A m nächsten Morgen verschlief Lucien das obligatorische Frühstück mit Rosalie. Als er aufwachte, stellte er fest, dass eine blonde Schwedin in seinen Armen lag. Er brauchte eine Weile, bis er sich daran erinnerte, dass die Frau Chantal hieß und Französin war. Hätte sie nicht auf der Schlafcouch im Wohnzimmer schlafen sollen? Was machte sie dann hier in seinem Bett? Wie es schien, war sie nackt. Warum denn das? Er hatte ihr doch ein T-Shirt zur Verfügung gestellt … Ach so, er hatte auch nichts an … Wie hatte es dazu kommen können? Er hatte doch versprochen, sich nicht an ihr zu vergreifen. Lucien hielt sich für einen Ehrenmann, der zu seinem Wort stand. Chantal schnurrte im Schlaf und kuschelte sich an ihn. Jetzt fiel es ihm ein. Er war nicht wortbrüchig geworden. Chantal war plötzlich zu ihm unter die Bettdecke geschlüpft, wie sich herausstellte ohne T-Shirt, und hatte ihn gefragt, ob sie wirklich nicht sein Typ sei. Das könne sie sich nämlich nicht vorstellen … Da war er schwach geworden …
Lucien kroch vorsichtig aus dem Bett. Chantal schlief weiter. Er öffnete die Balkontür und sammelte die leeren Weinflaschen ein. Hatten sie wirklich so viel getrunken? Demnach waren sie letzte Nacht beide nicht mehr zurechnungsfähig gewesen. In der Küche fand er sein Handy. Er wollte es gerade an das Ladekabel anschließen, da entdeckte er eine Textnachricht von Edmond: »Heute um fünf Uhr bei mir! Dringend!«
Seine gerade noch schlaftrunken gute Stimmung war schlagartig wie weggeblasen. Sein Onkel wollte ihn dringend sprechen? Er ahnte, dass es dafür nur eine Erklärung gab: Er hatte einen Auftrag für ihn! Ihm blieben noch einige Stunden, dann war es vorbei mit der schönen Leichtigkeit des Seins. Dann begann der Ernst seines neuen Lebens. Nichts würde mehr so sein wie früher.
Er ging ins Bad und duschte. Ewig lang ließ er sich das Wasser auf den Kopf prasseln.
Als er wieder herauskam, entdeckte er Chantal auf dem Balkon. Sie drehte ihm ihren nackten Rücken zu und schaute mit dem Fernglas aufs Meer.
»Die Jacht von dem Schwein ist weg«, stellte sie fest. »Oder sie ist gesunken, das wäre noch besser.« Sie drehte sich um und lächelte ihn an. »Bonjour, chéri . Hast du gut geschlafen?«
Statt einer Antwort nahm er Chantal in den Arm und gab ihr einen Kuss.
»Und du?«
»Zu wenig, viel zu wenig …«
»Selbst schuld.«
»Bin ich also doch dein Typ?«
Was sollte er darauf sagen? Er war auf keinen bestimmten Frauentyp festgelegt. Sexy konnten viele sein – und Chantal war es ganz bestimmt.
Er grinste. »Da habe ich mich wohl getäuscht«, antwortete er. »Was hältst du davon, wenn ich uns was zum Frühstücken hole? In der Zeit kannst du dich frisch machen.«
»Klingt gut.«
Lucien wusste nicht, wie sich Chantal den weiteren Tag vorstellte. Wann musste sie zurück nach Paris? Wie wollte sie ihr Zugticket bezahlen? Brauchte sie noch was zum Anziehen? Nun ja, dafür würde er selbstverständlich aufkommen. Aber eine gemeinsame Freizeitgestaltung war heute Nachmittag ausgeschlossen. Edmond hatte was dagegen.
Auf dem Weg zur boulangerie rief er Rosalie an und entschuldigte sich, dass er zum Frühstück nicht gekommen war. Ein überaus wichtiger Termin sei ihm dazwischengekommen. Er wusste, dass ihm Rosalie nicht glaubte. Dazu kannte sie ihn zu gut. Er werde heute Nachmittag kommen, sagte er. Prompt wünschte sie ihm viel Spaß bei seinem Termin.
Wie sich herausstellte, hatte Chantal noch einige Tage Urlaub. Sie könne sich sehr gut vorstellen, sagte sie, diese mit Lucien zu verbringen. Selbst wenn er für sie wenig Zeit haben sollte, wie er andeutete. Wobei sie nicht verstand, wie das sein konnte. Denn ganz offensichtlich ging er keiner geregelten Arbeit nach.
Lucien gestand sich ein, dass er sich das Problem selbst eingebrockt hatte. Er hätte Chantal nicht aus dem Meer retten und erst recht nicht mit ihr schlafen dürfen. Aber Ersteres war ein Notfall gewesen. Er konnte sie ja kaum ertrinken lassen. Und das Zweite … alors, es war nicht mehr rückgängig zu machen. Außerdem wäre er schön blöd. Es gab Dinge, die wiederholte man besser, als sie ungeschehen zu machen. Ergo würde er Chantal bis zu ihrer Rückreise bei sich wohnen lassen. Entgegen jeder Vernunft. Und vorausgesetzt, ihre Anwesenheit ließ sich mit dem Auftrag vereinbaren, den er wohl von Edmond bekommen würde. Wie dringend war dieser wirklich? Wie viel Zeit blieb ihm bis zur Ausführung? Eigentlich brauchte er einen klaren Kopf, um einen Ausweg aus seinem Dilemma zu finden. Weder wollte er sein Versprechen brechen noch jemanden umbringen.
In jedem Fall würde er gegenüber Chantal mit der Scharade aufhören müssen, den mittellosen Lebenskünstler zu spielen. Natürlich durfte sie nur so viel erfahren wie unbedingt nötig. Die Villa Béatitude war tabu. Und damit seine wahren Lebensumstände. Seine Wohnung in Villefranche-sur-Mer barg keine Geheimnisse. Hier würde Chantal nichts finden, selbst wenn sie in einem unbeobachteten Moment alles durchwühlte.
Mit etwas Glück saß sie im Zug nach Paris, bevor er … Bevor? Er wollte nicht daran denken. Vielleicht täuschte er sich, und Edmond hatte ein ganz harmloses Ansinnen? Doch er spürte, dass diese Hoffnung um fünf Uhr wie eine Seifenblase zerplatzen würde.
Er bummelte mit Chantal durch Villefranche. Erstaunt nahm sie zur Kenntnis, dass er von allen Seiten gegrüßt wurde.
»Hallo, Lucien, comment ça va …?«
»Lucien, wer ist deine charmante Begleitung …?«
»Lucien, wo warst du gestern Abend? Wir haben dich im P’tit Boucho n vermisst …«
»Salut, Lucien, du alter Schwerenöter. Ich warte noch auf meine Weinlieferung …«
Chantal nahm ihn am Arm und hielt ihn fest.
»Könnte es sein, dass du mir was verschwiegen hast?«
Wie zur Bestätigung kam ein Pfarrer vorbei, der stehen blieb und dem Monsieur le Comte zum Tod seines Vaters kondolierte.
»Gott wird Ihnen beistehen«, sagte er.
Chantal runzelte die Stirn. »Monsieur le Comte? Habe ich mich da gerade verhört?«
Lucien kratzte sich am Kinn. »Nein, stimmt schon. Aber dafür kann ich nichts. Im Ort kennen mich die meisten nur als Lucien. Ich entstamme einem verarmten Adel und betreibe ein Lokal, das P’tit Bouchon . Da kam gestern unser Essen her. So, nun weißt du alles.«
Sie schüttelte in gespielter Verzweiflung den Kopf. »Ganz schön viel auf einmal. Was ist mit dem Zodiac?«
»Ach ja, ich habe es quasi von mir selbst ausgeliehen. Aber jetzt sind wir wirklich durch.«
»Lucien, Lucien … Bislang sind mir nur Männer über den Weg gelaufen, die mit dem angeben, was sie haben. Sogar solche, die in Wahrheit nichts hatten. Du bist das krasse Gegenteil. Wenn ich heute früh abgereist wäre, hättest du mir nichts gesagt, oder?«
Er grinste. »Natürlich nicht. Warum auch? Ist ja nichts Besonderes. Meine Vorfahren würden sich für mich schämen.«
»Dann hast du ganz schön beschissene Vorfahren. Wo ist dein Lokal? Kann ich es mal sehen?«
Er schaute auf sein Handy. »Wir könnten sogar eine Kleinigkeit essen. Am Nachmittag muss ich dich leider allein lassen. Ich habe einen Termin, den ich nicht verschieben kann.«
»Ich kann doch mitkommen …«
»Das geht nicht. Aber am Abend bin ich zurück. Dann können wir erneut ins P’tit Bouchon .«
»Was mach ich bis dahin?«
»Kriegst meinen Wohnungsschlüssel.«
»Vraiment? Du kennst mich doch gar nicht.«
Da hatte sie recht. Aber das Risiko war überschaubar.
»Dann enttäusche mich nicht.«
»Kannst dich auf mich verlassen. Ich bin ein braves Mädchen.«
Er lächelte. Da war er sich nicht so sicher.
»Ich kann dich später ein Stück auf meiner Vespa mitnehmen«, schlug er vor. »Die Plage de la Marinière liegt auf meiner Strecke. Zurück kannst du laufen, ist nicht weit.«
»Wunderbar, meinen Bikini habe ich ja noch.« Sie sah ihn verlegen an. »Apropos, ich sag’s ja nur ungern, aber ein bisschen mehr als dieses eine Kleid brauchte ich doch. Schon aus hygienischen Gründen. Ich zahl’s dir auch ganz bestimmt zurück.«
Im Film Pretty Woman würde er ihr jetzt seine Kreditkarte geben und sagen, sie könne damit unbegrenzt shoppen gehen. Aber er war nicht Richard Gere – und auch nicht verrückt.