschnitt und einen weiten, bauschigen Rock.

Sie wusste, wie verführerisch sie darin aussah. Sie wollte für Miles Sutherland genauso unwiderstehlich sein wie er für sie.

Als sie sich ein paar Minuten später das Haar hochsteckte, bevor sie in die Badewanne stieg, betrachtete sie sich kurz im Spiegel. Sie konnte sein Gesicht deutlich vor sich sehen und spürte seine Gegenwart so stark, dass es war, als stände er hinter ihr und sähe sie im Spiegel an.

»O Miles«, sagte sie laut. »Ich musste auch immer an dich denken.«