PROLOGUE

D er Cimetière de Saint-Pancrace lag oberhalb von Roquebrune. Von hier hatte man über die roten Dächer der verwinkelten Altstadt hinweg einen fantastischen Blick aufs darunterliegende Meer. Oft war es so blau, dass es dem Namen der Küste alle Ehre machte: Côte d’Azur. Weil es hier so schön war, hatten viele Berühmtheiten den Friedhof als letzte Ruhestätte gewählt. So der irische Dichter William Butler Yeats. Auch die russische Großherzogin Alexandrowna Romanowa. Der legendäre Architekt Le Corbusier hatte seinen Grabstein selbst entworfen. Zudem hatte er sich einen bevorzugten Platz mit freier Sicht aufs Meer gesichert – in dem er makabrerweise später ertrank.

Wie fast jeden Tag suchten auch heute Verehrer Corbusiers nach dem Betonwürfel, der an ihn und seine Frau Yvonne erinnerte. Nicht so der junge Mann, der einige Reihen weiter oben vor einer marmornen Grabplatte stand und seinen Gedanken nachhing. Den Rücken hatte er dem Meer zugewandt. Es interessierte ihn nicht. Den Blick kannte er schon sein Leben lang. Von klein auf war er hierher mitgenommen worden. An das Familiengrab der Grafen Chacarasse. Seit Generationen lagen hier die Vorfahren begraben. Seine Vorfahren.

Lucien betrachtete die Grabplatte, deren eingemeißelte Namen und Geburts- sowie Sterbedaten er auswendig wusste. Bis hin zu seiner verstorbenen Mutter. Und seinem älteren Bruder. Ein Name fehlte noch. Der seines Vaters. Die Beisetzung hatte erst gestern stattgefunden. Blumen lagen auf dem Grab. An das mächtige Kreuz am Kopfende war ein Bild seines Vaters gelehnt. Ernst sah er aus und sehr ehrwürdig. Dazu ein Trauerband: »Alexandre Comte de Chacarasse. Il nous a quitté.«

Lucien schluckte. Ja, sein Vater hatte sie verlassen. Plötzlich und unerwartet. Unter dramatischen Umständen, die niemanden etwas angingen. Die ein Geheimnis bleiben würden. Wie so vieles, was sich unter dieser Grabplatte verbarg. Die Welt würde nie davon erfahren.

Er faltete die Hände. Auf dem Marmor stand das Familienmotto: »Obligé aux vivants et aux morts«. Verpflichtet den Lebenden und den Toten. Darunter zwei gekreuzte Säbel. Wie das zu interpretieren sei, blieb jedem überlassen. Die wahre Bedeutung kannte nur der engste Kreis der Familie. Und von dem war kaum noch jemand am Leben. Er selbst würde alles dafür geben, den tieferen Sinn des Leitspruchs vergessen zu können. Aber er hatte seinem Vater auf dem Sterbebett ein Versprechen gegeben. Er war eine Verpflichtung eingegangen. Nämlich die Verpflichtung, die jahrhundertealte Tradition der Familie fortzusetzen. Ihm war bewusst, dass er über die nötigen Fähigkeiten verfügte. Dass er alle Voraussetzungen mitbrachte – bis auf eine. Daran würde er scheitern.