Ich habe nicht genug Zeit in dem Altenheim in Fismes verbracht, um es präzise beschreiben zu können, aber ich erinnere mich noch gut an die grobe Aufteilung des Gebäudes und an einige markante Details.

Im Foyer und draußen vor der gläsernen Automatiktür saßen Menschen in Rollstühlen, manche in Begleitung von Besuchern (allem Anschein nach Söhne oder Töchter in ihren Fünfzigern oder Sechzigern), die sich auf Stühlen oder Bänken niedergelassen hatten oder neben ihren Angehörigen standen. Drinnen bewegten sich Heimbewohnerinnen und -bewohner mithilfe von Gehstöcken über die Flure, manche sogar mit einem Stock in jeder Hand, wobei sie die Füße sehr langsam über den Boden schoben. Diese Bilder prägten sich mir ein, und später stieß ich in Bohumil Hrabals Roman Harlekins Millionen auf eine ähnliche Beschreibung. Nach ihrem Umzug in ein Altenheim sagt die Erzählerin über die Leute, die dort schon länger leben: »Sie spazierten umher, es war eigentlich kein Gehen, sondern vielmehr ein Schlurfen mit den Sohlen, als führen sie auf Skiern.«[19]  In den ersten beiden Tagen nach dem Umzug beobachtete ich solche Bewegungen auch bei meiner Mutter. Es sah tatsächlich aus, als hätte sie Skier an den Füßen: Sie schob sich Zentimeter um Zentimeter voran, mit zögernden, vorsichtigen Schritten. Das war auch schon in ihrer Wohnung in Tinqueux so gewesen, wenn sie mühsam aufgestanden und ins Nebenzimmer gegangen war. Nach dem Umzug ins Heim verlangsamten sich ihre Schritte noch einmal mehr, bis sie kaum noch wahrnehmbar waren, eine Art programmierte Bewegungslosigkeit. Im Flur des Heims tastete sich meine Mutter mit einer Hand an der Wand entlang, während sie sich mit der anderen auf ihren Gehstock stützte. Obwohl ihre Hausschuhe sehr weich waren, trug sie sie nicht, da jede Berührung des Fußspanns ihr große Schmerzen bereitete. Die Heimärztin ermahnte sie: »Sie dürfen auf keinen Fall barfuß laufen, Sie könnten irgendwo anstoßen und sich wehtun.« Mir empfahl die Ärztin, in einem Sanitätshaus Diabetikerschuhe zu kaufen und diese bei meinem nächsten Besuch mitzubringen oder sie per Post zu schicken. Solche Schuhe würden die druckempfindliche Haut meiner Mutter entlasten. (Ich ließ mir Zeit damit … zu viel Zeit. Was hatte ich mir dabei gedacht? Wie konnte ich nur so nachlässig sein?) Meine Mutter brauchte gut zehn Minuten für etwa zwanzig Meter. Wenn ich ihr helfen wollte und ihr meinen Arm anbot, wehrte sie mich ab. Jedes Wort einzeln betonend, sagte sie: »Ich – schaffe – das – allein! Ich – will – es – allein – schaffen, also – werde – ich – es – auch – allein – schaffen!« Und tatsächlich gelangte sie an ihr Ziel. Ihre Willensstärke überraschte mich nicht – die kannte ich, seit ich denken konnte –, und ich freute mich, dass ihre Entschlossenheit ungebrochen war: Sie hatte offenkundig nicht vor aufzugeben, sondern wollte sich das wenige an Kraft und Beweglichkeit, das ihr noch geblieben war, bewahren. Meine Mutter glaubte fest daran: Wenn ihr Kopf es wollte, würde ihr Körper folgen. Und tatsächlich fand ihr Körper einen Weg, sich ihrem Willen zu beugen, oder besser gesagt, fand ihr Wille einen Weg, den Körper seinem Diktat zu unterwerfen, auch wenn der Preis hoch war. Ihre Ausflüge erschöpften sie zutiefst und bereiteten ihr große Schmerzen. Nach einigen Tagen erzählte mir meine Mutter am Telefon, sie habe am Singen teilgenommen, das habe ihr gut gefallen. Sie trug mir ein paar Zeilen eines bekannten Chansons vor, das die Gruppe angestimmt hatte, »L'eau vive« von Guy Béart, dem Vater der Schauspielerin Emmanuelle Béart: »Ma petite est comme l'eau, elle est comme l'eau vive« (»Meine Kleine ist wie Wasser, wie wildes Wasser«). Als Nächstes wollte sie zur Gymnastik, und ich fragte mich insgeheim: Wie hatte man sich diese »Gymnastik« vorzustellen, wenn die Teilnehmer alle so alt und gebrechlich waren wie meine Mutter? Der Kurs fiel an dem Tag aus, und meine Mutter kehrte unverrichteter Dinge in ihr Zimmer zurück. Der Hin- und der Rückweg waren sehr beschwerlich, da die Gemeinschaftsaktivitäten in einem anderen Teil des Gebäudes stattfanden. Erfreut stellte ich fest, dass meine Mutter sich offenbar nicht »gehen ließ«. Das sagten ihr nämlich alle Pflegekräfte ständig: »Sie dürfen sich auf keinen Fall gehen lassen.«

Neben dem Speisesaal waren die Freizeitaktivitäten angeschlagen: Es gab Kurse und Veranstaltungen aller Art. Meine Mutter konnte aus dem Angebot wählen. Einmal gingen wir gemeinsam zu der Wandtafel, und beim Anblick der bunten Aushänge mit den Wochentagen und Uhrzeiten wich ich unwillkürlich zurück: Mir war, als wären das alles nur Scheinaktivitäten, die im pascalschen Sinn für »Zerstreuung« sorgen sollten oder, um es unverblümt zu sagen, dafür, dass sich die Alten beim Warten auf den Tod nicht allzu sehr langweilten. Das Heim kam mir plötzlich wie ein Kindergarten für Alte vor, die wieder zu Kindern geworden waren, nur dass sie keine Zukunft mehr hatten. Ich ermutigte meine Mutter, an möglichst vielen Kursen und Gemeinschaftsaktivitäten teilzunehmen, empfand die Situation aber gleichzeitig als zutiefst deprimierend. Nein, es würde nie wieder »wie vorher« sein.

Meine Mutter meldete sich auch für einige Ausflüge an, die regelmäßig stattfanden: Busfahrten zu einer Sehenswürdigkeit oder zu einem malerischen Dorf in der Umgebung. Sie schien wirklich das Bedürfnis zu haben, sich in dem Heim einzugewöhnen. Ich war beruhigt.

Allerdings beschwerte sie sich vom ersten Abend an über die anderen Bewohner, mit denen sie im Speisesaal am Ende des Flurs die Mahlzeiten einnehmen musste. Eine Frau, die entweder noch älter als meine Mutter gewesen sein muss oder dement und verwirrt, starrte beim Abendessen die ganze Zeit zu ihr herüber, wahrscheinlich, weil sie das neue Gesicht nicht kannte, und meine Mutter herrschte sie an: »Was glotzen Sie so? Wollen Sie ein Foto von mir?« Am nächsten Tag erzählte sie mir davon, und ich war konsterniert. »Sei doch nicht gleich so aggressiv. Vielleicht hätte sich die alte Dame gern mit dir unterhalten. Versuch lieber, mit den anderen zu reden, sie kennenzulernen, vielleicht sind ja welche dabei, mit denen du dich verstehst …« Als meine Mutter empört rief: »Nein, ich will nicht mit diesen alten Leuten reden!«, klang ihre Stimme mit einem Mal wieder so kräftig wie früher. Im Grunde schrie sie mir ihre Weigerung entgegen: Sie wollte nicht akzeptieren, dass wir sie alleingelassen hatten, an einem Ort, wo sie mit fremden Menschen eingesperrt war, mit denen sie von nun an zusammenwohnen musste, getrennt von der Welt, die ihre gewesen war, als sie noch »zu Hause« gelebt hatte, und der sie nachtrauerte, obwohl diese in den letzten Jahren und vor allem in den letzten Monaten stark geschrumpft war, weil meine Mutter kaum noch Kontakt zu anderen gehabt hatte. Das Heim war nicht ihr Zuhause, trotz aller Bemühungen ihrer Söhne, einschließlich meiner, sie vom Gegenteil zu überzeugen. Sie musste lernen, mit Menschen umzugehen, deren Gesellschaft sie sich nicht ausgesucht hatte, musste sich mit Menschen vertraut machen, zu denen sie keinen Kontakt wollte, nicht einmal bei den Mahlzeiten.

Der Umzug ins Altenheim ist nicht nur der Eintritt in eine Welt voller hochbetagter, körperlich und geistig beeinträchtigter Menschen: Es ist auch der Eintritt in eine erzwungene Gemeinschaft, der man sich schwerlich entziehen kann. Man wird herausgerissen aus dem Alltag, aus der bekannten Umgebung, aus der vertrauten Welt, die bisher, trotz aller Transformationen aufgrund von Alter und Krankheit, trotz der Tatsache, dass ihr Radius im Lauf der Zeit kleiner und ihre konstitutiven Elemente weniger geworden sind, für Stabilität beziehungsweise Kontinuität gesorgt hat.

Gewiss, auch in der Schule, am Arbeitsplatz (in der Fabrik, im Büro etc.) und im Stadtviertel befinden wir uns jeden Tag in Gesellschaft von Menschen, die wir uns nicht ausgesucht haben. Doch in diesen Kontexten können wir immerhin mehr oder weniger frei wählen, mit wem wir Umgang haben, können Beziehungen nach Zuneigung eingehen. Dabei orientieren wir uns an geteilten Vorlieben und Affinitäten oder auch Abneigungen in den verschiedensten Bereichen, an politischen Ansichten, gewerkschaftlichen oder religiösen Zugehörigkeiten oder auch nur an einem Gefühl der Verbundenheit, daran, ob man sich miteinander wohlfühlt, ob man sich hin und wieder gern zu zweit oder zu dritt unterhält. Jedenfalls gib es fast immer den Raum und die Zeit, inmitten der erzwungenen Beziehungen auf verschiedene Art und Weise frei gewählte oder bevorzugte Beziehungen zu leben. Ist das im Altersheim immer noch so? Gelegentlich sicher. Aber ich komme nicht umhin festzustellen, wie sehr sich meine Mutter über die bloße Erwähnung der Möglichkeit aufregte, sie könne sich mit den anderen Heimbewohnern anfreunden.

In ihrer Wohnung in Tinqueux hatte sie oft über Einsamkeit geklagt. Manchmal weinte sie sogar am Telefon oder während meiner Besuche. »Ich bin ganz allein. Es ist nicht lustig, immer allein zu sein.« Jetzt, da sie genötigt war, Umgang mit ihr unbekannten Frauen und Männern zu haben, sehnte sie sich beinahe nach dieser Einsamkeit zurück, denn sie wollte nicht mit allen »auf Du und Du« sein, um die Formulierung aufzugreifen, die sie früher zur Beschreibung der informellen Beziehungen zwischen Nachbarn oder Kolleginnen benutzt hatte, die weder auf Zwang noch auf Zuneigung beruhen, sondern auf kurzen Begegnungen im Supermarkt oder im Hausflur. »Ich bin nicht immer gleich mit allen auf Du und Du«, sagte sie oft und blickte voller Verachtung auf jene (vor allem Frauen), die es waren: »Die ist immer gleich mit jedem auf Du und Du.«

In den Industriegesellschaften, schreibt Norbert Elias, sehen sich die älter und schwächer werdenden Menschen in immer größerem Maße aus der Gesellschaft und damit auch aus dem Familien- und Bekanntenkreis ausgesondert:

 

Es gibt zunehmend Institutionen, in denen nur alte Menschen, die in ihrem früheren Leben gar nicht miteinander bekannt waren, zusammenleben. Auch bei hoher Individualisierung haben die meisten Menschen unserer Gesellschaft vor dem Ruhestand, vor dem Ende ihrer Berufstätigkeit Gefühlsbindungen nicht nur in der Familie, sondern auch an einen mehr oder minder umfassenden Kreis von Freunden, Freundinnen und Bekannten. Schon das Altwerden bringt gewöhnlich ein zunehmendes Absterben solcher Gefühlsbindungen außerhalb der engsten Familie mit sich.

 

Und weiter:

 

Außer im Falle von alten Ehepaaren bedeutet die Aufnahme ins Altersheim nicht nur gewöhnlich das endgültige Absterben früherer Gefühlsbeziehungen, es bedeutet zugleich auch das Zusammenleben mit Menschen, mit denen den einzelnen Mitbewohner des Altersheims keinerlei positive Gefühlsbeziehung verbindet. Die physische Betreuung durch Arzt und Pflegepersonal mag ausgezeichnet sein. Aber zugleich bedeutet die Aussonderung der Alten aus dem gewohnten Lebensbereich und die Zusammensiedlung der einander fremden Alten für den Einzelnen eine Vereinsamung. Es handelt sich dabei nicht nur um die Frage der sexuellen Bedürfnisse, die besonders bei Männern bis ins hohe Alter hinein noch recht rege sein können, sondern um die emotionalen Valenzen zwischen Menschen, deren Zusammenkommen ihnen Freude macht, die eine gewisse Zuneigung füreinander haben. Auch Beziehungen dieser Art verringern sich gewöhnlich mit dem Umzug ins Altersheim und finden nur selten dort einen Ersatz.

 

Elias kommt zu einem erschreckenden, treffend formulierten Schluss, der mich tief berührt hat, als ich das Buch noch einmal gelesen habe: »Viele Altersheime sind daher Einöden der Einsamkeit.«[20] 

Als sich meine Mutter mit siebenundachtzig Jahren inmitten von Menschen wiederfand, die sehr alt waren, zum Teil noch älter als sie, und von denen einige stark in ihrer Wahrnehmungs- und Kommunikationsfähigkeit eingeschränkt waren, versetzte sie das in einen seltsamen Zustand zwischen Unwohlsein und Rebellion. Dies äußerte sich in Aggressionen gegenüber ihren Tischnachbarinnen, gegenüber ihren Schicksalsgenossinnen, die infolge ihres hohen Alters dieselbe Einsamkeit, dasselbe Unglück empfanden wie meine Mutter (was sie meinen Brüdern und mir durch derartige Bemerkungen indirekt, aber schonungslos vorwarf). Zweifellos lehnte sie sich damit auch gegen den unaufhaltsamen Verfall auf, dessen Folgen sie vermehrt in ihrem Körper spürte; gegen die Tatsache, dass die Frau, die sie stumm und mit ausdruckslosem Gesicht anstarrte, ihr einen Spiegel vorhielt, in dem sie ihre eigene Zukunft erblickte. Meine Mutter war nicht wie diese »Alte«, wollte nicht sein wie sie, wollte nicht werden wie sie, dabei war sie auf dem besten Weg dorthin.

Bohumil Hrabal schildert ausführlich die Flut an Eindrücken und Gefühlen, die über einen Menschen hereinbricht, der in ein Altersheim zieht. Man betritt eine neue Welt, die man häufig bereits kennt, jedoch nur aus der Außenperspektive: Fast jeder hat irgendwann schon einmal Verwandte in einer solchen Einrichtung besucht. Die Erzählerin von Hrabals Roman ist noch im Vollbesitz ihrer Kräfte und beschließt aus eigenem Antrieb, in ein ehemaliges Schloss oberhalb der Stadt zu ziehen, in der sie mit ihrem Mann gelebt hat. In dem Schloss ist mittlerweile ein Altenheim untergebracht, und die Menschen, die es bewohnen, werden von der Erzählerin als »starr« und »steif« beschrieben. Sie hat den Eindruck, die anderen sähen sie an, ohne sie wirklich wahrzunehmen, weil ihr Auge nach innen gerichtet ist:

 

[M]it entrücktem Blick schauten sie irgendwohin zurück, in die alten Zeiten, da sie noch jung waren, oder sie grämten sich erbittert und voller Groll und Bosheit über ein Ereignis, das sich jetzt nicht mehr ändern ließ, auf welches sie keinen Einfluss mehr hatten, aber das bestimmte Ereignis war erst jetzt ausgereift, als seine Ursachen vergangen und vorbei waren …[21] 

Könnte dies auch für die alte Frau gelten, die meine Mutter im Speisesaal angestarrt hatte, während sie ihr beim Abendessen gegenübersaß? Vielleicht hatte auch sie meine Mutter nicht wirklich gesehen, vielleicht war auch sie in einer stillen, inneren Betrachtung ihrer Vergangenheit versunken? Erfüllt von hilfloser Verzweiflung, weil sie keinen Zugriff mehr auf die Ereignisse von gestern hatte (weil sie sie nicht fortsetzen, ihnen keine neue Bedeutung geben konnte) und noch weniger auf die Ereignisse von heute (weil sie alles passiv über sich ergehen lassen musste)? Ich fragte mich: Wer war diese Frau? Was für ein Mensch war sie gewesen, als Jugendliche, als Erwachsene? War sie »Hausfrau« gewesen oder hatte sie einen Beruf gehabt oder sogar mehrere, und wenn ja, welche? War sie in einer Gewerkschaft gewesen? Hatte sie vielleicht sogar in derselben Fabrik gearbeitet wie meine Mutter? Oder in einer anderen Fabrik im selben Industriegebiet? Vielleicht hatten die beiden gemeinsam an einem Streik teilgenommen? Wer wusste das schon? War sie politisch engagiert gewesen? Was für eine Meinung hatte sie zu den kleinen und großen Ereignissen der Zeit gehabt, die sie durchlebt hatte? Wen hatte sie geliebt? Was hatte sie gemocht? Und was ging ihr jetzt durch den Kopf, wo sie von alldem getrennt war? Dachte sie überhaupt noch etwas? Oder war sie »nicht mehr ganz richtig im Kopf«, ein so gängiger wie grausamer Ausdruck zur Beschreibung der nachlassenden geistigen Fähigkeiten? Ja, genau: Wer war sie früher gewesen? Und wer war sie jetzt?

Und die anderen Anwesenden? Welche Sequenzen der Vergangenheit, welche Schichten der Gesellschaft verkörperten die im Speisesaal um die Tische versammelten Personen? Welche gemeinsamen oder voneinander abweichenden Lebensgeschichten hatten sie, Lebensgeschichten, die in diesem Rahmen nicht – oder nur selten – zueinanderkamen? Welche unterschwelligen, unsichtbaren Gemeinsamkeiten bestanden zwischen diesen isolierten Individuen, die aus dem Kontext ihres früheren Lebens herausgerissen worden waren, deren soziale, berufliche und politische Zugehörigkeiten keine Rolle mehr spielten, Gemeinsamkeiten, die sie trotz der Situation, in der sie sich befanden, einer kollektiven Vergangenheit, einem zeitgeschichtlichen Hintergrund zuordneten, den sie vielleicht noch nicht vollständig hinter sich gelassen hatten und über den sie sich hätten austauschen können, wären sie nur bereit gewesen, miteinander zu sprechen?

In seinem Buch Krebsstation schildert Alexander Solschenizyn wie in einem Vergrößerungsspiegel eine solche Situation, in der ein Mensch an einen abgeschotteten Ort kommt, an dem er fast vollständig von der Außenwelt abgeschnitten ist und mit einem Mal Tag und Nacht unter Fremden leben muss.[22]  In dem Roman teilen sich acht Figuren (acht Männer) Anfang der fünfziger Jahre ein Zimmer in einem Nebengebäude des Krankenhauses von Taschkent. Ihr Zusammentreffen beruht nicht auf einer freien Entscheidung, sondern auf einer Notwendigkeit, denn sie sind nur deshalb dort, weil sie sich diversen Behandlungen und chirurgischen Eingriffen unterziehen müssen. Ihre Krankheit hat sie hergeführt, und sie alle bringen ihr altes Leben mit, ihre Hoffnungen für die Zukunft beziehungsweise die Angst, sie könnten keine Zukunft mehr haben. In den verschiedenen Kapiteln werden uns ihre persönlichen Geschichten erzählt, aber das, was den Roman eigentlich ausmacht, ist die Art und Weise, wie diese Geschichten einander gegenübergestellt sind, genauer gesagt, wie sie sich überkreuzen, sich überlagern, ineinanderfließen, kollidieren.

Das Zimmer und die Krankenstation werden vor unseren Augen zu einer historischen und politischen Arena, in der Menschen aufeinandertreffen, die alles verbindet und alles trennt: darunter ein Regimegegner, der zuvor nach Sibirien deportiert worden ist, und ein ehemaliger Funktionär der Kommunistischen Partei, der in seinem alten Leben guten Gewissens und voller Leidenschaft »Vaterlandsverräter« und »Feinde des Sozialismus« denunziert hat. Die Patienten liegen auf ihren Betten, gehen im Flur oder Hof spazieren und machen dabei die Erfahrung, dass sie im Angesicht von Krankheit, Medizin und Ärzteschaft alle gleich sind – oder fast –, sie erleben eine Aufhebung sämtlicher – oder fast – sozialer Unterschiede.

Seite um Seite, Erzählung um Erzählung, Geständnis um Geständnis, Gespräch um Gespräch, zwischen Patienten, zwischen Patienten und Ärzteschaft – fast nur Frauen –, zwischen Patienten und Pflegerinnen – nur Frauen –, zwischen Patienten und Putzfrauen, entsteht so ein Tableau der sowjetischen Gesellschaft der dreißiger bis fünfziger Jahre: Es geht um den Krieg, um den Stalinismus und seinen repressiven Wahn, um Gulag, Deportation und Verbannung, um zerstörte Leben, aber auch um die Sehnsucht, trotz allem einen Neuanfang zu wagen.

Die Gespräche und Animositäten, die flüchtigen Annäherungen, die bei solch einer unfreiwilligen räumlichen Enge unvermeidlich sind, all die Interaktionen zwischen den Figuren verweisen den Leser, die Leserin auf eine grundsätzlichere Dimension. Es wird deutlich, dass man den eigentlichen Sinn der minutiös und sensibel erzählten Lebensgeschichten erst dann begreift, wenn man sie in das Porträt der Gruppe einordnet, und dass man auch das Gruppenporträt nur im Kontext der historischen Ereignisse begreifen kann. Individuen, die einander zuvor nicht kannten, sind Teil derselben politischen Konfiguration: der Denunziant und der aufgrund einer Denunziation Deportierte, aber auch der Patient und die Putzfrau, die beide im Lager waren und sich im jeweils anderen wiederfinden, obwohl sie nie über diese Zeit gesprochen haben, die im anderen den eigenen Schmerz erkennen, weil das Gegenüber dasselbe Grauen überlebt hat wie sie. Eines Abends treffen sich die beiden abseits fremder Blicke, um über die Gewalt zu sprechen, die eines Tages über sie hereingebrochen war wie über Millionen andere. Dabei hatten sie nicht einmal erfahren, was man ihnen vorwarf. Letztlich stellt sich heraus, dass kein individuelles Schicksal, kein persönlicher Lebensweg losgelöst ist von anderen Schicksalen und anderen Lebenswegen, im Gegenteil, sie alle sind durch dieselben Ereignisse geformt und auf diese Weise miteinander verbunden.

Im Altenheim ist die Situation weitgehend ähnlich, nur ist der Aufenthalt dort nicht vorübergehend: Es hat den Anschein, als wären die sozialen, beruflichen, politischen, kulturellen, religiösen etc. Unterschiede zwischen den Menschen, die an diesem Ort aufeinandertreffen, verwischt oder sogar ganz verschwunden, und bis zu einem gewissen Grad sind sie das auch, denn Menschen mit ganz unterschiedlicher Vergangenheit leben in einem gemeinsamen Rahmen zusammen, von dem man schwerlich behaupten kann, er wäre frei gewählt. Alle sitzen im selben Boot: die gleichen Zimmer, die gleichen Betten, dieselben Regeln, derselbe Zeitplan, dasselbe Essen, dieselben Freizeitaktivitäten, dieselben Pflegekräfte … Durch diese Gleichbehandlung werden alle Eigenheiten der Menschen eingeebnet. Und nicht nur das: Mit den individuellen Unterschieden lösen sich auch die Gemeinsamkeiten auf, die Zugehörigkeit zu einer bestimmten gesellschaftlichen Gruppe, oder treten zumindest in den Hintergrund, wobei man sagen muss, dass die Bewohnerschaft des Heimes in Fismes aufgrund der geografischen Lage und der als moderat geltenden Kosten eine recht große Homogenität aufwies, zumindest, was die soziale Herkunft anging. Das EHPAD in Fismes war keine Pflegeeinrichtung für das Bürgertum, und die Männer und Frauen, die dort lebten, hatten keinen bürgerlichen Hintergrund, sondern entstammten derselben Schicht wie meine Mutter: Dass ein ehemaliger Kollege meines Vaters in dem Heim untergebracht war und meine Mutter dort dessen Frau getroffen hatte, ist hierfür ein Indiz.[23] 

Abgesehen von solchen möglichen, aber seltenen Bekanntschaften aus dem früheren Leben verband nichts die Menschen, die diese Zimmer, diese Flure und diesen Speisesaal bevölkerten. Es war, als hätten die Bewohnerinnen ihre Vergangenheit vollständig hinter sich gelassen, als hätte die neue Lebenssituation nicht nur ihre Eigenheiten zum Verschwinden gebracht, sondern auch ihren Bezug zu einer Gruppe, ihre Verwurzelung in einer Schicht, einer Klasse, einer geografischen und politischen Konstellation, ihren »Habitus«. Ich überlege, was man alles rekonstruieren könnte, wenn man die Lebenswege der Menschen zurückverfolgte, die sich zu den Mahlzeiten um diesen großen Tisch versammelten: ihre Einzigartigkeit und ihre Konformität, ihre individuellen Unterschiede und die gesellschaftlichen Determinierungen, die sie mit ihren Tischnachbarinnen teilen (aufgrund von Klasse, Alter, Geschlecht, Herkunft etc.: in diesem Fall aufgrund ihrer Zugehörigkeit zur Gruppe der hochbetagten weißen Frauen aus der Arbeiterklasse im Nordosten Frankreichs). Die individuellen Biografien, die Lebenserzählungen all dieser Menschen, die anscheinend einer absoluten Serialität unterworfen waren (die nebeneinandersaßen, aber nichts miteinander zu tun hatten, die in sich selbst versunken waren), würden das Porträt einer ganzen Generation ergeben, einer sozialen Klasse, einer von großen und kleinen politischen Ereignissen geprägten Zeit.

In Hrabals Roman setzt die Erzählerin ihre Erkundung des Altenheims fort:

 

Ich kletterte auf eigene Verantwortung in die Krone einer alten Kastanie, die Äste waren wie eine Leiter gegabelt, es war, als kletterte ich auf einen Hochstand. Und ich erblickte hinter dem Netz eine Greisin in Weiß, sie hielt sich mit den Fingern an den Stricken, kniete und schaute durchs Fenster in die Dunkelheit, sie schaute zu mir, und in den Augen stand ihr der Schrecken geschrieben, sie hatte aufgelöste Haare und einen zahnlosen Mund, und als ich sie noch einmal ansah, fiel ich beinahe hinunter, sie glich mir dermaßen, daß ich glaubte, ich läge dort.[24] 

 

Erging es meiner Mutter genauso? Sah sie sich selbst in den Augen der Frau, die sie beim Essen angestarrt hatte? Glaubte sie, ihre eigene Zukunft zu erblicken? Ihr Gegenüber schaute sie an, und sie versuchte mit allen Mitteln, diesem Blick zu entgehen. Das große Drama des Blicks, das hat Sartre in Das Sein und das Nichts auf ungeheuer eloquente Weise dargelegt, ist seine Reziprozität: Nicht nur wir haben die Macht, unsere Mitmenschen anzusehen, das heißt, über sie zu urteilen, sie zu konstituieren, ihr Sein und ihre Identität zu definieren; auch sie sehen uns an und haben somit die Macht, unsere Wahrheit zu bestimmen, ungeachtet dessen, dass wir gern die Definitionshoheit über uns selbst und über die Wahrheit unseres Gegenübers hätten.

Aus diesem Kreis kann man nicht ausbrechen – »die Hölle sind die anderen«, sagt die männliche Hauptfigur (Garcin) in Sartres Geschlossene Gesellschaft, als er die konstituierende Kraft des Blicks einer anderen Figur (Inès) auf sich spürt, eine Replik, die so berühmt geworden ist, dass man längst nicht mehr über ihre Bedeutung nachdenkt. Angesehen werden (oder das Gefühl haben, dass man angesehen wird) heißt zum Objekt gemacht werden (oder das Gefühl haben, dass man zum Objekt gemacht wird). Daraus gibt es kein Entkommen. Selbst im Altersheim nicht, im Gegenteil, wie der abgeschottete Ort bei Sartre, an dem die Figuren gefangen sind, ist es ein idealtypischer Raum, an dem die »Hölle« Wirklichkeit wird, mit dem Unterschied, dass man im Heim nicht für die Ewigkeit ist. Der »Blick des Anderen« in seiner fast vollkommenen Reinheit, frei von allen gesellschaftlichen Versteckspielen, Masken und Ausflüchten, aufs Einfachste reduziert, offenbart uns schonungslos die nackte Wahrheit: Er sagt uns, wer wir sind, und damit auch, weil sich dies kaum noch ändern wird, wer wir in Zukunft sein werden. Jetzt versteht man, warum der Blick bei Sartre untrennbar mit dem Gefühl der Scham verknüpft ist. Der Andere sieht Dinge, die er nicht sehen soll, die man gern vor ihm verbergen würde: den Körper, das Gesicht, die Bewegungen, das Auftreten … Und nicht nur sieht er all das, er entscheidet auch, was er sieht und was davon er im Gedächtnis behält. Das löst Scham in uns aus. Also ist die Scham eine ontologische Struktur. In Betrachtungen zur Schwulenfrage und Une morale du minoritaire bin ich von Sartres herausragender Analyse des Blicks ausgegangen, um das Schamgefühl als »soziale Struktur« neu zu denken: Die Scham ist ein Affekt, der mit Erniedrigung einhergeht, ist Teil eines Machtsystems.[25]  Jegliches »negative symbolische Kapital« verurteilt seinen Träger, seine Trägerin dazu, Scham zu empfinden, und dieses Gefühl ist kein individuelles, psychologisches, punktuelles oder vorübergehendes, ist keine ontologische und damit universelle Dimension des menschlichen Daseins, sondern eine Folge der Zugehörigkeit zu einer erniedrigten, stigmatisierten und stigmatisierbaren Kategorie, von der man unterschiedlich betroffen sein kann. Man könnte auch sagen, ich wollte das, was mir bei Sartre zu metaphysisch war, historisch, soziologisch und anthropologisch fassen. Übrigens tat er in späteren Texten nach seiner großen philosophischen Abhandlung Das Sein und das Nichts dasselbe: In Betrachtungen über die Judenfrage, Saint Genet und »Schwarzer Orpheus« untersucht Sartre anhand verschiedener Beispiele den Blick als soziale und historische Struktur. Dies tue auch ich weiterhin. Trotzdem hat mich die Empörung meiner Mutter dazu gebracht, meine Gedanken teilweise zu revidieren: Die Scham als durch den Blick des Anderen ausgelöstes Unbehagen und, auf einer tieferen Ebene, als Gefangenschaft im durch den Blick des Anderen definierten Selbst ist eben doch eine »ontologische Struktur«, wenn man sie mit dem Eingesperrtsein in Raum und Zeit zusammendenkt, das eine Konsequenz von Alter und körperlichem Verfall ist.

All dies findet sich auch in Hrabals Roman:

 

[Ich glaube,] die einzige zu sein […], die hier die Dinge richtig sieht. Aber woher! Ich bemerke, daß auch die anderen mich forschend anschauen, hier ist man überhaupt jeden Augenblick überrascht, von wo überall geschaut wird. Die ganze Zeit mustert einer den anderen, ob jener gelb ist, ob er abmagert, nicht hinterhältig, sondern einfach so und weil er die anderen mit Sicherheit früher oder später zu beobachten beginnt, und dabei sieht er sich selbst, so wie er sich einst erblicken wird, wenn seine Wangen eingefallen sind.[26] 

 

Per definitionem sind Neuankömmlinge in einem Altersheim meist jünger oder zumindest kräftiger als die bereits dort Lebenden, und so halten diese den Neuen einen Spiegel vor, führen ihnen vor Augen, was sie erwartet. Die Aggressivität meiner Mutter hing sicher auch damit zusammen: Die Frau, die ihr reglos und schweigend gegenübersaß, war älter oder zumindest schwächer als sie, das heißt, sie war ihr auf dem Weg, den meine Mutter gerade erst eingeschlagen hatte, ein Stück voraus, dem Weg der schwindenden Kräfte und, wie Hrabal schreibt, dem Weg des langsamen Sterbens:

 

Möglicherweise weiß jeder Greis und jede Greisin mehr über das Altersheim als ich, aber sie machen kein Aufhebens davon, sie haben es nicht nötig, sich damit im Gespräch oder gar im Gebaren aufzuspielen. Und darin sind sie alle weiter als ich, die ich sie dauernd bei ihrem stillen und langsamen Sterben störe.[27]