Kapitel 16

Die Jubilee-Siedlung stand am Rand der Stadt, und die meisten Straßen verloren sich im Fenn. Sie war von den Untertanen Viktorias erbaut und von denen der zweiten Elisabeth in den fünfziger Jahren verlassen worden. Heute war sie ein Scherbenviertel – eine Beton-Jauchegrube für Menschen, die die Gesellschaft nicht über die Klospülung entsorgen konnte. Bei schlechtem Wetter zog es wilde Ponys von den Feldern her, die sich die Schnauzen an den warmen Entgasungsventilen der städtischen Mülldeponie wärmten. Es war ein Ort, von dem es in den Statistiken hieß, er existiere nicht.

Das Peking-House befand sich in einer Ladenzeile neben einem Zeitungskiosk, einem Waschsalon, einem Damenfriseur, einem Haustierbedarfsladen und einem Eck-Supermarkt, dessen Schaufenster mit Plakaten zugeklebt waren, die in Leuchtstift Preissenkung auf alles versprachen, sowie einem Pub namens Merry Monk, der für Ausschreitungen von Wildwest-Ausmaßen weithin berühmt war.

Humph parkte vor dem Restaurant – genau davor, so dass die Beifahrertür bündig an die Spiegelglastür anschloss. Humph war eine Symphonie in Zeit und Bewegung – anderer Leute.

Dryden fragte nicht einmal, ob Humph mit hineinkomme. Er wandte sich seinem Freund zu. »Weißt du, es ist unhöflich – draußen sitzen zu bleiben. Immerhin ist er auch dein Freund.«

Humph drückte auf den Knopf am Kassettendeck, und die seidige Stimme wollte von ihm wissen, wie denn das Wetter in Barcelona sei.

Sia Yew, der Besitzer des Peking, war ehemals Koch in einem Schnellrestaurant in Hongkong gewesen. Die letzten fünf Jahre der Kolonialzeit hatte er in der Küche des Offizierskasinos zugebracht – königliche Artillerie. Ausgestattet mit einem Empfehlungsschreiben des Generalgouverneurs und einem makellos modulierten Oberklasse-Englisch war er ins Vereinigte Königreich emigriert. Um den Vorurteilen seiner neuen Kundschaft gerecht zu werden, hatte er diesen Akzent ins Pidgin-Englische abgewandelt.

Dryden setzte sich an seinen Stammplatz am Fenster – eine Ehre, die ihm noch niemals verwehrt worden war, hauptsächlich wegen mangelnder Nachfrage. Er schlug unter dem Plastikschalensitz die Beine übereinander und spielte mit den Zahnstochern. Gary, den er per Handy zum Gratisessen gerufen hatte, befingerte seine Pickel und die Plastikspeisekarte.

»Yo, Mann«, grüßte Sia. Er hatte zwei halbwüchsige Söhne, denen er mit Begeisterung den neuesten Slang ablauschte. In der einen Hand schwang er ein blutbespritztes Hackmesser, in der anderen hielt er ein schnurloses Telefon. Die schrille, blecherne Stimme eines hungrigen Kunden war gerade noch hörbar.

Sia war dabei, den Rest der Takeaway-Bestellung aufzunehmen. »Chja. 14. 27. Zweimal 58. Danke – ja. Chop, chop. Express. Wiedaseen.«

Er steckte das Telefon in die Kitteltasche und spießte die Bestellung auf eine Nadel auf der Theke. Er dachte gar nicht daran, mit dem Kochen zu beginnen, sondern entnahm stattdessen mit demonstrativer Umsicht dem Kühlfach drei Bierdosen, die er zu Dryden an den Tisch brachte.

Er öffnete die seine, nahm einen beeindruckenden Schluck und rülpste. »Finster«, sagte er und nahm sich fest vor, seinen Ältesten zu fragen, was das eigentlich heißen sollte. »Humph okay?« erkundigte er sich, als säße der Taxifahrer nicht drei Meter von ihnen entfernt, von der Welt des persönlichen Kontakts durch eine doppelte Schutzglasschicht abgeschirmt. Sie sahen ihn ein eindringliches Gespräch mit seinem nicht existenten Vetter Manuel führen.

Dryden schniefte. Sie saßen angenehm schweigend da. Gary schüttelte sein Bier und ließ sich, als er den Verschluss aufzog, den Schaumstrahl in den Rachen spritzen. Dryden stellte sich Sias Kunden vor, der hier bestimmt die fieberhafte Betriebsamkeit erwartet hätte, die man gemeinhin mit der Ankündigung »Chop, chop, Express« in Verbindung bringt.

Er ließ den Blick über die dunkle Straße streifen und sah einem gelben Kinderball nach, den der Ostwind vor sich hertrieb, gefolgt von einigen Seiten des Crow von vergangener Woche.

Ohne den Kopf zu drehen, stellte er die übliche Frage: »Glück gehabt?«

Sia war gewohnheitsmäßiger Zocker, ein Hobby, das sich eher vom Offizierskasino als von seinen Ahnen herleitete; ein Unterschied, auf den er Wert legte. Da Gary dabei war, strich er ihn noch einmal unmissverständlich heraus. »Es ist ein Unterschied, ob man mit der genetischen Veranlagung zum Glücksspiel geboren wird oder sich an der intellektuellen Herausforderung delektiert, auf Pferde zu wetten.«

»Und was bitte ist da der Unterschied?«, wollte Dryden wissen.

»Ungefähr Zehntausend im Jahr.«

Gary hörte nicht zu. Sein Unterkiefer, der ihm auch gewöhnlich schon weit herabhing, war inzwischen auf geradezu spektakuläre Weise in die Tiefe gesackt. Zögerlich hob er besorgt einen einzelnen Finger.

Genau gegenüber der Fassade des Peking mündete die Cherry Street ein, eine Sackgasse. Sie führte zum Fenn hinaus, wo Poller aufgestellt waren, die das Eindringen plündernder Zigeuner verhindern sollten, die schon etliche Generationen länger als die Siedlungsbewohner auf diesem Land lebten. Dessen ungeachtet rieten die Anwohner ihnen mit Vorliebe, sie möchten sich doch »dahin verpissen, wo sie hergekommen sind«.

Diese Einstellung, wenn auch nicht den exakten Wortlaut, hatte sich auch der Kreisrat zu Eigen gemacht.

Von einem Zigeuner war jedoch weit und breit nichts zu sehen. Was allerdings zu sehen war und sich unaufhaltsam durch die Cherry Street auf das Peking vorschob, war eine Abordnung der Bereitschaftspolizei. Die Straßenlampen spiegelten sich blinkend auf dem geschwärzten Glas der Schutzhelme.

Dryden stand auf und spähte durch die beschlagenen Scheiben des Restaurants.

Die vordersten Polizisten, alle in kompletter Demo-Ausrüstung, hatten die Schilde fachmännisch zu einem lückenlosen Band aneinandergereiht, während die hinteren die ihren hochstemmten, so dass jeder römische General hierin ein gelungenes Beispiel der allgemein als »die Schildkröte« bekannten Verteidigungstechnik erkannt hätte. Der Befehl, lautlos vorzurücken, hatte ein Schauspiel erhabenster Komik zur Folge. Auf Zehenspitzen tänzelten sie die Cherry Street entlang wie das Corps de ballet einer modernen Militärrevue.

Dryden rückte seinen Stuhl näher ans Fenster. Wie es aussah, bekam Stubbs die gewünschte Verhaftung tatsächlich noch rechtzeitig zustande, um bei seinem Disziplinarverfahren Eindruck zu schinden. Wahrscheinlich musste die Tatsache, dass der Tote im Lark einem Schuss zum Opfer gefallen war, als Begründung für den paramilitärischen Auftritt herhalten. Allerdings kündete die Körpersprache von einem gewissen Mangel an Anspannung. Das Ganze sah mehr nach einer Übung als nach der Verhaftung eines bewaffneten Mörders aus.

Ein Streifenwagen mit der üblichen Marmeladenbrotmarkierung fuhr vor und riegelte die Straßeneinmündung ab. Lautlos blinkte das blaue Licht.

Inzwischen schlug in der rückwärtigen Küche des Hauses Cherry Street Nr. 29 George Parker Warren sein zweites Ei in die Pfanne, während er mit einigem Wohlbehagen konstatierte, dass der Tee seit nunmehr beinahe acht Minuten zog. Perfekt. Oder zumindest beinahe. Ein Minütchen vielleicht noch? Das Wasser hier war hart, und der Tee brauchte Zeit zum Ziehen. Er steckte sich eine Zigarette an.

Das Polizeibalett war inzwischen direkt vor dem Haus zum Stehen gekommen.

In der Küche goss George Parker Warren, Autodieb im Ruhestand und Gelegenheitsmechaniker, sich seinen Tee ein und gelangte zu dem Schluss, dass er, wenn auch seine geliebte Frau Rebecca vor kurzem das Zeitliche gesegnet hatte – es hatte kaum Hoffnung gegeben, nachdem sie das Poliermittel gesoffen hatte –, noch immer für sich sorgen konnte.

Nur die Einsamkeit machte ihm zu schaffen. Gesellschaft. Die ging ihm ab. Jetzt, wo Rebecca tot war, kam keiner mehr zu Besuch. Kürzlich war er ein paar Tage im Krankenhaus gewesen, um sich die Blase richten zu lassen, und hatte sich dabei eigentlich ganz gut amüsiert. Immer unter Leuten, selbst wenn es kranke waren. Er starrte auf die Wanduhr, die sie sich auf der Hochzeitsreise in Skegness gekauft hatten. Ihr Ticken hallte durch das leere Haus.

»Gesellschaft«, sagte er laut und nahm einen Schluck Tee. Selbst das Gefängnis fehlte ihm jetzt – da gab es wenigstens was Anständiges zu essen.

Die Phalanx wattierter Polizisten schwenkte bewunderungswürdig mit japanischen Minitrippelschritten vor Georges Haustür ein.

Es folgte eine kurze Stille, in der George eine Ahnung überkam. Hatte da jemand geklopft? Er ging in den Flur hinaus. Stille. Die Einbildung ist doch was Lustiges, dachte er und fühlte sich wieder wohler.

Der Befehl, sich gewaltsam Zutritt zu Haus Nr. 29 zu verschaffen, erfolgte per Handzeichen, und als die Männer auf die Haustür prallten, hatten sie schon ordentlich Fahrt aufgenommen. Vom Peking aus sah man die Splitter prasseln.

Dryden zuckte zusammen. »Hoffentlich war das auch die richtige Adresse.«

Es gab einen kurzen Anlauf, einen neuen Weltrekord in der Sparte »Wie viele uniformierte Polizisten lassen sich in ein Reihenhaus quetschen« aufzustellen, dann erschien eine Dreiergruppe Polizisten mit George im Schlepp. Er war gefesselt, und beim Anlegen der Handschellen hatte man ihm die Porzellantasse und die Nase an annähernd gleich vielen Stellen zerschmettert.

»So kann’s gehen«, meinte Dryden und zog den Verschluss der nächsten Bierdose auf. »Die haben sich garantiert zu viele Wiederholungen von The Sweeney reingezogen.«

Sia stellte zwei Teller Chicken Chow Mein auf den Tisch. Das Übliche.

Dryden nahm die Stäbchen zur Hand. »Pech gehabt, Gary.«

Gary sah sein Essen nicht mal an. Eine der ewigen Wahrheiten für den Nachwuchsreporter lautete: Wenn jemand in den sauren Apfel beißen muss, dann bist du es.

»Red mit den Nachbarn, bevor die Bullen über sie herfallen. Und dann rennst du aufs Revier und stellst fest, was eigentlich los ist. Ich gehe davon aus, dass sie den Kerl wegen des Lark-Mords kassiert haben. In der Zeitung von morgen haben wir schon einen entsprechenden Satz drin – aber sieh zu, dass du für den Crow an Einzelheiten bekommst, was du kriegen kannst. Für Nachbesserungen ist es schon zu spät.«

Lautstark polterten Garys Schuhe aus dem Peking.

Schon hatte sich vor Nummer 29 eine kleine Menschenmenge eingefunden. Niemand war so aufgeregt wie Gary. Dryden fand, dass Gary trotz einiger Handicaps, darunter seine phonetische Rechtschreibung und olympische Blödheit, wahrscheinlich der geborene Reporter war.

Humph drückte am Capri die Lichthupe. Dryden schlang das Essen herunter, eine schlechte Angewohnheit, der er mit Freuden nachging, und sprang in den Wagen.

»Nachrichten, im Radio«, erläuterte Humph. »Es hat einen Unfall gegeben, an der Kathedrale, beim Feuerwerk. Mehrere Jugendliche verletzt.«

Beim Gedanken an Blut und Verbrennungen drehte sich Dryden der Magen um. Beide zuckten zusammen, als über ihnen eine Rakete explodierte und ein silberner Regen auf die trostlosen Straßen von Jubilee herniederging.