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D en Abend verbrachte Lucien auf dem kleinen Balkon seiner Wohnung in Villefranche-sur-Mer. Er wollte allein sein. Mit sich und seinen Gedanken. Nur eine angebrochene Flasche Wein leistete ihm Gesellschaft. Der Lärm auf der Straße störte ihn nicht. Er hatte Kopfhörer auf und hörte Musik. Seinem Vater hätte sie nicht gefallen. Doch Techno war ihm gerade lieber als Chopin. Von seinem Balkon konnte Lucien aufs Meer blicken. Das war der größte Vorzug seiner Wohnung. Genau genommen der einzige. Abgesehen von der Nähe zu seinem Arbeitsplatz, zum Restaurant P’tit Bouchon .

Er beobachtete eine Motorjacht, die in der Bucht nach einem günstigen Ankerplatz suchte. Zu dieser Jahreszeit gaben sich hier die Schönen und Reichen mit ihren schwimmenden Luxusherbergen ein Stelldichein. Schön und reich? Er kannte einige von ihnen. Schön waren sie nicht alle. Vor allem die Männer wiesen oft erhebliche Defizite auf. Viele Frauen bei näherer Betrachtung auch. Und wirklich reich waren manche Jachteigner ebenfalls nicht. Obwohl sie sich so in Szene setzten. Ihm war egal, wie sie das machten, solange sie das Essen bezahlten, das er an Bord lieferte. Mit diesem »Lieferservice« machte er an manchen Tagen mehr Umsatz als mit den Gästen im Lokal. Vor allem, wenn zur Bestellung auch Champagner und Wein gehörten.

Lucien hatte ein Fernglas am Geländer hängen. Aber heute interessierten ihn die Jachten nicht. Er kam sich vor wie gelähmt. Immer wieder sah er seinen sterbenden Vater vor sich. Seinen flehenden Blick würde er nie vergessen. In seinen Ohren hallten seine letzten Worte: »Lucien … schwöre es … bei allem, was dir heilig ist!« Und dann sein Versprechen, das er gegeben hatte – aber nie hätte geben dürfen. Warum hatte er nachgegeben? Weil er ein sentimentaler Idiot war? Eine andere Erklärung gab es nicht.

Er trank einen Schluck Wein. Der Technobeat aus den Kopfhörern schaffte es nicht, gegen die bösen Geister in seinem Kopf anzukommen. Schließlich war er nicht nur eine unselige Verpflichtung eingegangen, vor allem hatte er … seinen Vater verloren. Darauf war er nicht vorbereitet gewesen. Damit hatte er nicht gerechnet. Seine Mutter war tot, auch sein älterer Bruder. Seinen Vater hatte er für unsterblich gehalten, für unverwundbar. Bei allen Differenzen, die es zwischen ihnen gegeben hatte, hatten sie sich dennoch nahegestanden. Und jetzt? War sein Vater nicht mehr am Leben. Lucien stellte fest, dass er in der direkten Linie plötzlich allein war.

Ihm fiel sein Onkel Edmond ein. Natürlich, ihn gab es noch. Er war der Bruder seines Vaters. Wahrscheinlich hatte auch er mal einen Treueschwur geleistet, gegenüber seinem Großvater. Aber dann war er als junger Mann beim Fallschirmspringen schwer verunglückt. Sein Schirm hatte sich nicht richtig geöffnet. Ein Wunder, dass er überlebt hatte. Seitdem war Edmond auf den Rollstuhl angewiesen. Lucien kannte ihn als verbitterten Mann. Er wohnte in Beaulieu-sur-Mer in einer Art-déco-Villa, die er nur selten verließ. Lucien konnte sich vorstellen, dass ihn sein Onkel um sein unbeschwertes Leben beneidete. Vielleicht war er deshalb so mürrisch zu ihm.

Am Telefon heute Nachmittag hatte ihn Lucien von einer anderen Seite kennengelernt. Zwar hatte das Telefonat nicht lange gedauert, aber Edmond hatte überraschende Emotionen gezeigt. Tief betroffen hatte er sich sogar dazu hinreißen lassen, Lucien sein Mitgefühl auszusprechen. Dabei hatte er ja gerade selbst seinen Bruder verloren. Lucien könne auf ihn zählen, hatte er hinzugefügt. Er sei immer für ihn da.

Auf Edmonds Frage nach der Todesursache hatte Lucien zunächst gezögert. Offenbar lange genug, um Edmonds Misstrauen zu erregen. Denn als er von einem Herzinfarkt sprach, wiederholte sein Onkel bedächtig: »Soso, ein Herzinfarkt …« Lucien fühlte sich verpflichtet, ihm die Wahrheit zu sagen. Doch über die ersten Worte kam er nicht hinaus. Edmond würgte ihn ab. Er solle nicht weiterreden, hatte er ihn zurechtgewiesen. Nicht am Telefon. Es gebe Dinge, die dürfe man sich nur im persönlichen Gespräch anvertrauen. Das müsse er sich für die Zukunft merken. Er erwarte morgen Nachmittag seinen Besuch. Dann könne er ihm bei einer Tasse Tee alles erzählen. Auch könnten sie gemeinsam die Trauerfeierlichkeiten durchgehen. Er habe da sehr konkrete Vorstellungen. Auch was die Gästeliste betreffe.

Lucien dachte an die Privatsekretärin seines Vaters, mit der er morgen um zwölf verabredet war. Mit ihr blieb genug anderes zu besprechen. Sie hieß Francine. Warum hatte Rosalie gesagt, dass sie ihm gefallen würde? Besser als ihre adipöse Vorgängerin Alice ganz bestimmt. Das war nicht schwer.

Seine Erinnerungen schweiften zurück in seine Kindheit und Jugend. Die waren so ganz anders gewesen als jene seiner Altersgenossen. Denn von klein auf durchlief er ein von seinem Vater minutiös geplantes Trainingsprogramm. Zusammen mit seinem Bruder Raymond. Er lernte, mit Wurfmessern umzugehen. Mit Pfeil und Bogen und mit der Armbrust. Er war Mitglied in einem Fechtverein. Von einem Shaolin-Meister bekam er Unterricht im Nahkampf. Mit dem Fokus darauf, wie man einen Gegner … nein, nicht kampfunfähig machte … sondern schnell und effektiv töten konnte. Das war auch die Vorgabe auf dem Schießstand im Keller. Es zählten nur die Treffer mitten ins Herz oder in den Kopf. Anfangs machte es ihm nichts aus. Waren ja nur Pappkameraden. Ihn reizte die sportliche Herausforderung. Mit zunehmendem Alter aber begriff er, was das Ganze sollte. Dass das kein Spiel war, sondern bitterer Ernst. Er begann, sich zu verweigern. Ganz im Unterschied zu Raymond, der immer fanatischer wurde. Vielleicht auch deshalb, weil er in allen Disziplinen seinem jüngeren Bruder unterlegen war. Das stachelte ihn an. Irgendwann ließ ihn Lucien gewinnen …

Er verdrängte seine Gedanken an früher und beschloss, noch eine Runde im Meer zu schwimmen. Um wieder einen klaren Kopf zu bekommen. Das war besser, als eine zweite Flasche Wein zu öffnen und gegen die Erinnerungen und die Trauer anzutrinken. Sein Vater würde ihm davon abraten. Und Onkel Edmond sowieso. Der hatte ihn morgen zu einer Tasse Tee eingeladen. Er war ein Asket. Ein Asket im Rollstuhl.

Über der Bucht von Villefranche-sur-Mer glänzte in der Abendsonne das gegenüberliegende Cap Ferrat. Er wusste genau, wo die Villa Béatitude lag, auch wenn sie unter den Bäumen und hinter der dichten Hecke selbst mit dem Fernglas nicht zu sehen war. Béatitude? Das stand für Glückseligkeit. Die Villa verdiente den Namen nicht. Von ihr führten in den Fels gehauene Stufen hinunter ans Wasser. Häufig fuhr er bei seinen Besuchen mit dem Schlauchboot rüber und legte dort an. Was fast noch schneller ging als mit der Vespa. Das war das Leben, wie er es liebte. Den Wind in den Haaren, die Sonne auf der Haut und Salz auf den Lippen. Am besten in charmanter weiblicher Begleitung. Ob dieses unbeschwerte Dasein mit dem heutigen Tag vorbei war? Lucien überlegte, dass dem nicht zwingend so sein musste. Und doch ahnte er, dass mit dem Tod seines Vaters nichts mehr sein würde wie vorher.