D ie Tage vergingen. Lucien fand sich in seinem neuen Leben zurecht – indem er versuchte, sein altes wiederzufinden. So verbrachte er die Abende regelmäßig im P’tit Bouchon . Er schaute seinem Koch Roland auf die Finger, der in der Küche rotierte, weil das Lokal immer bis auf den letzten Platz belegt war und alle gleichzeitig bestellten, was ihn in den Wahnsinn trieb. Zu schaffen war das nur, weil sein Souschef Alain auch in der größten Hektik die Ruhe behielt. Er war es auch, der jeden Tag in aller Früh nach Nizza zum marché aux poissons fuhr, um fangfrischen Loup de Mer, Dorade, Rascasse, Saint-Pierre oder Thunfisch einzukaufen. Auch Hummer, Oktopus, Krevetten und Miesmuscheln. Mit routiniertem Blick für die Qualität der Meerestiere. Er musste einem Drachenkopffisch nur in die Augen schauen und wusste sofort, wie frisch er war. In großen Kühlboxen mit viel Eis brachte er sie ins P’tit Bouchon – und legte sich danach noch einmal hin. Mit den Austern hatte er keine Arbeit, die huîtres wurden ihnen aus Arcachon direkt ins Lokal geliefert.
Zwischendurch widmete sich Lucien dem Weinkeller, was er besonders gerne tat. Natürlich hatte er alle gängigen Rosés der Provence vorrätig: Ott, Roubine, Miraval, Aix, Pampelonne, La Coste, Triennes, Brégançon … Dazu Champagner von Taittinger über Ruinart bis Dom Pérignon. Das P’tit Bouchon war zwar kein Nobellokal, aber es hatte viele Gäste, nicht zuletzt von den Jachten, die es krachen ließen, weshalb er auch große französische Rot- und Weißweine aus hervorragenden Jahrgängen vorrätig hatte. Die Pflege dieses Sortiments war es, die ihm besondere Freude machte. Hier war seine Expertise gefordert. Zudem waren im Selbstversuch regelmäßige Verkostungen gefragt, um sich aufs Angenehmste fortzubilden. Jedenfalls redete er sich das ein.
Während also die Abende seinem Lokal gewidmet waren, wo er zu später Stunde oft mit Gästen und Freunden zusammensaß, begann er jeden Tag weiterhin damit, in die Villa Béatitude zu fahren, um mit Rosalie zu frühstücken. Das war ihm wichtig – weil es für sie wichtig war. So gab er ihr das Gefühl, dass mit dem Tod seines Vaters nicht alles vorbei war. Und dass sie weiterhin gebraucht wurde. An zwei Tagen der Woche traf er sich anschließend mit Francine im bureau . Erstaunlich, was alles noch zu tun war. Zum Beispiel mussten sie die Beileidsbekundungen beantworten. Es gab Rechnungen zu bezahlen. Ummeldungen mussten vorgenommen werden. Zudem machte das Haus Arbeit. Kurz vor seinem Tod hatte sein Vater dem Gärtner gekündigt. Am Springbrunnen im Park war die Pumpe ausgefallen. Das Dach über dem Esszimmer mit der Wandmalerei von Jean Cocteau war undicht … Lucien wurde klar, dass er die Dienste von Francine weiter benötigen würde. Er fragte sie, ob sie für ihn nicht nur übergangsweise, sondern fest arbeiten wolle. Sie bat um Bedenkzeit – und sagte schließlich zu. Er beschloss, mehr über sie in Erfahrung zu bringen. Francine gab nichts Privates preis. Sie war immer freundlich, aber verschlossen. Vielleicht sollte er sie mal zum Abendessen einladen? Ins P’tit Bouchon, das wäre unverfänglich.
Er gab den Auftrag, ein Gästeappartement im Seitenflügel der Villa Béatitude zu modernisieren. Mit dem Ziel, es in Zukunft selbst zu bewohnen. Nicht ständig, aber so oft er eben wollte.
Nach einem ihrer Frühstücke fragte Rosalie, ob er schon im Keller gewesen sei, in den »Katakomben«. Er sah sie nachdenklich an. Nein, antwortete er, dazu habe ihm bislang der Mut gefehlt.
Les catacombes, das waren unterirdische Räume, die schon sein Großvater angelegt hatte. Mit einem versteckten Zugang. Die Stahltür war mehrfach gesichert. Nach dem Tod seines Vaters wusste nur noch Edmond davon, dachte Lucien. Und Rosalie, vor der seine Familie keine Geheimnisse hatte.
Sie könne ihn begleiten, bot sie ihm an. Vielleicht falle es ihm dann leichter. Eigentlich sei doch nichts dabei. Da unten seien ja keine Gebeine wie in den Katakomben von Paris. Sie lachte. Sein Vater habe keine einzige Leiche im Keller.
Lucien mochte ihren Humor. Auch wenn er in diesem Fall makaber war. Denn natürlich hatte sein Vater keine sprichwörtliche Leiche im Keller, aber alle Tötungsinstrumente, um lebende Menschen in solche zu transformieren. Auch gab es einen Schießstand, auf dem er früher trainiert hatte. Und viele Erinnerungsstücke aus der langen Geschichte der Grafen von Chacarasse – Erinnerungsstücke, die mit ihrer Profession zu tun hatten.
Seit Jahren hatte Lucien die Katakomben gemieden. Weil er damit nichts mehr zu tun haben wollte. Doch mit dem gegebenen Versprechen und der Ankündigung von Onkel Edmond, er werde irgendwann seinen ersten Auftrag bekommen, musste er diese »Hemmschwelle« spätestens dann überwinden. Besser schon jetzt, ohne Druck und in aller Ruhe.
Er nickte Rosalie zu. Sie habe recht, er werde sehr bald nach unten gehen. Très bientôt …
Taratata, antwortete sie ihm. Papperlapapp. Schon als Kind habe er gerne alles vor sich hergeschoben. Er könne doch den Gästen in seinem Lokal auch nicht sagen, die rouille zur Bouillabaisse komme très bientôt, heute vielleicht nicht mehr, aber dann morgen oder übermorgen. Er solle sich gefälligst einen Tritt in den Hintern geben und die Sache sofort erledigen. Ne remets pas à demain ce que tu peux faire aujourd’hui …
Das hatte er schon lange nicht mehr gehört. Er war durchaus der Meinung, dass man nicht alles heute besorgen musste, was man genauso gut auf morgen verschieben konnte.
Lucien zog eine Grimasse, gab sich einen Ruck und stand auf. Aber er wolle allein hinuntergehen, sagte er.
Rosalie klatschte in die Hände. Bravo, langsam werde er erwachsen. Sie deutete auf die ausgefranste kurze Hose, die er heute wieder anhatte. Er könne sie in der Zeit ausziehen, schlug sie vor.
Lucien sah sie verständnislos an. Bisher hielt er sie nur für schwerhörig, aber nicht für geistesgestört.
Er habe darunter doch hoffentlich eine Unterhose an, sagte sie.
Ja, warum?
Na also, dann könne er ihr die verblichenen Bermudas doch so lange überlassen, und sie würde mit der Nähmaschine wenigstens den Saum in Ordnung bringen. So könne man doch nun wirklich nicht herumlaufen.
Jetzt verstand er. Lucien musste lächeln. Rosalie war echt lieb – aber nicht mehr ganz im Bild, was seine Generation heute trug.
»Rosalie, das gehört so. Erinnerst du dich an meine auf alt gemachten Jeans? Die Löcher wolltest du mir auch schon mal stopfen. Dabei werden sie so verkauft.«
Rosalie pendelte zweifelnd mit dem Kopf hin und her.
»Das behauptest du, aber ich glaube, du schwindelst mich an.«
Auf dem Weg in die Katakomben holte ihn wieder der Ernst des Lebens ein. Vor der schweren Stahltür atmete er einige Male tief durch. Dann entsicherte er sie und trat ein. Innen gingen automatisch die Lichter an. Er zog die Tür hinter sich ins Schloss – und war allein. Kein Geräusch drang von außen an sein Ohr. Ein beklemmendes Gefühl. Eine Belüftungsanlage schaltete sich mit leisem Surren ein. Der Vorraum erinnerte an ein Museum. In Vitrinen lagen Reliquien, die alle eine Geschichte hatten. Bis auf Jahreszahlen gab es keine schriftlichen Erläuterungen. Diese wurden mündlich von Generation zu Generation weitergegeben. Lucien kannte sie alle. So wusste er, dass mit den Duellpistolen im ersten Schaukasten einer seiner Vorfahren im 18 .Jahrhundert einen spanischen Thronfolger ins Jenseits befördert hatte. Die Chacarasse waren meisterhafte Pistolenschützen und Degenfechter. Es war ein Leichtes gewesen, die Mordaufträge mit Duellen zu tarnen, die sie vom Zaun brachen. Man musste nur den Frauen der Opfer schöne Augen machen. Berühmte Vorbilder gab es genug. So hatte sich der große Dichter Alexander Puschkin wegen seiner wunderschönen Gattin mit einem französischen Gardeoffizier duelliert – und seine Eifersucht mit dem Tode bezahlt. Auch der Sozialist Ferdinand Lassalle war wegen einer Frau in einem Pistolenduell gestorben. Duelle seien leider aus der Mode gekommen, hatte sein Vater mal geklagt. Diese elegante Möglichkeit sei ihnen heute verwehrt.
Um Alternativen waren die Grafen von Chacarasse nie verlegen gewesen. Mit einer ausgestellten Armbrust hatte sein Urgroßvater einen englischen Warlord aus dem Sattel geschossen. Auch diese Waffe war danach nicht mehr zum Einsatz gekommen. So war die Familientradition.
Lucien ging an den Vitrinen vorbei und ließ einige Erzählungen Revue passieren. Als Kind hatte er sie spannend gefunden und für Märchen gehalten. Bis ihm klar wurde, dass sie alle der Wahrheit entsprachen.
Vor dem unterirdischen Schießstand kam eine Waffenkammer. Von kleinen Pistolen, die sich im Ärmel verstecken ließen, bis hin zu vollautomatischen Sturmgewehren waren alle Waffentypen vertreten. Lucien stellte fest, dass ein langläufiges Scharfschützengewehr für große Entfernungen fehlte. Einen Mordauftrag hatte er mit ihm wohl nicht ausgeführt, sonst läge es in einer der Vitrinen. Spontan fiel ihm nur eine Erklärung ein: Sein Vater hatte das Gewehr bei seinem letzten Einsatz dabei … den er mit seinem Leben bezahlt hatte.
Lucien nahm eine Schnellfeuerpistole aus der Halterung, lud sie und ging zum Schießstand. Ohne zu zielen, schoss er das Magazin wütend leer. Die Pappfigur traf er trotzdem. Überall, nur nicht in den Kreis am Kopf. Sein Vater hätte ihm das Taschengeld gestrichen, früher, als er noch klein war. Heute brauchte er kein Taschengeld mehr.
Er brachte die Pistole zurück an ihren Platz.
Lucien hatte keine Kraft mehr, sich weiter in den Katakomben umzusehen. Dabei gäbe es noch weitere Waffen und Erinnerungsstücke. Unter anderem einen hohen Orden, den sein Vater von einem Staatspräsidenten verliehen bekommen hatte. Lucien wusste, wofür. Er hatte seinen politischen Widersacher liquidiert. Ein höchst undemokratisches Verfahren.
Sein Onkel Edmond hatte ihm gesagt, dass sie eine »Arbeitsteilung« hätten. Er sei für die Auftraggeber zuständig, und nur er kenne ihre Namen. Das, dachte Lucien, konnte so nicht stimmen. Er kannte viele Namen. Nur den nicht, der seinem Vater das Leben gekostet hatte. Edmond werde ihn nicht preisgeben, hatte er selbst gesagt. Um ihn zu schützen. Für den Augenblick fand er sich damit ab. Aber irgendwann würde er den Namen wissen wollen. Er würde ihn herausbekommen, ob sein Onkel wollte oder nicht.