Ich hatte meiner Mutter versprochen, dass ich an ihrem ersten Tag im Heim da sein würde. Um nach Fismes zu gelangen, musste ich zunächst den Zug von Paris nach Reims nehmen: Ich habe kein Auto, nicht einmal einen Führerschein, was, wie ich immer wieder feststelle, unter Pariser Schwulen ein verbreitetes Phänomen ist. »Die gleichen Ursachen haben die gleichen Wirkungen«, machte sich eine Freundin früher über die Tatsache lustig, dass keiner der Schwulen in ihrer Bekanntschaft Auto fahren konnte. Mit dem TGV war die Fahrt nicht lang: fünfundvierzig Minuten. Als ich nach Paris gezogen war, dauerte sie noch viel länger, anderthalb Stunden, dafür hatte man mehr vor der Landschaft, von den berühmten Weinbergen der Champagne und den malerischen Dörfern. Da die Regionalzüge Sommerpause hatten, nahm ich einen Bus des regionalen Verkehrsverbunds, der von Reims nach Soissons fuhr und unterwegs mehrere Zwischenhalte einlegte, unter anderem in Fismes; dort war ich vor dem Altersheim, in dem meine Mutter von nun an leben würde, mit einem meiner (jüngeren) Brüder, der ein Auto gemietet hatte, und mit meiner Mutter verabredet.

Ich traf vor ihnen ein und wartete eine Viertelstunde. Als der Mietwagen mit meinem Bruder am Steuer durchs Tor fuhr und vor dem Empfangsbüro zum Halten kam, ließ meine Mutter das Fenster herunter, um mich zu begrüßen: Sie weinte. Verzweiflung hatte sie gepackt. Zwischen zwei Schluchzern konnte sie kaum sprechen. Mein Herz zog sich zusammen. Was taten wir ihr an?

Mein Bruder hatte alles, was meine Mutter brauchte oder behalten wollte, in das Auto geladen: neben ihrer Kleidung natürlich den Fernseher mit dem DVD-Player, das Radio mit dem CD-Player, ein paar Bücher und stapelweise Illustrierte, zwei Umzugskartons voller Fotos und ein paar Bilderrahmen mit Reproduktionen von Gemälden, die wir an den Wänden aufhängen wollten … Unsere Mutter sollte sich heimisch fühlen, denn, wie wir ihr im Laufe des Tages immer wieder sagten, hier wohnte sie jetzt, das war jetzt ihr »Zuhause«, wogegen sie resigniert protestierte: »Nein, das wird nie mein Zuhause sein«, dann: »Nein, das ist nicht mein Zuhause«, bevor sie es leid war, dass wir sie scheinbar nicht verstanden, und sagte: »Ja, ja, ich weiß, aber es ist nicht dasselbe.«

Zwei Pflegekräfte halfen meiner Mutter in einen Rollstuhl und schoben sie in ihr Zimmer, das sie, genau wie wir, zum ersten Mal zu Gesicht bekam. Unser jüngster Bruder, der aus Rochefort, hatte das Heim zuvor besichtigt. Er hatte es für gut befunden. Die Heimleitung hatte gesagt, es werde sicher einige Monate dauern, bis ein Zimmer »frei« wird. Das kam uns lang vor, und wir verschwendeten keinen Gedanken daran, was eine kürzere Zeitspanne bedeutet hätte: dass ein anderer Mensch starb. Wenigstens würde unsere Mutter so die Möglichkeit haben, sich auf die radikale Veränderung in ihrem Leben vorzubereiten. Doch dann bekam mein Bruder bereits nach wenigen Wochen einen Anruf: Ein Zimmer war früher als erwartet »frei« geworden. Wenn wir es haben wollten, mussten wir sofort zusagen. Schließlich waren wir nicht die einzige Familie auf der Warteliste, bei Weitem nicht! Von da an ging alles sehr schnell.

Meine Mutter fühlte sich nicht bereit für den großen Schritt. Wäre das einige Monate später anders gewesen? Ich bin mir nicht sicher. Erst sagte sie, sie habe es sich anders überlegt und wolle nicht mehr von zu Hause weg. Das war ein Reflex, eine Panikreaktion auf diese unmögliche, aber notwendige Entscheidung, die ihr mindestens genauso schwerfiel wie uns. Was antwortete man auf so etwas? Natürlich sollte sie das selbst entscheiden. Aber eine Lösung musste her: Sie konnte nicht mehr allein leben. Die Diskussion begann von vorn. »Du musst vernünftig sein, es geht nicht anders«, beharrte ich, als bringe es etwas, mit Vernunft gegen ihre beklemmende Angst zu argumentieren, die alles andere als irrational war. Sie antwortete: »Ich weiß, aber versteh doch …«

Oh ja! Ich verstand. Ich verstand sogar sehr gut. Aber wir mussten »vernünftig« sein. Nach einer Weile gab meine Mutter klein bei: »Du hast recht, ich muss vernünftig sein.«

Diese furchtbaren Sätze, mit denen man sich der Macht der Umstände unterwirft, verfolgen mich bis heute. Mir fiel ein, wie fieberhaft ich während meines Philosophiestudiums Descartes gelesen hatte und mit welcher Heftigkeit ich, geprägt vom Marxismus meiner Jugend, seinen moralischen Stoizismus abgelehnt hatte, weil er für mich eine Negierung jedes politischen Denkens und Handelns darstellte. Ich fand das Buch mühelos in meinem Regal, neben den anderen Werken Descartes', mit unzähligen Notizen und Unterstreichungen, so auch an folgender Stelle, einer der bekanntesten Passagen aus Discours de la méthode:

 

Mein dritter Grundsatz war, stets bemüht zu sein, eher mich zu besiegen als das Schicksal, eher meine Wünsche als die Ordnung der Welt zu verändern und mich überhaupt an den Glauben zu gewöhnen, dass nichts als unsere Gedanken ganz in unserer Macht sei, sodass, nachdem wir unser Bestes hinsichtlich der Dinge außerhalb von uns getan haben, alles, was uns zum Gelingen fehlt, in Hinsicht auf uns völlig unmöglich ist.

Daraus schließt Descartes:

 

[U]nd indem wir, wie man sagt, aus der Notwendigkeit eine Tugend machen, werden wir ebenso wenig wünschen, gesund zu sein, wenn wir krank sind, oder frei zu sein, wenn wir im Gefängnis sind, wie wir uns wünschen, einen Körper aus einem ebenso wenig zerstörbaren Material wie Diamanten oder Flügel zum Fliegen wie Vögel zu haben.[1] 

 

Und nun machte ich gegenüber meiner Mutter eine extrem vereinfachte Version dieses »Grundsatzes« geltend, der mich früher abgestoßen hatte, ganz so, als hätte ich eingesehen, wie richtig und weise er war und in manchen Situationen auch unmittelbar einleuchtend, zum Beispiel in der Situation, in der wir feststeckten. Die Krankheit meiner Mutter war das hohe Alter, das Pflegeheim würde ihr »Gefängnis« sein, und sie musste sich von dem Wunsch nach Gesundheit und Freiheit verabschieden, denn sie war nicht mehr gesund und würde sich nie wieder frei bewegen, würde nie mehr frei entscheiden können.

Die »Ordnung der Welt«, im Fall meiner Mutter die Unausweichlichkeit des Älterwerdens, die Folgen der schweren körperlichen Arbeit und der damit einhergehenden Lebensbedingungen, die Realität moderner Familienstrukturen, die Geschichte von Wohnungsbau und Stadtplanung, der gesellschaftliche und politische Umgang mit Alter, Krankheit, Hilfsbedürftigkeit etc., all das also, was die Vergangenheit und Gegenwart einer Gesellschaft ausmacht, kam in diesem schicksalhaften Moment zusammen, in dem wir vor einer unaufschiebbaren Entscheidung standen, bedrängte uns, bedrängte meine Mutter, wischte ihre Bedürfnisse und Wünsche beiseite und machte jeden Widerstand und Handlungsspielraum zunichte. Daran sieht man, welches Gewicht historische und gesellschaftliche Determinierungen haben und wie sie bei einem banalen Gespräch zwischen zwei Menschen unterschwellig mitlaufen und ihm eine bestimmte Richtung geben können. Meine Mutter musste sich dem Unvermeidlichen fügen und konnte ihren Protest nur durch Tränen zum Ausdruck bringen. Ich kannte die Grenzen ihrer Willens- und Entscheidungsfreiheit, ihrer Handlungsfähigkeit: Diese Grenzen sind jedem von uns eingeschrieben, durch das, was uns ausmacht, durch das, was ich als »gesellschaftliches Urteil« bezeichnet habe. Ich kannte diese Grenzen sehr gut, sie waren mir vertraut, ich hatte sie nicht nur, wie wir alle, mein Leben lang am eigenen Leib erfahren, sondern sie auch in meinen Büchern beschrieben, entschlüsselt, analysiert. Dennoch gibt es in der Maschinerie der Zwänge immer etwas »Spiel«, einen Raum für individuelle und kollektive Transformationen, so klein und eng abgesteckt er wegen der Trägheit der Strukturen auch sein mag. Obgleich die Zwänge, die unsere Sehnsüchte begrenzen, äußerst mächtig sind – angefangen bei der Selbstbeschränkung dieser Sehnsüchte durch die Setzung von Lebenszielen, die von sozialer Zugehörigkeit und Herkunft (im weitesten Sinne) vorgegeben und beeinflusst sind, von Klasse, Geschlecht, Rassifizierung etc. sowie von dem ökonomischen, kulturellen und sozialen »Kapital«, über das wir verfügen oder nicht verfügen –, sind Determinanten und Determinierungen niemals absolut. Das versteht sich eigentlich von selbst, und wer meint, man könne den »Determinismus« kritisieren, indem man ihm diese naive Wahrheit entgegenstellt, nimmt weder die Realität großer historischer und gesellschaftlicher Veränderungen zur Kenntnis noch die Realität individueller beziehungsweise kollektiver Lebensverläufe im Kleinen, bei denen Permanenz und Transformation, Zwang und Freiheit immer miteinander einhergehen, nur in unterschiedlicher Kombination und mit unterschiedlichen Akzentuierungen, abhängig vom Individuum und von den Umständen. Die Gespräche mit meiner Mutter machten mir deutlich, dass Alter und körperliche Gebrechlichkeit einen Kontext darstellen – eine Fessel, ein »Gefängnis« –, der die Möglichkeit, seinem Schicksal, und sei es mit letzter Kraft, zu entfliehen, zunichtemacht: Man will vielleicht, aber man kann nicht mehr. Und weil man nicht mehr kann, will man irgendwann auch nicht mehr.

In Fukazawa Shichirōs Erzählung »Die Narayama-Lieder«, die in den sechziger Jahren des 19. Jahrhunderts in einem japanischen Dorf spielt, werden alle Bewohner im Alter von siebzig Jahren auf einen Berg geschickt, um dort auf den Tod zu warten.[2]  Sie müssen sich also an einen Ort zurückziehen, den sie nicht mehr verlassen, von dem sie nicht mehr zurückkehren werden. Der älteste Sohn trägt sie auf dem Rücken, die Alten halten sich an einem Brett fest oder sind daran festgebunden. Manche sind einverstanden oder haben sich ihrem Schicksal zumindest gefügt: Zum Sterben auf den Berg zu gehen, gehört zum Kreislauf des Lebens. Andere wehren sich und müssen gezwungen werden, manchmal sogar mit Gewalt. Man darf das Buch nicht als historisches oder ethnografisches Zeugnis lesen: Es handelt sich um ein fiktives Werk, um eine Parabel, nicht um die Beschreibung einer Realität. Der literarische Text (verfilmt 1958 von Keisuke Kinoshita und 1983 von Shōhei Imamura unter dem Titel Die Ballade von Narayama) ist eine Allegorie der gesellschaftlichen Ausgrenzung – und Absonderung – alter Menschen sowie eine Beschreibung der zwei möglichen Reaktionen der Betroffenen: Sie können entweder die Regeln befolgen, sich ihnen freiwillig unterwerfen und sich innerlich auf das, was sie erwartet, vorbereiten, oder aber die Regeln ablehnen, sich ihnen zu entziehen, ihnen zu entfliehen versuchen – nur um dann doch von ihnen eingeholt zu werden beziehungsweise von denjenigen, die die Regeln durchsetzen. Gewiss gibt es auch eine Mitte zwischen diesen beiden Polen oder fließende Übergänge: eine Resignation, die von kurzen Momenten des Aufbegehrens unterbrochen wird, eine strikte Weigerung, die mit der Zeit an Kraft verliert, geschwächt von der unleugbaren Tatsache, dass die Bewegungen immer schwerer fallen, eine Weigerung, die nach vielen Widerständen und Ausflüchten einer zaghaften Zustimmung Platz macht, einer halbherzigen, zögerlichen, traurigen Einwilligung.

Natürlich hat sich das Alter, in dem man die Reise antritt, nach hinten verschoben, das Holzbrett wurde vom Auto abgelöst, und es sitzt nicht mehr unbedingt der älteste Sohn am Steuer, aber ich kann meine Mutter und ihre Söhne – mich eingeschlossen – in eine Konstellation einordnen, die analog zu dieser symbolischen Erzählung funktioniert, die wir der japanischen Literatur zu verdanken haben. In dieser Konstellation ist das EHPAD in Fismes der Berg Narayama, und meine Mutter verkörpert nacheinander oder gleichzeitig die verschiedenen Reaktionen der alten Menschen (Ablehnung und Protest; Akzeptanz; Resignation und Unterordnung), während wir Brüder die verschiedenen Verhaltensweisen der Söhne verkörpern: so tun, als wäre es ein ehernes Gesetz, Teil der natürlichen Ordnung (ich erinnere mich, wie meine Urgroßmutter voller Fatalismus sagte: »Das ist der Lauf der Welt«, auch wenn ich als Kind nicht genau verstand, was sie damit meinte), und den Elternteil mit vernünftigen Argumenten und beharrlicher Überzeugungsarbeit dazu bewegen, sich dieser Tatsache, diesem Naturgesetz zu unterwerfen – mit sanfter Gewalt, die unsere Mutter aber natürlich trotzdem als Gewalt empfand. Sie war zur Unfreiheit verdammt. Was sie wollte, spielte keine Rolle mehr: Sie hatte ein paar Jahre herausgeschlagen, hatte den Einzug ins Heim um ein paar Monate oder Wochen hinauszögern können, aber gegen seine Alternativlosigkeit kam sie nicht an.

Da waren wir also. Durchs Fenster blickte man auf einen schmalen Rasenstreifen, der am Fuß einer Mauer endete. Jenseits der Mauer, die die Gebäude des Heims umgab, erstreckte sich eine ländliche Gegend mit kleinen Häusern, einer Straße, Bäumen und Feldern … Insgesamt eine hübsche Aussicht, zumindest für jemanden, der Spaziergänge unternehmen oder auch nur am Fenster stehen und in die Ferne schauen konnte. Aber was hatte meine Mutter davon, die bald weder zu dem einen noch zu dem anderen in der Lage sein würde?

Damit das Zimmer dem Ort, den sie am Morgen verlassen hatte, ähnelte, und sei es nur entfernt, hängten wir einige gerahmte Familienfotos und Gemäldereproduktionen aus ihrer Wohnung auf (ländliche Szenen und Bilder vom Meer, typisch für den Geschmack der Arbeiterklasse). Wir stellten den Fernseher (der viel zu groß für das Zimmer war) gegenüber vom Bett auf, den CD-Player daneben, räumten ihre Kleider und die anderen Habseligkeiten, die mein Bruder in einem großen Koffer transportiert hatte, in den Schrank. Er machte die ganze Zeit unpassende Kommentare, schimpfte leise vor sich hin: »Warum muss ich ihre Klamotten in den Schrank räumen, das ist Frauenarbeit.« Ich seufzte und dachte: »Was für ein Idiot«, reagierte aber lieber nicht. Die Situation war schon angespannt genug, da musste ich nicht auch noch einen Streit vom Zaun brechen, aber mir wurde wieder einmal bewusst, wie befremdlich und nahezu unerträglich das sein kann, was man gemeinhin »Familienbande« nennt. Was verband uns? Nichts. Rein gar nichts. Außer der Tatsache, dass wir hier waren, um uns um unsere Mutter zu kümmern, dass wir hier sein mussten. Wir liefen geschäftig im Zimmer hin und her. Sie lag auf dem Bett und fragte sich wahrscheinlich besorgt, wie ihr Leben jetzt, da sie, von der Außenwelt abgeschnitten, in diesem Zimmer im zweiten Stock wohnte, verlaufen würde. Sie wirkte erschöpft, wie gelähmt von all den Gefühlen, die sie überwältigten.

Mein Bruder fuhr zurück nach Reims zu seiner Frau und seinen Kindern (sie waren ein paar Tage vorher aus La Réunion im Indischen Ozean eingetroffen, wo sie leben), zurück in die Wohnung, die meine Mutter gerade erst verlassen hatte und in der noch ihre Möbel standen. Ich war erleichtert, als er ging. Ich konnte sein dummes Geschwätz nicht mehr hören. Zum Abschied sagte ich: »Lass es dir gut gehen. Bis bald.« Er antwortete sarkastisch: »Du meinst wohl, bis in dreißig Jahren?« Tatsächlich lag unser letztes Treffen dreißig Jahre zurück, und ich habe ihn seither nicht mehr wiedergesehen. Ich blieb bis zum späten Nachmittag allein bei meiner Mutter. Dann musste ich den letzten Bus nach Reims nehmen. Ich stellte fest, wie unpraktisch so ein Heim außerhalb der Stadt war. Ich hing von den Fahrplänen des regionalen Verkehrsverbundes ab, und abends fuhren keine Busse mehr. In Fismes gab es kein Hotel. Ich hatte mich danach erkundigt, für die nächsten Besuche, die ich meiner Mutter abstatten wollte: Bis vor Kurzem hatte ein Restaurant in der Nähe des Altenheims einige Zimmer vermietet, doch der Besitzer hatte den Hotelbetrieb vor sechs Monaten eingestellt. Diesmal hatte ich ohnehin vorgehabt, in Reims zu übernachten. Ich wollte die Gelegenheit nutzen und mir wieder einmal die Kathedrale ansehen, mit ihren legendären Statuen – dem lächelnden Engel –, mit ihrem erzbischöflichen Palast, in dem man die Krönungsinsignien und Festgewänder des französischen Königshauses besichtigen kann, und mit ihren Kirchenfenstern, denen von Knoebel aus den neunziger Jahren und denen von Chagall aus den Sechzigern. (Der Sohn des Glasermeisters, der die Chagall-Fenster gefertigt hatte, war in der Oberstufe in meine Klasse gegangen, und ich war sehr beeindruckt gewesen, man könnte fast sagen, ergriffen, als er mich und ein paar Mitschüler eines Tages in das große bürgerliche Haus in der Innenstadt eingeladen hatte, in dem er mit seinen Eltern wohnte, und uns Hefte mit Skizzen des berühmten Malers gezeigt hatte. Er lebte eindeutig in einer anderen Welt als ich; in meiner Familie war Kunst kein Thema, und niemand kannte Chagall.)

Auf dem Rückweg nach Reims fuhr der Bus erneut durch all die Orte, die ich mittlerweile gut kannte: Erst durch Muizon, wo meine Mutter und mein Vater zwanzig Jahre lang gewohnt hatten, dann durch weitere Dörfer und Ortschaften, durch mehr oder weniger dünn besiedelte Gebiete, vorbei an Feldern und Gewerbegebieten, in denen sich kleinere Betriebe, größere Fabriken und die Lagerhallen bekannter Firmen abwechselten, und schließlich durch Tinqueux, den Vorort von Reims, wo meine Mutter nach einem kurzen Intermezzo in der Innenstadt die vergangenen drei, vier Jahre gelebt hatte; in Reims hatte sie einige Monate in einer Sozialbausiedlung hinter dem Bahnhof gewohnt, nachdem sie aus ihrem Häuschen in Muizon hatte ausziehen müssen, aber dort hatte sie sich nicht wohlgefühlt, weil sie sich von dem Lärm der Jugendlichen auf der Straße und von den Autos, die spätabends in die Tiefgarage unter ihrem Fenster fuhren, belästigt fühlte (da auch ich die Stille liebe, konnte ich gut verstehen, wie sehr sie das störte). Noch schlimmer fand sie jedoch die hohe Anzahl von »Ausländern«, die in diesem neuen Viertel lebten, und es war sinnlos, mit ihr darüber diskutieren zu wollen, weil sie jedes Gespräch mit Sätzen wie diesem abwürgte: »Mir gefällt es hier nicht, man hat gar nicht mehr das Gefühl, in Frankreich zu sein.« Was soll man zu so etwas sagen? Sie bestand darauf, noch einmal umzuziehen. Also zog sie noch einmal um. In Tinqueux lebte sie gern. Trotzdem bedauerte sie, dass sie nicht nach Muizon hatte zurückkehren können, in dieses große Dorf, das sie sehr liebte und von dem sie voller Wehmut sprach. Dazu hätte das Wohnungsamt ihr allerdings ein einstöckiges Haus zuteilen müssen, da sie keine Treppen mehr steigen und deshalb kein zweistöckiges Haus beziehen konnte wie das, in dem sie früher gewohnt hatte, das Haus, das ich am Anfang von Rückkehr nach Reims beschreibe. Die Treppen waren im Übrigen auch der Grund gewesen, warum sie dort hatte ausziehen müssen. In Muizon gab es kein passendes Haus. Zumindest kein freies. Im Rathaus hieß es, man sei dabei, neue Häuser zu bauen. Doch das würde dauern, und meine Mutter hatte keine Zeit: Sie wollte schnell weg aus der Innenstadt von Reims, wo sie sich unwohl fühlte, sobald sie vor die Tür ging oder auch nur das Fenster aufmachte. Also wurde es Tinqueux. Dort bot man ihr eine Wohnung an, die ihr zusagte. Der Umzug setzte ihrem Abstecher nach Reims ein Ende: Sie empfand ihn als Rückkehr »nach Frankreich«, als Rückkehr »in die Heimat«, nach Monaten, die sie über einer Tiefgarage »unter Fremden« verbracht hatte. In Tinqueux bezog sie eine Wohnung im dritten Stock, aber zum Glück hatte das Haus einen modernen Aufzug. Und als sie dann nicht mehr allein in Tinqueux wohnen konnte, kam sie nach Fismes ins Heim: ein Ort, den sie wahrscheinlich ebenfalls als Exil empfand, als ein Leben »unter Fremden«, auch wenn der Modus der Fremdheit, an die sie sich gewöhnen musste, ein anderer war: Diesmal konnte sie nicht sagen, dass es ihr dort nicht gefalle und sie umziehen wolle. Es würde keinen weiteren Ortswechsel geben. Unwillkürlich fragte ich mich, wie viel Zeit ihr wohl noch blieb, schob den Gedanken aber immer sofort beiseite; wie lange sie wohl in diesem Heim wohnen würde, in diesem Zimmer; über welchen Zeitraum hinweg ich sie an diesem Ort, den wir für sie ausgesucht hatten, besuchen würde. Damals rechnete ich mit mehreren Jahren. Würde sie die Kraft haben, die Energie aufbringen, sich dort einzuleben? Wie würde ihr Alltag organisiert sein, wie würde ihr Tagesablauf aussehen, an diesem Ort, an dem sie für den Rest ihres Lebens – man kann es leider nicht anders sagen – eingesperrt sein würde? Ich nahm mir vor, so oft wie möglich zu ihr zu fahren, damit sie sich nicht allzu allein fühlte. Ich bereitete mich gedanklich darauf vor. Meine Überlegungen sahen so aus: »Einmal im Monat ist nicht genug; einmal die Woche wäre ideal, ist aber nicht realistisch …« Der Gedanke, in Zukunft öfter nach Fismes zu fahren, missfiel mir nicht: Wenn ich meine Mutter zuvor in Muizon oder Tinqueux besucht hatte, hatte ich diese Kurzaufenthalte immer als sehr angenehm empfunden, die Zugfahrt nach Reims, wo ich zwei, drei Nächte blieb, die Stadt mit ihren mir einst so vertrauten Straßen und Plätzen, mit ihren Sehenswürdigkeiten, Cafés und Restaurants. Wenn Geoffroy, mein Lebensgefährte, mich begleiten konnte, zeigte ich ihm meine Lieblingsorte: die Kapelle von Foujita, die Art-déco-Gebäude, die Abtei Saint-Remi, die traditionellen Brasserien rings um die Markthallen (und abends die Champagnerbars, falls wir uns von einem allzu deprimierenden Nachmittag bei meiner Mutter erholen mussten). Genauso würde es sein, wenn ich sie in Fismes besuchen ging. Für mich änderte sich nur der Name ihres Wohnorts. Für sie änderte sich alles.

Die ganze Busfahrt über blickte ich aus dem Fenster. Unzählige Fragen, auf die ich keine Antwort wusste, Bilder aus Vergangenheit und Gegenwart, so viele Ungewissheiten schwirrten mir im Kopf herum, prallten aufeinander. Ich wusste nicht, was ich denken sollte. Ich war verwirrt und traurig. Und ich sagte mir, dass ich Das Alter von Simone de Beauvoir und Über die Einsamkeit der Sterbenden in unseren Tagen von Norbert Elias noch einmal lesen sollte, um die Situation besser zu verstehen und besser darauf reagieren zu können.[3] 

Die Endhaltestelle in Reims befand sich auf einem Platz, der als Busbahnhof dient, keine hundert Meter hinter der Kathedrale. Die Apsis von Notre-Dame de Reims im Sonnenuntergang: was für ein grandioser Anblick in einem so dunklen Moment!

Beim Abschied von meiner Mutter hatte ich zu ihr gesagt: »Morgen komme ich wieder.« Am nächsten Tag legte ich den Weg von Reims nach Fismes in umgekehrter Richtung zurück, wieder mit dem Bus, um den Nachmittag mit ihr zu verbringen. Ich öffnete die beiden Kartons mit Fotos, die mein Bruder am Vortag hergebracht hatte. Als er sie mir gezeigt hatte, hatte er in einem Ton, den ich, vielleicht zu Unrecht, als unterschwellig aggressiv oder zumindest verächtlich empfunden hatte, gesagt: »Da sind Schätze für dich drin, für dein nächstes Buch.« Jetzt holte ich die Fotos hervor – ich hatte sie natürlich noch nie gesehen – und zeigte sie meiner Mutter. Sie kommentierte die Bilder: »Das bin ich mit deinem Vater, in der Türkei.« – »Da sind wir in Tunesien.« Es hatte sich um Gruppenreisen gehandelt, organisiert vom Betriebsrat der Fabrik, in der mein Vater arbeitete oder gearbeitet hatte (meine Eltern konnten das Angebot nach seinem Renteneintritt weiter nutzen): Auf den Fotos sieht man sie oft mit der Reisegruppe beim Abendessen in einem Restaurant. Neben den Besichtigungen von Sehenswürdigkeiten gab es auf diesen Touren immer ein gemeinsames Abendessen mit Musik und Animation. Auf einer Reise nach Andalusien hatte in Granada ein Gitano[4] , der in einem Restaurant Gitarre spielte, zu meiner Mutter gesagt: »Du bist eine von uns, das weiß ich.« Sie wusste es auch, denn sie erzählte immer mit einem gewissen Stolz von ihrer Gitano-Herkunft, obwohl sie sonst so rassistisch war.

Es wurde spät. Ich musste los: der letzte Bus! Ich versprach, bald wiederzukommen. Ich hatte ein schlechtes Gewissen. Ich würde die nächsten Wochen in Italien verbringen. Der Aufenthalt war seit Langem geplant, ich hatte alles zu einer Zeit reserviert, als ich noch glaubte, der Umzug ins Altenheim würde erst Monate später anstehen. Ich konnte den Urlaub schwer absagen, vor allem, da ich nicht allein reiste.

Natürlich würde ich meine Mutter gleich nach meiner Rückkehr besuchen gehen.