In einem Buch über Guillaume le Maréchal erzählt Georges Duby, wie der Edelmann, der einst im Ruf stand, »der beste aller Ritter« zu sein, nach unzähligen Feldzügen seine Kräfte schwinden spürt. Wir schreiben das Jahr 1219, und Guillaume behauptet von sich, über achtzig Jahre alt zu sein, was sicher übertrieben ist. Jedenfalls beschließt er – und es handelt sich wirklich um eine freie Entscheidung –, es sei an der Zeit, aus dem Leben zu scheiden. Er versammelt seine Getreuen um sich – seine Frau, seine Ritter, seinen ältesten Sohn – und tut ihnen seinen letzten Willen kund. Dann wartet er auf den Tod.[43]
Im Grunde war es bei meiner Mutter nicht anders, nur lebte sie zu einer anderen Zeit in einer anderen Welt mit einer anderen gesellschaftlichen Position. Im Lauf ihres Lebens hatte sie unzählige Kämpfe gegen übermächtige Gegner ausgefochten und es immer geschafft, sich ihnen zu widersetzen. Wie viele Hindernisse hatte sie überwunden! Doch diesen Kampf konnte sie nicht gewinnen.
Nach einem Anruf der Ärztin eilten zwei meiner Brüder mit ihren Partnerinnen an ihre Seite, um in den letzten Momenten bei ihr zu sein – es war beinahe zu spät. Hinterher fand man in ihrem Zimmer einen Zettel mit Wünschen für die Beerdigung. Meine Mutter hinterließ kein Testament, weil es nichts zu vererben gab. Sie hatte kein Vermögen: kein Sparbuch, keine Wertpapiere, keine Immobilie.
Mir fiel die Definition von Xavier Bichat ein, einem Mediziner aus dem 18. Jahrhundert, deren bemerkenswerte Knappheit mich als Student beeindruckt hatte, als ich mich für Medizin und Biologie interessierte und einige wissenschaftsphilosophische Seminare belegt hatte: »Das Leben ist die Gesamtheit der Funktionen, die dem Tod widerstehen.« Damals schien mir das ein schöner Gedanke zu sein, auch wenn er für mich recht abstrakt blieb. Zwei Gegner stehen einander gegenüber: Auf der einem Seite der Tod, der von überall her angreift und von dem wir wissen, dass er den Kampf letztlich gewinnen wird – heute würde man sagen, wir tragen ihn in den Genen –, auf der anderen Seite das Leben als Kraft, die sich bemüht, die Attacken des übermächtigen Feinds abzuwehren und dessen Sieg so lang wie möglich hinauszuzögern. Mit »Funktionen« meint Bichat natürlich die biologischen Funktionen des Körpers. Doch die psychische Gesundheit und Widerstandsfähigkeit spielen ebenfalls eine wichtige Rolle. Zu den überlebensnotwendigen Funktionen gehören nämlich auch der Lebensdrang und die Lebenslust, das also, was Schopenhauer »Wille zum Leben« genannt hat. Dieser setzt allerdings einen Bezug zur Zukunft voraus, so minimal dieser auch sein mag, oder zumindest einen Bezug zur Gegenwart. Denn leben heißt, einen Bezug zur Zeit haben, zur Zeitlichkeit und natürlich auch zur Räumlichkeit: Man muss eine Zukunft entwerfen und sich im Raum bewegen können. Im Alter, und damit meine ich das hohe Alter, die Betagtheit, verändert sich jedoch der ontologische Bezug zu Raum und Zeit, er wird schwächer und verschwindet irgendwann ganz. Der Verlust des Raum- und Zeitgefühls zerstört nach und nach die Grundlagen dessen, was die menschliche Existenz ausmacht. Und diese Entwicklung betrifft sehr viele Menschen! Man könnte sogar sagen, fast alle, denn der einzige Weg, nicht zu sterben, ist, älter zu werden. Die steigende Lebenserwartung und die damit einhergehende »Überalterung« der Bevölkerung, wie es in politischen Reden und Regierungsberichten gern heißt, sorgen dafür, dass die Anzahl pflegebedürftiger Menschen steigt: Das Leben wird nicht mehr nur mit einem Leben in Gesundheit gleichgesetzt, es kann auch ein Leben in Krankheit sein, ein Leben mit Einschränkungen.
Meine Mutter fand ihr eingeschränktes Leben unerträglich. Was brachte es zu kämpfen? Wozu weiterleben? Wenn sie doch nur in ihrem Zimmer gefangen war, allein, ans Bett gefesselt, wenn sie nicht mehr aufstehen, nirgendwo hingehen, sich nicht mehr fortbewegen konnte? »Die Hoffnung erhält uns am Leben«, sagt das Sprichwort. Hoffnungslosigkeit hingegen lässt uns verzweifeln und kann zum Tod führen. Die letzte Kraft, die meine Mutter noch gehabt hatte, verließ sie, oder genauer gesagt, sie gab willentlich die letzte Kraft, die sie noch gehabt hatte, auf. Sie beschloss zu sterben.
An dem Tag, als meine Mutter im Heim angekommen war, hatte die Ärztin mich gewarnt: »In den ersten beiden Monaten nach einem Umzug ins Pflegeheim sind alte Menschen gefährdet.« Und damit ich die Warnung ernst nahm, fügte sie hinzu: »Extrem gefährdet.« Es handele sich um ein eigenes Krankheitsbild, das sogenannte syndrome du glissement, eine rapide Verschlechterung des Allgemeinzustands, begleitet von einem Verlust des Lebenswillens.
Ich gestehe, dass ich nie zuvor über diese Dinge nachgedacht hatte, trotzdem verstand ich auf Anhieb, was die Ärztin meinte: Der Schock angesichts der Entwurzelung ist so groß, dass viele ihn nicht verkraften und kurz nach diesem radikalen Bruch in ihrem Leben sterben. So seltsam mir das heute auch vorkommt, damals hielt ich die Aussage für eine allgemeine Bemerkung und brachte sie nicht mit meiner Mutter in Verbindung, denn ich war fest überzeugt, dass sie die Eingewöhnungsphase überstehen und sich gut in ihrer neuen Umgebung einleben würde. Zu dem Zeitpunkt konnte sie noch gehen, wenn auch mit Mühe, sie redete völlig normal und unterhielt sich problemlos mit meinem Bruder und mir, mit ihrer Freundin Y., mit der Ärztin und den Pflegerinnen. Anfangs wirkte es sogar so, als wären die Wahrnehmungsstörungen, die ich zuvor beschrieben habe und die in Tinqueux regelmäßig aufgetreten waren, Vergangenheit: An den beiden Tagen, als ich ihr geholfen hatte, sich in Fismes einzurichten, waren sie nicht mehr vorgekommen. Meine Mutter wirkte nicht »gefährdet«, schon gar nicht »extrem«. Doch dann verschlechterte sich ihr körperlicher, psychischer und kognitiver Zustand mit einer Geschwindigkeit, die mich völlig unvorbereitet traf. Irgendwann konnte ich nur noch feststellen, dass die Ärztin recht gehabt hatte und ihre Worte vollständig auf meine Mutter zutrafen: Nach drei, vier Wochen war sie nicht mehr derselbe Mensch. Und meine Reaktion auf die Verschlechterung ihres Zustands kam immer versetzt, genauer gesagt kam sie immer zu spät.[44]
Erst anderthalb Monate nach dem ersten Gespräch mit der Ärztin begriff ich, dass ihre Warnung an mich persönlich gerichtet gewesen war, als sie mir nämlich am Telefon sagte: »Ihre Mutter will nicht mehr essen, nicht mehr trinken, nicht mehr sprechen … Aber sie ist bei Bewusstsein, wir kommunizieren über die Augen.« Kurz darauf informierte sie mich: »Morgen lasse ich Ihre Mutter auf die Palliativstation verlegen. Sie müssen sich darauf einstellen, dass sie im Laufe der Woche stirbt.«
Ich war wie vom Schlag getroffen. Es ging alles so schnell. Ich hatte nicht wahrgenommen oder nicht wahrnehmen wollen, was los war. Oder vielmehr hatte ich die Bedeutung dessen, was ich wahrnahm, wenn ich mit meiner Mutter telefonierte und sie zunehmend wirr redete, wenn ich mit der Ärztin oder den Pflegekräften sprach und diese mich über ihren Zustand informierten, nicht wahrhaben wollen: Ihr Niedergang war unaufhaltsam, es würde nicht mehr besser werden. Und man konnte nichts dagegen tun.
»Im Laufe der Woche«, hatte die Ärztin gesagt.
Wahrscheinlich wollte sie uns die Nachricht auf diese Weise nur schonend beibringen. Am nächsten Tag war es vorbei.
Ich habe meine Mutter also nach jenen zwei Tagen, von denen ich eingangs erzählt habe, nicht mehr wiedergesehen, den zwei Tagen, an denen ich ihr beim Umzug in ihr neues »Zuhause« in Fismes geholfen habe. Als ich mich am zweiten Nachmittag mit den Worten: »Ich komme bald wieder«, von ihr verabschiedete, um zum Bus zu gehen, ahnte ich nicht, dass wir uns in dem Moment zum letzten Mal sahen. Ich wäre nie auf den Gedanken gekommen. Das begriff ich erst im Rückblick. So etwas begreift man immer erst im Rückblick. Ich würde mich gern an jedes Detail dieses letzten Mals erinnern, von dem ich damals nicht wusste, dass es das letzte Mal war (und wenn ich es geahnt hätte, hätte ich alles dafür getan, dass meine Mutter es nicht mitbekommt; außerdem hätte ich alles dafür getan, sie so schnell wie möglich wiederzusehen). Nach meiner Rückkehr aus Italien stornierte ich das Zugticket von Paris nach Reims, das ich gekauft hatte, um zu ihr zu fahren. Ich war sehr krank. Ich wusste nicht, was ich hatte, fürchtete aber, es könnte eine Virusinfektion sein: Ich wollte meine Mutter nicht anstecken. Ich war mehrmals beim Arzt, machte diverse Tests und Untersuchungen inklusive einer Computertomografie und verbrachte sogar eine Nacht in der Notaufnahme des Hôpital Cochin, nachdem sich mein Zustand plötzlich verschlechtert hatte. Nach einer Weile ging es mir besser, und ich konnte wieder aus dem Haus gehen. Aber die Fahrt nach Fismes war so lang und umständlich! Außerdem war ich noch nicht ganz gesund, und solange ich krank war, wollte ich nicht zu meiner Mutter fahren. Ich war wütend auf mich selbst: Warum hatte ich nicht darauf bestanden, dass sie nach Paris zog? Kurz darauf musste ich für eine Reihe lang vereinbarter Vorträge nach Deutschland reisen. Obwohl ich immer noch schwach war, wollte ich meinen Verpflichtungen nachkommen. Ich beschloss, gleich nach meiner Rückkehr drei, vier Tage später nach Reims und Fismes zu fahren: Bis dahin wäre ich auch wieder gesund und könnte endlich etwas Zeit mit meiner Mutter verbringen. Dann kamen die verfluchten Anrufe. Natürlich ärgere ich mich im Nachhinein, dass ich der Entwicklung hinterherhinkte, dass ich ständig »den Zug verpasste«, wie man auf Französisch sagt. Was in meinem Fall nicht nur eine Metapher war.
Ich versuche, mir den letzten Besuch bei meiner Mutter in Erinnerung zu rufen: Welche Kleidung hatte sie getragen, wie war ihre Mimik gewesen, was hatte sie beim Abschied zu mir gesagt?
Jedenfalls waren alle Fragen, die ich mir zuvor gestellt hatte, mit einem Mal hinfällig – wie viele Monate oder Jahre würde sie in diesem Heim leben, das heißt in diesem Flur, in diesem Zimmer, über wie viele Monate oder Jahre hinweg würde ich sie in diesem großen Dorf besuchen, dreißig Kilometer von Reims entfernt? Letztlich verbrachte sie bis zu ihrem Tod nur sieben Wochen dort, und ich bin nicht mehr dorthin zurückgekehrt.
Erst im Nachhinein habe ich mich über das Krankheitsbild informiert, das auf Französisch syndrome du glissement genannt wird. Im Grunde war meine Mutter genau daran gestorben: am Verlust des Lebenswillens. In der französischen Geriatrie wird das Syndrom als »Selbstaufgabe und Unfähigkeit, die zum Überleben nötigen Kräfte zu mobilisieren« beschrieben.[45] Aus Fachartikeln, die sich damit beschäftigen, habe ich erfahren, dass es nach einem körperlichen oder psychischen Trauma auftritt, das von einer Krankheit, einem chirurgischen Eingriff, einem Unfall oder vom Tod eines Angehörigen herrühren kann. Ich habe auch erfahren, dass »die Verlegung in ein Altenheim und die damit einhergehenden Gefühle von Hilflosigkeit, Enttäuschung und Verlassenheit« auf der Liste der Risikofaktoren sehr weit oben stehen.
Manche Ärzte und Mediziner beschreiben es auch als »unbewussten Suizid«. Ich frage mich, ob »unbewusst« das richtige Wort ist. In einem der vorigen Kapitel habe ich die Hauptfigur aus Jehoschua Kenaz' Roman Auf dem Weg zu den Katzen erwähnt, die nicht ins Altenheim will, obwohl ihre Tochter immer wieder beteuert, es werde ihr dort gut gehen. Im Roman erfährt man, dass der Umzug ins Heim ihr den Rest gibt:
Gestern ist sie gestorben, in der Anstalt! Hat einfach aufgehört zu essen! Da hat man sie ins Krankenhaus gebracht und mit Gewalt ernährt, mit einer Sonde. Dann nochmals in die Anstalt, da wollte sie wieder nicht essen! Sie ließ sich nicht zwingen, kam nicht mehr aus dem Bett. Sie wollte nicht leben …«[46]
Es geht also nicht um Einzelfälle, sondern um ein verbreitetes Phänomen. Und es ist kein unbewusster Vorgang: Im Fall meiner Mutter bin ich mittlerweile überzeugt, dass es sich zumindest teilweise um eine bewusste und freie Entscheidung gehandelt hat. Gewiss, sie war verwirrt und hatte zwischenzeitlich den Bezug zur Realität verloren, aber sie war trotzdem klar genug im Kopf, diese Entscheidung zu treffen, und auch willensstark genug, sie umzusetzen. Meine Mutter wollte ebenfalls nicht mehr leben. Der Beschluss zu sterben erfordert sicher viel Mut und Entschlossenheit, und ich frage mich, was ihr in den Momenten der Klarheit zwischen zwei Phasen der Verwirrtheit durch den Kopf gegangen sein mag, während sie auf den Tod wartete.
Sechs oder sieben Jahre zuvor hatte sie sich einer schweren Operation unterziehen müssen. In den letzten zehn Jahren ihres Lebens verbrachte sie mehrmals einige Tage oder Wochen im Krankenhaus, aber dieser eine Aufenthalt war besonders lang und lebensbedrohlich gewesen. Ihr Hausarzt in Muizon hatte sie im Krankenwagen in die Notaufnahme einer Privatklinik in der Innenstadt von Reims bringen lassen, weil es dort eine hervorragende Chirurgin gab, die er aus dem Studium kannte. Meine Mutter lag mehrere Wochen in dem Krankenhaus, zwei Wochen davon auf der Intensivstation. Es ging ihr sehr schlecht, und sie hatte starke Schmerzen. Sie wollte nicht mehr kämpfen: Sie war kurz davor, »aufzugeben«, »ihren Lebenswillen zu verlieren«. Der Grund, warum sie letztlich doch die Kraft fand, diese Zeit zu überstehen, war die Liebe.
Drei oder vier Jahre nach dem Tod meines Vaters hatte sie einen Mann aus einem Nachbardorf von Muizon kennengelernt. Ich weiß nicht mehr genau, wie es dazu gekommen war. Waren sie sich im Supermarkt begegnet oder hatte er ihr die Taschen zum Auto getragen und ihr geholfen, die Einkäufe im Kofferraum zu verstauen? Jedenfalls sahen sie sich wieder. Er kam sie besuchen, sie verbrachten den Nachmittag miteinander, und meine Mutter verliebte sich in ihn. Als ich sie einmal für ein paar Tage nach Paris einlud, erzählte sie mir gleich am ersten Abend von ihm. Ich hatte sie vom Bahnhof abgeholt, und wir waren mit dem Bus zur Wohnung eines Freundes gefahren, der verreist war. Dort hatte ich sie für die Dauer ihres Aufenthalts untergebracht. Kaum waren wir durch die Tür, sagte sie feierlich, aber auch besorgt:
»Ich möchte dich was fragen.«
»Nur zu!«
»Du bist doch Philosoph, da musst du so was doch wissen: Glaubst du, man kann sich in meinem Alter noch mal verlieben?«
»Ja, natürlich, man kann sich in jedem Alter verlieben. Warum fragst du?«
»Ach, nur so.«
»Hast du dich verliebt?«
»Du wirst mich für verrückt halten …«, murmelte sie nach kurzem Zögern.
»Also ist die Antwort ja …«
»Äh … Ja …«
»In wen?«
Sie gab mir ein paar Auskünfte über das Objekt ihrer Leidenschaft. Er hieß André und lebte nur wenige Kilometer von Muizon entfernt. Das einzige Problem bestand darin, dass er verheiratet war.
Dann stellte sie mir weitere Fragen (der Form halber, nehme ich an):
»Was, denkst du, soll ich tun?«
»Du musst mich nicht nach meiner Meinung fragen. Tu, wozu du Lust hast. Hauptsache, du bist glücklich.«
»Ja, wenn ich ihn treffe, bin ich glücklich. Mit deinem Vater war ich nie glücklich. Mit ihm fühle ich mich wohl.«
»Dann ist doch alles wunderbar.«
»Gut, dann treffe ich mich weiter mit ihm. Aber das ist doch verrückt, in meinem Alter!« (Sie musste kichern.)
Meine Mutter fügte hinzu, sie wolle lieber nicht mit meinen Brüdern darüber reden, die Neuigkeit werde ihnen sicher nicht gefallen.
Nach einiger Zeit hielt sie es jedoch nicht mehr aus und erzählte ihnen doch davon, und sie hatte richtig vermutet, die Sache gefiel ihnen ganz und gar nicht.
In den nächsten Tagen besichtigten wir die Dinosaurierausstellung im Botanischen Garten und den im Dunkeln erleuchteten Eiffelturm, ein Anblick, der meine Mutter verzauberte. Sie erzählte mir viel von André.
Wenige Wochen nach diesem Geständnis meiner Mutter, der es bereits bei ihrem Besuch in Paris nicht gut gegangen war, fühlte sie sich mit einem Mal sehr schlecht: Ihr Hausarzt rief einen Krankenwagen. Sie musste notoperiert werden.
Auf dem Weg in die Klinik rief sie nacheinander ihre Söhne an, um uns Bescheid zu sagen. Sie informierte uns auch, dass sie ihren Hausschlüssel dem Mann, den sie liebte, gegeben hatte. Meine Brüder waren beunruhigt:
»Mama hätte ihm nicht den Schlüssel geben sollen. Wir wissen doch gar nicht, ob wir ihm vertrauen können.«
»Es ist ihr Schlüssel!«, entgegnete ich. »Und sie vertraut ihm.«
»Wir wissen nicht mal, wer der Typ ist. Was, wenn er irgendwas klaut?«
»Was soll er denn klauen? Bei ihr gibt es doch nichts.«
»Was ist mit Papas Werkzeug in der Garage?«
Tatsächlich war mein Vater ein passionierter Heimwerker gewesen und hatte viele Werkzeuge besessen. Aber er war seit mehreren Jahren tot, und seine Sachen belegten in der Garage unbenutzt und nutzlos mehrere Schränke, Regalbretter und Schubladen. Warum war das Werkzeug meinen Brüdern plötzlich so wichtig? »Das hat seit seinem Tod niemand mehr angefasst«, entgegnete ich, und um die Diskussion abzuschließen, fügte ich hinzu: »Ein Viertel davon gehört sowieso mir, ich schenke ihm meinen Teil, wenn er es haben will.« (Was hätte ich auch damit anfangen sollen? Nach dem Tod meiner Mutter hat einer meiner Brüder das Werkzeug abgeholt. Ich habe es ihm gern überlassen.)
Dann begann sich das Gespräch um die eigentliche Liebesbeziehung zu drehen. »Sie ist nicht mehr ganz richtig im Kopf«, sagte einer meiner Brüder zu mir. E-Mails wurden verschickt, Anrufe getätigt, und der Tenor war immer der gleiche: »Sie hat was mit einem anderen Mann angefangen, dabei ist Papa erst drei Jahre tot.« – »Sie ist achtzig, soll sie vielleicht warten, bis sie neunzig ist?« – »Aber er ist jünger als sie …« Worauf ich erwiderte, in ihrem Alter sei es besser so als andersherum. »Aber er ist verheiratet!« – »Das müssen die beiden unter sich ausmachen, das geht uns nichts an. Was regt ihr euch auf? Warum mischt ihr euch da ein?«
Die konformistische, konservative Haltung meiner Brüder nervte und deprimierte mich. Ich hatte den Eindruck, ich wäre in die Erzählung »Die unwürdige Greisin« von Bertolt Brecht katapultiert worden. Darin fängt eine alte Frau nach dem Tod ihres Ehemanns ein neues Leben an, sie geht ins Kino und lernt einen anderen Mann kennen, ohne sich um die Konventionen, das Gerede der Leute und die Missbilligung ihrer Kinder zu scheren. Diese fragen sich, was mit der Mutter los ist, und wollen einen Arzt zu Rate ziehen – nur ein Sohn besteht darauf, man solle die alte Frau, solange sie »ganz munter« sei, einfach machen lassen.
Brechts weibliche Hauptfigur lebte »hintereinander zwei Leben«: Ein erstes, längeres »als Tochter, als Frau und als Mutter« und ein zweites, sehr viel kürzeres (das nur zwei Jahre dauerte) als »alleinstehende Person ohne Verpflichtungen und mit bescheidenen, aber ausreichenden Mitteln«. Kurz gesagt: Sie erlebte »kurze Jahre der Freiheit« nach »langen Jahren der Knechtschaft«.[47]
Ich finde meine Mutter in dieser wunderbaren Kurzgeschichte wieder. Sie war ein ungewolltes, im Waisenhaus aufgewachsenes Kind und hatte mit vierzehn Jahren angefangen zu arbeiten, erst als Dienstmädchen, dann als Putzfrau, später als Fabrikarbeiterin. Sie hatte mit zwanzig geheiratet und fünfundfünfzig Jahre mit einem Mann zusammengelebt, den sie nicht liebte. Jetzt, mit über achtzig, entdeckte sie ihre Freiheit und war fest entschlossen, jeden Moment davon zu genießen. Wie konnte man ihr das verübeln? Wer nahm sich das Recht heraus, ihr deswegen Vorhaltungen zu machen? Aber sie hatte ohnehin nicht vor, sich dem Urteil ihrer Söhne zu beugen. Sie tat das, wozu sie Lust hatte. Hatte sie »den Verstand verloren«? Vielleicht, aber wenn, dann nur aus Liebe. Sie war glücklich. In all unseren Gesprächen erzählte sie mir von dem Mann; sie war regelrecht besessen von ihm. Jedes Mal, wenn sie seinen Namen sagte, musste ich grinsen und an einen Vers von Racine denken: »O schwerer Zorn der Venus! Strenge Rache! Zu welchem Wahnsinn triebst du meine Mutter!«[48]
Da ich – aufgrund meiner sexuellen Orientierung – schon immer oder spätestens seit meiner Jugend die Stigmatisierung und Ausgrenzung einer nicht der Norm entsprechenden Sexualität erfahren und mir mein Leben so eingerichtet hatte, dass niemand mir in meine Entscheidungen hineinreden konnte, solidarisierte ich mich spontan mit ihrer Wahl oder zumindest mit ihrem Wunsch, nicht klein beizugeben, nur weil ihre Söhne ihr Verhalten nicht guthießen. Hatte sie im Übrigen nicht geahnt, wie ich reagieren würde (»Tu, was du willst«), und mir deshalb als Erstem davon erzählt, vor meinen Brüdern? Sie verließ sich auf die Ermutigung ihres schwulen Sohns, und meine spontane Zustimmung bestärkte sie. Ich glaube nicht, dass ich es ihr hätte ausreden können, aber ich bin überzeugt, dass meine Reaktion es ihr leichter gemacht hat, zu dem, was sie wollte, zu stehen.
Die absurden und völlig gegenstandslosen Diskussionen – sie hatte meine Brüder ja nicht um ihre Meinung gebeten – hörten irgendwann von allein auf. Meinen Brüdern blieb nichts übrig, als sich mit der Sache abzufinden. Außerdem mussten auch sie einsehen, dass unsere Mutter die Operation nur aus einem einzigen Grund überlebt hatte: Sie hatte um ihre Gesundheit gekämpft, weil sie verliebt war.
Als meine Mutter direkt nach der Operation auf der Intensivstation lag, durften wir nie lang bei ihr bleiben, und ich war ziemlich pessimistisch: Sie klagte über unerträgliche Schmerzen, trotz der starken Medikamente. Sie war halb weggedämmert und wiederholte mehrmals unter Tränen, sie wolle »für immer einschlafen«. Zu der Chirurgin, die sie operiert hatte, sagte sie dasselbe: »Ich will sterben.« Die Ärztin schimpfte sie aus: »Auf keinen Fall! Ich habe mich stundenlang abgerackert, um Ihnen das Leben zu retten. Tun Sie mir einen Gefallen und bleiben Sie noch ein Weilchen bei uns.« Doch sobald André zu Besuch kam, fand meine Mutter ihre Lebenslust wieder. Das ist die Wahrheit: Sie wollte leben, damit sie mit ihm ihre Liebe leben konnte.
Während meine Mutter sich nach der OP im Krankenhaus erholte, besuchte ich sie mehrmals. Der Grund für ihre Einweisung war eine akute Divertikulitis gewesen, eine Entzündung der Divertikel – Ausstülpungen der Darmschleimhaut –, die zu einer Bauchfellentzündung oder einem Darmdurchbruch führen kann. Ein Teil des Darms musste entfernt werden. Es handelte sich um eine Notoperation, bei der wegen der Entzündung beide Abschnitte des Darms nicht gleich wieder miteinander verbunden werden können. Ein künstlicher Darmausgang wird gelegt, und der Patient muss drei Monate lang einen daran angeschlossenen Beutel mit sich herumtragen, bevor eine zweite Operation die Kontinuität des Darms wiederherstellt. Das war sehr schlimm für meine Mutter. Wenn der Beutel gewechselt wurde, breitete sich ein strenger, schier unerträglicher Geruch im Zimmer aus. Einmal, als sie gerade von der Intensivstation auf eine andere Station verlegt worden war und ich dachte, ich könnte den Nachmittag mit ihr verbringen, öffnete ich das Fenster, um zu lüften, aber sie bat mich, es wieder zu schließen. Es war mitten im Winter, sie war geschwächt und ihr war kalt. Der Geruch löste einen Brechreiz in mir aus. Ich konnte nicht im Zimmer bleiben. Ich ging nach draußen und kehrte eine Viertelstunde später zurück, nur um mich in derselben Situation wiederzufinden, was den Kummer meiner Mutter noch verstärkte. Sie sagte mehrmals entschuldigend: »Ich kann nichts dafür, das ist wegen der OP …« Sie erholte sich von einer schweren Operation, und ich hatte nicht einmal meine körperliche Reaktion im Griff: Ich musste mich von ihr verabschieden und versprach, in der Woche darauf wiederzukommen.
Norbert Elias weist darauf hin, dass Krankheit, Verfall und Sterben alles andere als geruchlose Angelegenheiten sind und dass »die entwickelteren Gesellschaften […] zu einer eher hohen Empfindlichkeit gegenüber starken Gerüchen erziehen«.[49] Elias' sozialgeschichtliche Einordnung hilft, die eigene Reaktion besser zu verstehen, und mildert die empfundene Scham und Schuld, indem sie unsere individuellen Abneigungen und physischen Aversionen als kollektive Strukturen der Subjektivierung interpretiert. Unsere Sinne sind derart beschaffen, dass gewisse Stimuli, auf die wir mit einer historisch gewachsenen und gesellschaftlich geformten Sensibilität reagieren, »natürliche« Reflexe auslösen.
André war offenbar weniger empfindlich als ich »gegenüber starken Gerüchen«. Oder er liebte meine Mutter so sehr, dass er den Geruch verdrängen konnte. Jedenfalls kam er regelmäßig zu Besuch und verbrachte Zeit mit ihr.
Als sie wieder zu Hause in Muizon war, veranlasste ich per Telefon die Lieferung und Installation eines Pflegebetts, das unten im Wohnzimmer aufgestellt wurde. Meine Mutter erholte sich langsam von der Operation, empfing André und erzählte mir bei jeder sich bietenden Gelegenheit von ihm. Das ging eine ganze Weile so. Irgendwann begann er jedoch, seltsame Verhaltensweisen an ihr zu beobachten, Anzeichen für eine beginnende Verwirrtheit: Zum Beispiel ließ sie geöffnete Schinkenpackungen auf dem Tisch liegen und vergaß, sie zurück in den Kühlschrank zu räumen. Derartiges passierte zunehmend häufig, und die zunächst recht harmlosen Vorfälle wurden immer schlimmer. Vor allem aber wurde meine Mutter ihm gegenüber aggressiv. Sie machte ihm eine Szene, weil er zu spät kam, weil er sie nicht oft genug besuchte, weil, weil, weil … Mittlerweile wohnte sie nicht mehr in Muizon, sondern in Tinqueux, und für André war es nicht mehr so leicht wie vorher vorbeizukommen. Sie war eifersüchtig, rasend eifersüchtig auf andere, mit denen er Zeit verbrachte (vor allem auf seinen Sohn, der gesundheitliche Probleme hatte), und sie ertrug es immer weniger, dass er seine Frau nicht gleich am Anfang verlassen hatte, um mit ihr zusammenzuziehen. Meines Wissens war das nie ein Thema gewesen, zumindest nicht seinerseits. Jedenfalls gelangte er irgendwann zu dem Schluss, dass er mit der Situation überfordert war. Er schickte meinen Brüdern und mir eine Nachricht, um uns darüber zu informieren. Den Wohnungsschlüssel ließ er auf dem Tisch in der Wohnung meiner Mutter zurück (er hatte einen eigenen Schlüssel gehabt). Das war ihre Trennung. Von diesem Schlag erholte meine Mutter sich nicht mehr. Der Umzug ins Altenheim kurze Zeit später war dann der Todesstoß. Vielleicht käme André sie ja besuchen? Sie wartete. Sie hoffte … Natürlich konnte ich ihr nicht versprechen, dass er kommen würde, und überhaupt, es wäre nicht dasselbe gewesen wie vorher. Hat er sie letztlich im Heim besucht? Ich weiß es nicht. Falls ja, reichte es nicht, um das Ruder herumzureißen. Sie hatte längst einen bestimmten Punkt überschritten.
Mit dem Ende ihrer Liebe war jeder Lebenswille in ihr erloschen.
Meine Mutter rief ihre Kinder nicht an ihr Sterbebett, um sich von ihnen zu verabschieden. Sie hatte bereits seit einer Weile den Kontakt zu uns abgebrochen: Sie ging nicht mehr an ihr Handy, wenn wir anriefen; sie hob auch nicht ab, wenn wir versuchten, sie auf dem Festnetztelefon in ihrem Zimmer zu erreichen. Ich fragte bei einer Pflegerin nach: »Sie beschwert sich, ihre Söhne würden sie belästigen«, erklärte diese mir. Tatsächlich riefen wir, wenn sie nicht ans Telefon ging, mehrmals hintereinander an, alle vier, ohne uns miteinander abzusprechen, und das ständige Klingeln muss sie als Störung, als Angriff empfunden haben. Sie sehnte sich nach Ruhe; sie wollte schlafen.
Nach unserem letzten Gespräch (natürlich wusste ich auch da nicht, dass es unser letztes sein würde) war ich traurig und besorgt. Das Objekt ihrer Leidenschaft und das Ende ihrer Beziehung ließen ihr keine Ruhe.
Bereits bei anderer Gelegenheit hatte ich feststellen können, wie besessen sie von André war. Als der deutsche Regisseur Thomas Ostermeier einige Monate zuvor mit seinem Team zu ihr nach Hause gekommen war, um uns zusammen für die Bühnenadaptation von Rückkehr nach Reims zu filmen, hatte sie plötzlich – vor laufender Kamera – angefangen, von André zu sprechen, und völlig unpassende Dinge gesagt: »Er hat gerade eine Herz-OP hinter sich, also kann er nicht viel machen … Wir kuscheln nur.« Ich stammelte: »Mama, was redest du denn da …«
So ist das also, wenn man nicht mehr ganz richtig im Kopf ist, dachte ich nach dem Ende der Dreharbeiten. Sie redet ganz normal, und mit einem Mal verliert sie den Kontakt zur Realität. Ich war wie erstarrt.
Genauso erging es mir einige Zeit später, als sie bereits im Heim lebte und es mir nach mehreren Versuchen endlich gelungen war, sie ans Telefon zu bekommen. Sie lag im Bett, völlig versunken in Schmerz und Verzweiflung, und delirierte:
»Habe ich dir eigentlich schon erzählt, dass ich schwanger bin?«
»Äh … Nein … Ich glaube auch nicht, dass das in deinem Alter noch möglich ist.«
»Doch, doch … Das dachte ich auch … Aber ist auch egal, ich will es nicht behalten.«
»Mama ….«
»Ich will nämlich nichts mehr von André wissen. Er hat mir nicht gesagt, dass er verheiratet ist.«
»Was?«
»Ich bin ihm gestern in Belgien begegnet …«
»Gestern? In Belgien?!?«
»Ja, auf der Kirmes. Er war mit seiner Frau da. Er hatte mir nicht gesagt, dass er verheiratet ist …«
»Doch, du hast es von Anfang an gewusst, Mama. Du hast es mir erzählt, als du ihn kennengelernt hast …«
»Nein, er hatte mir nicht gesagt, dass er verheiratet ist … Also hab ich ihn zum Teufel gejagt. Ich hab zu ihm gesagt: ›Hau ab, ich will dich nicht mehr sehen.‹«
»Aha …«
»Und deshalb will ich das Kind nicht behalten …«
Meine Mutter hatte mehrere Krankenhausaufenthalte und Operationen überlebt, weil André sie besuchen kam und weil sie ihn liebte. Jetzt wollte sie nicht mehr leben, weil sie ihn immer noch liebte und weil er sie nicht mehr besuchen kam. Natürlich war das nur einer von vielen Faktoren für diesen »unbewussten« Suizid, von dem ich den Eindruck habe, dass er sehr bewusst gewesen ist. Es gab mehrere Gründe für ihre Entscheidung, und einige waren sicher mindestens genauso ausschlaggebend, angefangen bei dem fast vollständigen Verlust ihrer Mobilität und der Tatsache, dass sie de facto in ihr Zimmer eingesperrt war, worüber sie sich immer wieder bitter beschwerte.
Trotzdem erstaunt es mich, dass Liebeskummer nicht auf der Liste der Risikofaktoren auftaucht, die zu einem Verlust des Lebenswillens führen oder ihn beschleunigen können. Vielleicht treten die Fälle zu selten auf oder sind zu schlecht dokumentiert und finden deshalb keinen Eingang in die Fachliteratur. Diese Realität ist fast mit einer Art Tabu belegt, weshalb sie von der Ärzteschaft (sei es in der Geriatrie oder in der Psychiatrie) ignoriert wird. Doch das Gefühl der »Verlassenheit« und die tödlichen Folgen, die dieses Gefühl haben kann, sind nicht auf familiäre Bindungen beschränkt. Der Schmerz einer »unwürdigen Greisin«, die unglücklich verliebt ist, sollte in die Beschreibung des Krankheitsbildes mit aufgenommen werden.