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A m heutigen Tag hatte er sich das Vergnügen gegönnt, mit seinem Schlauchboot von Ville-franche-sur-Mer nach Cap Ferrat zu fahren, um dort an den Felsen anzulegen, von denen Stufen hinauf zur Villa Béatitude führten. Entsprechend ging es am Nachmittag auf dem Wasser zurück. Lucien hatte sein Stimmungstief überwunden. Er fuhr langsam und genoss die Fahrt. Er könnte auch Gas geben, und zwar richtig. Denn genau genommen war sein »Schlauchboot« ein Zodiac mit einem festen Rumpf und Steuerstand in der Mitte – sowie zwei starken Außenbordern. Wenn er wollte, könnte er alle anderen Boote abhängen, die gerade in der Bucht unterwegs waren. Doch genügte es ihm völlig, dies zu wissen. Es entsprach seinem Naturell, nicht auf den Putz zu hauen. Deshalb fuhr er Vespa und keinen Sportwagen. Seine Klamotten kaufte er in der Strandboutique einer Freundin. Auf eine teure Armbanduhr verzichtete er gern. Schon deshalb, weil er den Sinn einer Armbanduhr grundsätzlich infrage stellte. Wenn es ihn interessierte, wie spät es war, konnte er auch auf sein Handy gucken. Meistens wollte er es aber gar nicht so genau wissen. Zum südfranzösischen savoir-vivre gehörte seiner Meinung nach auch ein entspannter Umgang mit der Zeit.

Von der Reling einer großen Motorjacht wurde ihm hektisch zugewinkt. Weil es sich um eine junge Frau im Bikini handelte, fuhr er pflichtschuldigst näher. Ob er sie an Land bringen könne, rief sie ihm zu. Während er noch dachte, dass die Jacht über ein schönes Beiboot verfügte, das längsseits festgemacht war, für den Shuttle also keine direkte Notwendigkeit bestand, sah er zwei Männer, die hinter ihr auftauchten. Die Frau sah sich kurz um – und hechtete aus beträchtlicher Höhe ins Meer. Lucien war von dieser Flugeinlage beeindruckt. Die Männer an Bord brüllten durcheinander. Er verstand kein Wort. Neben seinem Zodiac tauchte die Frau prustend auf. Er reichte ihr die Hand und half ihr an Bord. Dabei stellte er fest, dass er schon hässlichere Fische aus dem Wasser gezogen hatte.

»Merci, merci«, stammelte sie. »Bitte bring mich schnell weg von hier.«

Jetzt brüllten vier Männer von der Reling. Was hatte sie angestellt? Da sie nur einen Bikini anhatte, konnte sie nichts geklaut haben. Die wasserdichte Klarsichthülle, die sie umklammerte, war für ihr Handy.

»Warum? Bist du auf der Flucht?«

»Frag nicht so viel! Fahr schon endlich los …«

Sie wollte zu den Gashebeln greifen.

»Finger weg. Noch bin ich hier der Capitaine.«

Sie sah panisch hinauf zur Jacht.

»Gleich bekommen wir Ärger, richtig Ärger …«

Er lächelte. »Dann sollte ich dich besser zurück ins Wasser werfen«, sagte er ruhig. »Übrigens heiße ich Lucien. Wie ist dein Name?«

»Chantal, du Idiot.«

»Enchanté. Ich freue mich, dich kennenzulernen.«

Sie blickte ihn wütend an.

Er sah, wie zwei Männer ins Beiboot der Jacht kletterten. Vielleicht sollte er jetzt wirklich losfahren?

»Festhalten!«, rief er – und gab Gas.

Die Propeller der Außenborder peitschten das Wasser auf. Nun konnte sein Zodiac doch zeigen, was es draufhatte, dachte Lucien. Sie schossen haarscharf am Heck einer Segeljacht vorbei. Dass er sich mit diesem Manöver auf dem Schiff keine Freunde machte, war ihm klar, im Moment aber egal. Denn er hatte durchaus den Eindruck, dass die Männer, vor denen Chantal gerade Reißaus nahm, tatsächlich für Ärger sorgen konnten.

Lucien hielt auf Villefranche zu. Das Ufer kam rasch näher. Mit Blick über die Schulter sah er, dass ihre Verfolger keine Chance hatten, sie einzuholen. Er drosselte das Tempo und ließ sie rankommen.

»Was machst du?«, schrie Chantal.

»Ich will mir deine Freunde mal aus der Nähe anschauen.«

»Warum komme ich ausgerechnet an einen Geisteskranken? Ich sagte doch, die sind gefährlich.«

»Sagtest du nicht. Nur, dass wir Ärger bekommen würden. Das ist was anderes. Was hast du eigentlich angestellt, warum sind die hinter dir her?«

»Nichts habe ich gemacht, ihr Boss wollte mich vergewaltigen …«

»Keine Sorge, wir fahren gleich weiter«, sagte er, während ihr Zodiac nur noch dahintrieb.

Ihre Verfolger kamen näher. Chantal machte Anstalten, ins Meer zu springen.

Er packte sie am Handgelenk. »Du bleibst an Bord. Hier passiert dir nichts.«

Jetzt waren sie schon so nah, dass er ihre Gesichter erkennen konnte. Er würde sie sich merken – und wiedererkennen. Auch sah er, dass einer von ihnen mit einer Pistole herumfuchtelte. Auch das würde er sich merken.

»Es geht weiter«, rief er Chantal zu. »Accroche-toi! Halte dich fest, gleich wird’s sportlich.«

Er beschleunigte das Zodiac, noch aber moderat. Er wartete, bis sie direkt hinter ihm waren – genau da, wo er sie haben wollte. Erst dann schob er die Gashebel weiter nach vorne. Er hielt auf einen Fischkutter zu, der an einer Boje festgemacht war. Er gehörte dem alten Jules, der Gewohnheiten hatte, die man ihm nicht austreiben konnte. Zum Beispiel hatte er zu einer zweiten Boje, die wenige Meter weiter rechts schwamm und ebenfalls Jules gehörte, eine Kette gespannt. Der Himmel wusste, warum. Die rostige Kette verlief direkt unter der Wasseroberfläche und war kaum zu sehen. Erst recht nicht, wenn man mit hoher Geschwindigkeit auf die Bojen zujagte.

Lucien grinste. Der Tag gefiel ihm immer besser. Im letzten Moment steuerte er heftig nach rechts – und auf dieser Seite haarscharf an der Boje vorbei. Die Verfolger konnten nicht so schnell reagieren und passierten die Boje auf der anderen Seite …

Uupps. Lucien zog die Gashebel zurück. Chantal, die im Zodiac gestürzt war, sich aber tapfer an einem Haltegriff am Steuerstand festklammerte, rappelte sich auf. Gerade noch rechtzeitig, um zu sehen, wie ihre Verfolger außer Gefecht gesetzt wurden. Die Motoren heulten auf – weil die Propellerschrauben abgerissen waren. Der Typ mit der Pistole schleuderte durch die Kollision mit der Kette ins Cockpit. Das Boot bekam Schlagseite … Jetzt tauchten von der Besatzung wieder beide Köpfe auf. Sie schrien in Panik herum. Lucien schlussfolgerte, dass es ihnen den Umständen entsprechend gut ging. Er entrichtete ihnen mit zwei Fingern am Kopf einen höflichen Gruß. Dann setzte er seine Fahrt mit verminderter Geschwindigkeit fort. Sollten sich andere um die Havarierten kümmern.

»Was war das?«, fragte Chantal kurzatmig.

Er sah sie schmunzelnd an. »Dein Idiot hat dir gerade deinen …« Eigentlich wollte er sagen … deinen hübschen Hintern gerettet. Aber das gehörte sich nicht. »… hat dir gerade deine Verfolger vom Hals geschafft. Ein kleines Dankeschön wäre angebracht.«

Chantal rieb sich den Ellbogen.

»Merci, das hast du gut gemacht«, presste sie hervor.

Na bitte, ging doch.

Lucien steuerte auf den kleinen Hafen am Quai de la Douane zu.

»Wo kann ich dich hinbringen? Wohnst du in einem Hotel?«

Denn dass sie eine Touristin war, schien ihm offensichtlich.

»Merde, merde, merde«

Das war keine Antwort, mit der er etwas anfangen konnte.

»Ich komme aus Paris«, erklärte sie schließlich, »und mache mit einer Freundin eine Südfrankreichreise. Sie ist gestern allein weitergefahren, und ich bin zu diesem vulgären Arschloch aufs Schiff.«

»Was ein Fehler war.«

»Klugscheißer, das weiß ich jetzt selbst. Meine Reisetasche ist noch an Bord, mit meinen Klamotten.« Sie zuckte mit den Schultern. »Na ja, viel ist nicht drin. Bargeld auch kaum, den Verlust kann ich verschmerzen. Die Kreditkarte kann ich sperren lassen.«

Er deutete auf die wasserdichte Hülle, die sie sich jetzt um ihren Hals gehängt hatte.

»Immerhin hast du dein Handy gerettet.«

Sie lächelte gequält. »Gott sei Dank, ohne mein Handy wäre ich nicht lebensfähig.«

Lucien legte an einer Mole an. Bewusst an einer Stelle, wo mehrere Festrumpfschlauchboote festgemacht waren, die alle ähnlich aussahen wie seines. Nur hatte keines solche Motoren wie er. Doch darauf hatten ihre Verfolger bestimmt nicht geachtet.

Er nahm Chantal genauer in Augenschein. Er schätzte sie auf Ende zwanzig. Sie war braun gebrannt und sah … nun ja … verteufelt gut aus. Mit hellblauen Augen und blonden Haaren. Man könnte sie auch für eine Schwedin halten. Am Handgelenk trug sie einen modischen Reif, der an einen Delfin erinnerte. Um den Hals die Hülle mit ihrem Handy. Und sonst – nur ihren weißen Bikini. Nicht gerade viel.

Er wollte ihr an Land helfen. Was nicht nötig war, denn schon war sie auf die Kaimauer gesprungen. Er erinnerte sich an ihren spektakulären Hechtsprung vom hohen Deck der Motorjacht. Diese Chantal hatte es drauf.

»Was willst du jetzt machen?«, fragte er. »Was dagegen, wenn ich dir noch etwas helfe?«

Sie stemmte die Hände in die Hüften.

»Wie stellst du dir das vor?«

»Alors, du könntest was zum Anziehen brauchen. Und Sandalen. Eine Freundin von mir hat eine kleine Boutique. Sie gibt mir bestimmt Kredit.«

»Warum einen Kredit? Bist du blank?«

Er zog amüsiert die Augenbrauen nach oben. Tatsächlich hatte er kein Geld einstecken. Aber in seinen ausgefransten Bermudas und dem verwaschenen T-Shirt sah er wohl ganz so aus, als ob er auch sonst keines hätte.

»Ein kleiner Engpass, aber das macht nichts. Du brauchst was zum Anziehen.«

»Ich zahle es dir natürlich zurück.«

»Nett von dir.«

Sie deutete zum Zodiac am Kai. »Das Boot gehört dir wohl auch nicht?«

Es war, dachte er, auf das P’tit Bouchon zugelassen. So gesehen hatte sie recht.

»Nein, ich habe es mir ausgeliehen.«

»Gott sei Dank hast du es heil zurückgebracht. Sonst würde ich mir Vorwürfe machen.«

»Ist ja nichts passiert.« Er nahm sie am Arm. »Komm, wir gehen. Die Boutique ist gleich da vorne.«

Er hörte eine Polizeisirene. Ein Boot der Gendarmerie maritime fuhr mit Blaulicht hinaus aufs Meer. Das Ziel war nicht schwer zu erraten.