Würde sich meine Mutter im Altenheim einleben? Noch war sie hin- und hergerissen zwischen dem Wunsch, an den gemeinsamen Aktivitäten teilzunehmen, und der Weigerung, mit den »Alten« zu reden, die sich zu den Mahlzeiten im Speisesaal einfanden; in welche Richtung würde sich ihre Einstellung im Laufe der Tage, Wochen und Monate entwickeln? Würde sie sich an die Regeln gewöhnen (sich ihnen unterwerfen), die ihr Leben von nun an beherrschten (an den durchgetakteten Tagesablauf zum Beispiel, an die Tatsache, dass sie nie wieder selbst über ihre Zeit verfügen würde), an die in der Einrichtung geltenden Normen, die neu für sie waren?
Sozialisation, ganz gleich welcher Art, bedeutet immer, unbewusst oder bewusst ungeschriebene oder explizit festgelegte Regeln zu erlernen, und zwar durch die Begegnung mit einem Ensemble aus Zeichen und Signalen, aus mehr oder weniger freundlichen Aufforderungen, Befehlen und Ermahnungen, die jederzeit von überall her kommen können. So besteht jede neue Sozialisation, jede Resozialisation aus dem Erlernen neuer Praktiken, neuer Verhaltensmuster, neuer Seinsweisen, das heißt aus einer Umformung des Selbst und aus einer Neugestaltung unserer Beziehungen zu anderen innerhalb der Welt, in der wir uns fortan bewegen. Das Leben im Altenheim erfordert eine ganz besondere Art der Umstrukturierung des Selbst und des Bezugs zur Außenwelt. Wie groß ist die Kluft zwischen dem Alltag meiner Mutter zu ihrer Zeit als Fabrikarbeiterin und ihrem Alltag im Heim! Als Beschäftigte der Glasfabrik Verreries mécaniques champenoises musste sie lernen, wie man sich als Arbeiterin verhält, musste einem Schichtplan folgen, sich an die geltenden Regeln und Vorschriften halten, alle Arbeiten erledigen, die man ihr auftrug, sich an den Rhythmus des Fließbandes gewöhnen, an dem sie täglich acht Stunden stand; außerdem musste sie mit den Kolleginnen zurechtkommen, die den Beruf schon viel länger ausübten und mit denen sie den ganzen Tag verbrachte, musste lernen, an ihren Gesprächen teilzunehmen, musste sich ihre Gepflogenheiten und ihren Umgang miteinander aneignen. Sie musste, kurz gesagt, eine von ihnen werden. Natürlich herrschen sowohl in der Fabrik als auch im Pflegeheim bestimmte Vorschriften, eine bestimmte »Disziplin«, aber zwischen beiden Institutionen gibt es einen großen Unterschied: Am Arbeitsplatz hat man jeden Tag mit Dutzenden von Menschen zu tun; nach Feierabend muss man als Frau dann noch die Einkäufe erledigen, man wechselt ein paar Worte oder zumindest einen kurzen Gruß mit Nachbarinnen. Im Altersheim hingegen sind die Möglichkeiten zur Interaktion äußerst begrenzt, man spricht höchstens kurz mit einer Pflegekraft oder mit einer anderen Bewohnerin, bis das Bedürfnis, überhaupt mit irgendjemandem zu kommunizieren, schwächer und schwächer wird und schließlich ganz verschwindet.[28]
Nachdem ich meiner Mutter vorgeschlagen hatte, sie solle den anderen Bewohnerinnen beim Mittagessen nicht mit solcher Feindseligkeit begegnen, kam mir beim Nachdenken über ihre Antwort folgende Frage: Hätte sie sich leichter in ihr neues »Zuhause« eingewöhnt, wenn sie, wie ursprünglich geplant, drei oder vier Jahre früher ins Heim gekommen wäre? Hätte sie dann das Bedürfnis gehabt, sich mit einer oder mehreren Personen anzufreunden, und wäre ihr dies auch gelungen? Hätte sie es schön gefunden, sich nachmittags mit anderen Bewohnern zu unterhalten und einen Kaffee, Tee oder Kakao mit ihnen zu trinken? Oder in einem der Gemeinschaftsräume fernzusehen? Vielleicht sogar eine Runde Karten zu spielen? Früher hatte meine Mutter gern Belote gespielt, ein in der Arbeiterklasse populäres Kartenspiel. Ich erinnere mich an lange Abende, an denen mein Vater mit anderen Männern aus der Familie zusammensaß, und manchmal, wenn sie nur zu dritt waren oder wenn der vierte Mann ersetzt werden musste, war meine Mutter dazugestoßen – Belote war eine Männerangelegenheit, bei der Frauen höchstens einspringen durften. Diese Treffen – bei denen es oft hoch herging – konnten sich stundenlang hinziehen, und auch an Weihnachten oder Silvester fanden häufig spätabends noch mehrere Runden statt. Ich habe Belote selbst im Alter von vierzehn oder fünfzehn Jahren oft mit meinem Vater, meinem großen Bruder, meinen Onkeln, meinem Großvater oder meiner Mutter gespielt.
Doch ergab diese Frage, die sich mir unwillkürlich aufgedrängt hatte, überhaupt einen Sinn? Meine Mutter hatte darauf bestanden, so lang wie möglich in der eigenen Wohnung zu bleiben, und daher war es müßig, sich zu fragen, ob es besser gewesen wäre, wenn sie zu einer Zeit ins Heim gekommen wäre, als es noch nicht absolut notwendig war. Warum hätte sie sich früher dafür entscheiden sollen? Warum hätte sie ihr Lebensumfeld, in dem sie sich wohlfühlte, aufgeben sollen? Hätte sie, wenn sie früher umgezogen wäre, nicht den Eindruck gehabt, aus ihrer vertrauten Umgebung herausgerissen zu werden? Hätte sie dann nicht genauso schnell abgebaut, wie es ein paar Jahre später der Fall gewesen ist? Wenn ich ihre komfortable Wohnung in Tinqueux, die mit einem Schlaf- und einem Wohnzimmer, einer Küche und einem Badezimmer für einen alleinlebenden Menschen genug Platz bot, mit dem kleinen Zimmer in dem Altersheim in Fismes vergleiche, kommt mir der Gedanke, meine Mutter hätte umziehen wollen, ohne durch körperliche Probleme dazu gezwungen zu sein, absurd vor. Zumal sie selbstverständlich gewusst hatte, dass es etwas anderes sein würde, in einem Pflegeheim Besuch zu empfangen (zum Beispiel von ihren Söhnen oder von dem Mann, den sie liebte) als in der Wohnung. Es würde eher einem Besuch im Krankenhaus ähneln, und so war es dann auch, als sie schließlich ins Heim ziehen musste.
Anders wäre es höchstens gewesen, wenn sie nicht ein Zimmer, sondern eine kleine Wohnung oder ein Apartment bekommen hätte, so wie es geplant gewesen war, als wir das erste Mal über einen Umzug in eine Pflegeeinrichtung nachgedacht hatten. Doch als sich diese Möglichkeit dann ergab, weigerte sich meine Mutter kategorisch: Das Heim war ihr zu weit weg und von der Welt abgeschnitten, das heißt von der Stadt mit ihren Straßen und Geschäften. Was bedeutet, dass sie in solch einer Einrichtung genauso unglücklich gewesen wäre, wie sie es ein paar Jahre später in dem Heim war, in dem wir einen Platz für sie gefunden hatten.
Sicherlich würde ein Wohnumfeld, in dem individuelle Seniorenapartments in Häuser mit Mietwohnungen für jüngere, noch berufstätige Menschen oder in Studierendenwohnheime integriert sind, dem Gefühl der Entwurzelung und des Exils entgegenwirken, das in Altenheimen wie dem meiner Mutter verbreitet ist. Aber so etwas ist nur für Menschen eine Option, die noch über eine gewisse Selbstständigkeit verfügen. Anderenfalls stellt sich wieder die Frage, wer die alten Leute pflegen und ihnen bei der Bewältigung des Alltags helfen soll. Dann gibt es natürlich auch die Fälle, in denen Kinder (vor allem Frauen) einen alten Elternteil (meist die Mutter) bei sich zu Hause aufnehmen. Doch dies ist keine leichte Aufgabe und kann schnell zu einer Überforderung der pflegenden Angehörigen führen.[29]
Schließlich sind da noch die Menschen, die nicht mehr mobil sind, die ihre Wohnung oder ihr Haus aber – aus verschiedensten Gründen – nicht aufgeben wollen. Zu ihnen kommt ein ambulanter Pflegedienst: Pflegehelferinnen leisten Unterstützung im Haushalt, assistieren bei der Körperpflege und beim Anziehen, während Altenpflegerinnen für die medizinische Versorgung zuständig sind. Oft leben diese Menschen allein, und ihre Einsamkeit wird nur von den Mitarbeiterinnen des Pflegediensts durchbrochen – wobei diese aufgrund der Vorgaben und der strengen Kontrolle durch die Arbeitgeber immer viel zu wenig Zeit haben – oder von Verwandten oder Bekannten, die viel zu selten und viel zu kurz zu Besuch kommen, so es überhaupt noch welche gibt. An vielen Tagen sehen die alten Menschen niemanden außer der Pflegehelferin und der Altenpflegerin, die beide nie lange bleiben können, weil es ihnen verboten ist und weil andere alte Menschen auf sie warten.[30]
Im Altenheim besteht ein beträchtlicher Unterschied zwischen denjenigen, die noch mobil genug sind, um das Gebäude für ein paar Minuten, Stunden oder sogar Tage zu verlassen, wenn ihre Angehörigen sie übers Wochenende zu sich holen oder in den Ferien auch länger, denjenigen, die zumindest im Garten spazieren gehen können, und den Pflegebedürftigen, die ihr Zimmer nicht mehr verlassen und manchmal nicht einmal mehr aus dem Bett aufstehen und ohne Hilfe ein paar Schritte gehen können. Doch trotz dieser Unterscheidung, so zentral sie auch ist, darf man nicht vergessen, dass ein Umzug ins Altenheim in den allermeisten Fällen mit einem partiellen oder vollständigen Verlust der Autonomie einhergeht.
Jedenfalls war nicht von der Hand zu weisen, dass meine Mutter sich im Heim nach kurzer Zeit sehr isoliert fühlte, getrennt von ihrem früheren Leben, im Prinzip sogar getrennt vom gesellschaftlichen und zwischenmenschlichen Leben überhaupt. Das Wort, das am besten beschreibt, was sie empfand, ist »Verlassenheit«.
Im Alter reduziert sich das, was Erving Goffman »Territorien des Selbst« genannt hat, also das Ensemble aus Orten, Räumen, Beziehungen und Rechten, durch die wir uns definieren.[31] Je älter ein Mensch ist, desto kleiner wird sein Territorium, bis es auf ein Minimum zusammengeschrumpft ist. Was bleibt vom »Ich«, was wird aus dem »Ich«, wenn das »Territorium«, über das man früher verfügte, fast verschwunden ist und man keine Kontrolle mehr über den kleinen oder verschwindend kleinen Rest hat?
Das Alter ist ein Lebensabschnitt, in dem die Beziehungen zu anderen Menschen sich oft auf Familienangehörige beschränken (altern bedeutet auch, keine Kontakte am Arbeitsplatz mehr zu haben, weil man nicht mehr im Berufsleben steht, und Freundschaften zu verlieren, weil die Menschen, denen man früher nahestand, gestorben sind oder weil die Verbindung zu ihnen zwangsläufig schwächer geworden oder sogar ganz abgerissen ist, weil man nicht mehr für gemeinsame Treffen das Haus verlassen kann). Und aufgrund der Umstände – räumliche Entfernung, berufliche Belastung, Auslandsreisen, Alltagsroutinen, häufig siegende Bequemlichkeit, fehlende Zeit – werden die familiären Bindungen zwischen den Generationen nur noch bei seltenen Besuchen aktualisiert, Besuchen, denen die Besuchten erwartungsvoll, sehnsuchtsvoll entgegensehen, während sie für die Besucher oft nur eine soziale oder moralische Verpflichtung sind (oder zumindest eine Handlung, die genauso viel mit einer selbst auferlegten Pflicht zu tun hat wie mit dem Wunsch, einen Elternteil oder einen Verwandten zu sehen, mit der Zuneigung für diesen Menschen). Das ist einer der Gründe, warum bei den Hitzewellen in Frankreich in den nuller Jahren die Sterblichkeit unter alten Menschen sehr hoch war: Es war niemand da, der sich um sie gesorgt und zum Beispiel darauf geachtet hätte, dass sie genug trinken. Es war Sommer und die Jungen und Gesunden waren im Urlaub.