Ich bin versucht, Beauvoirs Buch über das Alter mit Foucaults Buch über den Wahnsinn zu vergleichen. Zwischen beiden liegen keine zehn Jahre: Wahnsinn und Gesellschaft erschien 1961,[95]  Das Alter (das genauso gut den Titel Alter und Gesellschaft hätte tragen können) 1970. Man kann also durchaus sagen, dass sie aus derselben Zeit stammen. Und trotz aller Unterschiede – insbesondere, was das Feld ihrer Reflexion und Intervention, den theoretischen Rahmen (existentialistische Philosophie bei Beauvoir, strukturalistische Methode bei Foucault), den untersuchten Zeitraum, die zitierten Werke und den Schreibstil angeht – sind sie einander verblüffend ähnlich: In beiden Büchern geht es darum, die verschiedenen historischen Schichten unserer Kultur zu untersuchen, um herauszufinden, wo und wie Trennungen stattfinden, wo und wie Grenzen gezogen werden und wie Ausschlüsse und Ausgrenzungen funktionieren.

Man könnte sagen, dass es sich um zwei »Archäologien der Kultur« in Form von zwei sehr dicken Büchern handelt: Foucault brauchte für seine Ausgrabungen sechshundert Seiten, Beauvoir ganze siebenhundert. Foucault nennt seine Vorgehensweise »Archäologie eines Schweigens«[96] , und es ist frappierend, dass Beauvoir in Bezug auf das Alter denselben Begriff verwendet. In ihrer Einleitung schreibt sie: »Und das ist der Grund, weshalb ich dieses Buch schreibe: um die Verschwörung des Schweigens zu brechen.«[97] 

Zweimal eine »Archäologie der Kultur« also, aber auch zweimal eine »Geschichte der Gegenwart«, denn sowohl Foucault als auch Beauvoir geht es darum, die Welt zu verstehen, in der wir heute leben, und zwar anhand von Untersuchungen, die man als »ethnologisch« und »genealogisch« charakterisieren könnte (»ethnologisch«, weil Beauvoir und Foucault die Methoden der Ethnologie auf die eigene Kultur anwenden, weil sie den vertrauten Boden erforschen und nach und nach die Schichten freilegen, aus denen er besteht; und »genealogisch«, weil sie die »Geburt« der Institutionen nachzeichnen und analysieren, wie diese in unserer gesellschaftlichen Landschaft so »natürlich« geworden sind, dass wir sie nicht mehr hinterfragen).[98] 

In Wahnsinn und Gesellschaft interpretiert Foucault Descartes' philosophischen Ansatz, sein Cogito (»Ich denke«), als emblematische Geste einer scharfen Trennung von Vernunft und Unvernunft, die sich im 17. Jahrhundert auf sämtlichen Ebenen des gesellschaftlichen und kulturellen Lebens vollzog. Zu Beginn der Meditationen, in einem Abschnitt, in dem Descartes überlegt, mit welchen Argumenten man die Gewissheiten und Wahrheiten anzweifeln könnte, die man von den Sinnen empfängt, spricht er von »Kranken […], deren Gehirne ein solch durchdringender Dampf aus schwarzer Galle zermürbt, daß sie hartnäckig versichern, sie seien Könige, während sie doch ganz arme Schlucker sind«. Er kommt zu dem Schluss: »Aber das sind Geisteskranke.«[99]  Foucault interpretiert die Passage als paradigmatisch für den Ausschluss des Wahnsinns aus der Philosophie und bringt sie in Zusammenhang mit der Gründung des Hôpital général etwa zur selben Zeit, eines Pariser Krankenhauses, in dem ganz unterschiedliche Bevölkerungsgruppen interniert wurden. Nicht nur »Irre« sperrte man dort ein, sondern auch »Geschlechtskranke, Verkommene, Verschwender, Homosexuelle, Gotteslästerer, Alchemisten, Libertins«,[100]  dazu Prostituierte und »arme Invalide, alte Leute im Elend, Bettler, hartnäckig Arbeitsscheue […], kurz alle, die hinsichtlich der Ordnung, der Vernunft, der Moral und der Gesellschaft Anzeichen von Zerrüttung zu erkennen geben«.[101]  Somit arbeitet Foucault in Wahnsinn und Gesellschaft die »Kohärenz« zwischen einem metaphysischen Text und einen politisch-administrativen Akt heraus. Diese beiden Elemente, diese beiden Ereignisse – oder besser gesagt: diese beiden Aspekte ein und desselben Ereignisses – sind einerseits Ausdruck einer neuen »moralischen Sensibilität«[102]  und setzen diese andererseits in die Tat um, und das in unterschiedlichen Sphären, nämlich »in der Ordnung der Spekulation« und in »der Ordnung der Institution«, »in der Rede und im Dekret«.[103]  Und zwar auf allen Ebenen, »überall, wo ein zeichentragendes Element für uns den Wert von Sprache annehmen kann«.[104] 

Könnte man, wenn man die foucaultsche Analyse auf die Fragen in dem vorliegenden Buch überträgt, zu dem Schluss kommen, dass ein Großteil der philosophischen Tradition des Westens schon immer und nach wie vor auf einem analogen Akt des Ausschlusses beruht, auf dem Vollzug und der Reiteration dieses Akts? »Aber das sind Alte«, scheinen unzählige Werke der Philosophie unausgesprochen zu sagen, Werke, in denen die Demarkationslinie nicht zwischen Vernunft und Unvernunft verläuft, sondern zwischen Jugend und Alter, Gesundheit und Gebrechlichkeit, unversehrten und hilfsbedürftigen Körpern. Den Ausschluss des Alters aus der Ordnung des Diskurses und aus dem Feld der Theorie könnte man, demselben Prinzip einer strukturellen Analogie oder strukturellen Isomorphie folgend, als einen Aspekt der generellen Konfiguration unserer Kultur beschreiben, deren Kehrseite die institutionelle Ausgrenzung alter Menschen ist.

Während die »Wahnsinnigen«, wie Foucault zeigt, bei Descartes ausdrücklich aus der Argumentation ausgeschlossen werden, wird der Ausschluss im vorliegenden Fall natürlich nicht explizit benannt. Er geschieht vielmehr stillschweigend, implizit, und diejenigen, die ihn formulieren, sind sich dessen vermutlich ebenso wenig bewusst wie diejenigen, die ihre Schriften lesen. Was nicht heißt, dass die Abwertung, wenn man erst einmal danach fragt und genauer hinschaut, nicht ebenso klar und eindeutig, ebenso massiv und auch ebenso wirkmächtig ist wie die von Foucault konstatierte Abwertung der »Unvernunft«. Im Prinzip könnte man sagen, dass diverse philosophische Systeme, betrachtet man den Anwendungsbereich ihrer grundlegenden Konzepte, Themen wie Alter, Gebrechlichkeit und Unselbstständigkeit ignorieren und aus ihrem Blick ausschließen. Die konzeptuelle Architektur besagter Systeme beruht auf diesem Ausschluss, ohne ihn als solchen zu benennen. Die Erklärung hierfür sollte man nicht in einem »kollektiven Unbewussten« suchen: Vielmehr beruht der Prozess der Ausgrenzung auf dem, was Foucault »die historische Mächtigkeit einer Erfahrung« genannt hat.[105]  Was sich hier abspielt, ist, um eine seiner Formulierungen aufzugreifen, »die Beziehung einer Kultur zu genau dem, was sie ausschließt«, zu dem, was sie als ihr Außen konstituiert.[106] 

Was mir bei Foucaults Vorgehensweise, bei seiner »Archäologie der Kultur« besonders wichtig erscheint, ist sein Beharren darauf, dass es ihm nicht darum gehe, eine Analyse von Begriffen durchzuführen. Stattdessen zielt er darauf ab, die Begriffe und das, was als wissenschaftliche Forschung auftritt (in seinem Fall im Bereich der Psychiatrie, Psychologie und Psychoanalyse), in die historischen Strukturen einzuordnen, welche die verschiedenen Erfahrungen prägen, in deren Kontext sich der Ausschluss des Wahnsinns abspielt. Die Psychiatrie konnte erst entstehen, nachdem die Ausgrenzung der Unvernunft vollzogen war. Die Begriffe bleiben mit dem Ausschluss verbunden, aus dem sie hervorgegangen sind.

Foucault stößt in der Literatur und in der Kunst auf die zum Schweigen gebrachte Stimme des Wahnsinns: bei Goya, van Gogh, Antonin Artaud und anderen. Einen besonderen Platz räumt er dem Werk Nietzsches ein. Foucault bringt Nietzsche ins Spiel, um auf die »Möglichkeit eines wahnsinnigen Philosophen« hinzuweisen, die von der rationalistischen Tradition negiert wird. Auch Beauvoir beruft sich auf Kunst und Literatur, um mundtot gemachten Stimmen Gehör zu verschaffen. Dabei untersucht sie nicht nur, welcher Blick gestern und heute auf das hohe Alter gerichtet wurde und wird, sondern macht auch die Möglichkeit eines alten Philosophen oder in ihrem Fall einer alten (oder alternden) Philosophin geltend, einer Philosophin, die aufgrund des eigenen Älterwerdens die Welt anders wahrnimmt und die spezifische und wesentliche Erfahrung des Alters sowie das Interesse, das sie dadurch für andere entwickelt, die diesen Weg vor ihr gegangen sind, in ihr Denken mit einbezieht. Beauvoir schreibt nicht bloß über das Alter, sondern auch vom Alter ausgehend, präziser gesagt, sie schreibt im Alter oder an der Schwelle zum Alter, genau wie Norbert Elias in seinem sehr viel kürzeren Buch, das man als Antwort auf die beauvoirsche Aufforderung verstehen kann, und wie Jean Améry, der sich zwischen »Revolte und Resignation« mit der Frage des Alterns generell und mit der seines eigenen Alterns befasst hat.[107] 

Wir können festhalten: Indem sie Konzepte entwickeln, in denen alte Menschen keinen Platz, keinen Raum haben, ja, noch fundamentaler, in denen alte Menschen keinen Raum, keinen Platz haben können, tragen die Philosophie und die politische Theorie zum Ausschluss des Alters und zur Ausgrenzung alter Menschen bei. Will man die Ausgeschlossenen zurück ins Feld des Denkens und des Handelns holen, steht jede Gesellschaftstheorie, die sich als kritisch und emanzipatorisch begreift, vor zwei grundsätzlichen, aufeinander aufbauenden Fragen: Können alte Menschen für sich selbst sprechen? Und wenn dies nicht der Fall ist: Was kann oder muss man unternehmen, damit sie trotzdem gehört werden?