1

V or ziemlich genau zwei Wochen wurde Luciens Leben aus der Bahn geworfen. Von einer Stunde auf die andere. Ohne Vorwarnung.

Als er am späten Vormittag durch Villefranche-sur-Mer lief, war er noch bester Laune. Eine Bekannte, die ihm begegnete, blond und très sexy, begrüßte ihn mit Küsschen und meinte, man müsse sich mal wieder verabreden. Super Idee. Dumm nur, dass ihm gerade ihr Name nicht einfiel. Aber er war auch erst vor einer halben Stunde aufgestanden. Da konnte so was passieren.

Vor der Chapelle Saint-Pierre warteten Touristen auf Einlass. Nicht, weil sie besonders fromm waren, sondern weil sie Jean Cocteau bewunderten, der sie ausgemalt hatte. Lucien hätte sie auch in das Haus seines Vaters auf Cap Ferrat einladen können. Dort hatte Cocteau, der ein Freund der Familie gewesen war, das Esszimmer gestaltet. Aber natürlich würden Gäste keinen Einlass bekommen. Fremden gegenüber war sein Vater ausgesprochen abweisend. Lucien lächelte. Erst recht, wenn sie so schlecht angezogen waren wie die Touristen vor der Chapelle Saint-Pierre.

Er selbst trug ein verwaschenes Polo über ausgefransten Bermudas. An den Füßen Flipflops. Damit würde auch er dem konservativen Geschmack seines Vaters nicht entsprechen. Aber bei ihm machte er eine Ausnahme. Er billigte ihm zu, mit Anfang dreißig weniger Wert auf sein Äußeres zu legen. Bei Familienfeierlichkeiten, von denen es nicht viele gab, holte Lucien seinen einzigen Anzug aus dem Schrank. Mit dem Wappen der Grafen von Chacarasse auf der Brusttasche.

Hinauf in die Altstadt nahm er zwei Stufen auf einmal. Dann stand er vor dem Restaurant P’tit Bouchon . An der Tür ein Schild: Fermé! Jour de repos! Dass das Lokal geschlossen hatte, überraschte ihn nicht. Den wöchentlichen Ruhetag hatte er selbst festgelegt. Schließlich gehörte ihm das Restaurant. Weshalb er auch einen Schlüssel besaß.

Kaum war er drin, machte er die Tür gleich wieder zu. Es sollte nur keiner auf die Idee kommen, es könnte doch geöffnet haben. Er wollte sich nur schnell ein Omelett zubereiten. Das machte er häufig am Ruhetag. Mit Zwiebeln, Tomaten, Käse und Speck – und reichlich Chili. Lucien hatte es gerne scharf. Das weckte die Lebensgeister.

Als er sein Handy aus der Gesäßtasche zog, um es neben einem Hackbrett abzulegen, stellte er fest, dass es sich von selbst abgestellt hatte. Weil er vergessen hatte, über Nacht den Akku aufzuladen. Lucien grinste. Hatte auch einen Vorteil. So musste er es nicht auf stumm stellen. Er hatte keine Lust, am jour de repos Tischreservierungen entgegenzunehmen. Es wurde höchste Zeit, sich ein zweites Handy zuzulegen. Zwar war das Lokal seine Leidenschaft, aber es gab Grenzen – auch für Leidenschaften.

Das P’tit Bouchon hatte er vor zwei Jahren eröffnet. Dabei hatte er nie vorgehabt, ein eigenes Lokal zu besitzen. Der Gedanke war spontan an einem langen Abend gereift. Er war mit Roland zusammengesessen, einem befreundeten Koch, der gerade eine neue Anstellung suchte. Nach der ersten Flasche Wein fiel Lucien ein, dass in Villefranche-sur-Mer, nicht weit von seiner Wohnung, ein Restaurant wegen eines Todesfalls geschlossen hatte und zum Verkauf stand. Was schade war, weil er dort häufig gegessen hatte und die Atmosphäre mochte. Während der zweiten Flasche Wein dachte Lucien, dass es vergnüglich sein müsste, in seinem eigenen Lokal Stammgast zu sein. Man bekäme zuverlässig einen Tisch. Der Koch müsste kochen, worauf er Lust hatte. Das Servicepersonal wäre immer freundlich und zuvorkommend. Die Weinkarte wäre gut sortiert – weil er sich höchstpersönlich darum kümmern würde. Und Roland hätte einen neuen Job … Bei der dritten Flasche Wein war er zwar nicht mehr zurechnungsfähig, aber er besiegelte mit Roland den Deal per Handschlag. Einen Namen für das Lokal hatten sie auch schon. Inspiriert von den gerade entkorkten Flaschen drängte er sich förmlich auf: P’tit Bouchon, der kleine Korken.

Nicht vorausgesehen hatte Lucien, dass Roland zwar gut am Herd war, aber kein Restaurant managen konnte. Weshalb er notgedrungen selbst die Führung übernommen hatte. Was sogar Spaß machte, aber keine Dauerlösung sein konnte. Darauf bestand schon sein Vater, der ihm unmissverständlich klargemacht hatte, dass selbst ein »schwarzes Schaf« irgendwann zur Besinnung kommen müsse. Ein Comte de Chacarasse dürfe sich zwar einige Extravaganzen gönnen, sei aber nicht dazu bestimmt, als »Kneipenwirt« zu enden. Den Ausdruck fand Lucien zwar despektierlich, aber es war wohl richtig, dass er dafür nicht an einer école supérieure hätte studieren müssen. Auch könnte er, so ein Argument seines Vaters, im P’tit Bouchon keine seiner »Spezialkenntnisse« anwenden, die er sich seit früher Kindheit auf seinen Druck hin angeeignet hatte. Darauf allerdings konnte er gerne verzichten …

Lucien hackte gerade Zwiebeln, als er aus den Augenwinkeln eine Ratte sah, die über den Küchenboden huschte. Ein Problem, das sie in der Altstadt von Villefranche nicht gelöst bekamen – und zudem den Hygienevorschriften in einem Restaurant widersprach. Bei Lucien setzte ein Reflex ein. Ohne eine Sekunde zu zögern, warf er mit dem Küchenmesser nach der Ratte … und obwohl sie fast drei Meter entfernt war, traf er sie präzise. Die scharfe Klinge durchbohrte sie …

Lucien erstarrte. Erschrocken blickte er auf die tote Ratte. Erschrocken über sich selbst und seine Reaktion. Das war jene Seite an ihm, die er nicht mochte. Die er verabscheute. Seine Treffsicherheit dagegen überraschte ihn weniger. So etwas verlernte man nicht. Wie so vieles andere.

Ihm war der Appetit auf sein Omelett vergangen. Er entsorgte die Ratte, machte in der Küche sauber, steckte sein ausgeschaltetes Handy in die Tasche – und lief durch den verdunkelten Gastraum, um das P’tit Bouchon zu verlassen. Außen vor der Tür stand ein Mann und klopfte dagegen. Musste das sein? Kapierte der Typ nicht, dass das Lokal geschlossen war?

Lucien wollte ihn zurechtweisen, da erkannte er Paul, der bei ihm den Service leitete, aber keinen Schlüssel besaß. Er hatte einen roten Kopf und war so aufgeregt, dass er kaum Luft bekam. So hatte ihn Lucien noch nie gesehen. Paul war ein Hüne von Mann und nicht so leicht aus der Ruhe zu bringen.

»Lucien, du bist am Handy nicht erreichbar …«, japste er.

»Ich weiß, der Akku ist leer. Was gibt’s so Dringendes?«

»Mich hat die Haushälterin deines Vaters angerufen …«

»Rosalie? Sie hat deine Nummer?«

»Ich bin ihr Neffe …«

»Wusste ich gar nicht.«

»Erzähl ich dir ein anderes Mal. Du sollst dringend nach Hause kommen, deinem Vater geht es nicht gut. Rosalie meint, es sei wirklich ernst. Er will dich noch mal sehen …«

Noch mal sehen? Hörte sich so an, als ob es mit seinem Vater zu Ende ginge. Aber das konnte nicht sein. Er war erst Anfang sechzig und bei bester Gesundheit. Vor zwei Tagen noch hatte er mit ihm eine Runde Tennis gespielt.

»Gib mir bitte dein Handy«, forderte er Paul auf.

Der wählte schon Rosalies Nummer und reichte ihm den Apparat.

Rosalie war für Lucien eine Herzensperson. Sie war trotz ihres hohen Alters noch ziemlich rüstig. Und sie war schon so lange im Haushalt, wie er sich erinnern konnte. Sie hatte auf ihn aufgepasst, als er klein war. Sie war wie ein Familienmitglied.

»Rosalie, ich bin’s. Was ist passiert?«

»Lucien, mein Lieber, du musst jetzt stark sein, dein Vater liegt im Sterben. Unser Hausarzt ist bei ihm. Er sagt, man könne nichts mehr machen …«

Ihm lief es kalt den Rücken runter.

»Hatte er einen Schlaganfall?«

»Nein, viel schlimmer. Der Comte will dich unbedingt noch sprechen. Unter vier Augen. Du musst dich beeilen.«