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A m nächsten Morgen saß Lucien am Steuer der Déesse seines Vaters. Normalerweise hätte ihm die Fahrt mit dem betagten Citroën Spaß gemacht. Aber es gelang ihm nicht, Freude zu empfinden. Sein Ziel war Lyon. Er hatte einen Auftrag …

Seine Gedanken kreisten unablässig um zwei Männer und um ein totes Mädchen. Um Didier Pascal, den er töten sollte. Um Cédric Richard, der das nach seiner Überzeugung so haben wollte. Und um seine Tochter Julie, die am Tag des Unglücks sechzehn Jahre alt gewesen war. Jetzt wäre sie neunzehn. Doch sie lebte nicht mehr.

Wenn es stimmte, was Francine gelesen hatte, war Julie am Unfall alles andere als unschuldig. Wer nachts bei strömendem Regen mitten auf der Landstraße entlanglief, brauchte schon einen sehr guten Schutzengel, um nicht überfahren zu werden. Fast könnte einem dieser Didier Pascal leidtun, dachte Lucien. Schließlich fürchtete sich wohl jeder Autofahrer vor einem solchen Unglück. Blieb der schwerwiegende Vorwurf, dass er dem Mädchen nicht geholfen hatte, sondern einfach weitergefahren war. Oder hatte er den Unfall gar nicht bemerkt? Weil er zu betrunken war? Oder weil er dachte, er hätte ein Tier angefahren? Julies Vater ließ keine Entschuldigung gelten. Für ihn zählte nur der Tod seiner Tochter. So jedenfalls hatte es sich Lucien zusammengereimt. Für ihn gab es keinen Zweifel: Cédric Richard hatte bei Edmond den Mord in Auftrag gegeben. Direkt oder über Mittelsmänner. Das war egal.

Ihm blieb viel Zeit zum Nachdenken. Er fuhr auf der rechten Spur der A7 in gemächlichem Tempo durchs Rhône-Tal gen Norden. Montélimar lag bereits hinter ihm. Die nächste größere Ausfahrt war Valence.

Es blieb nicht aus, dass er zwischendurch auch an Chantal dachte. Und daran, dass sie gestern früh von Alain in Nizza gesehen worden war. Auf dem Weg in die Altstadt. Was hatte sie auf den Zettel geschrieben? Bin auf dem Weg zurück nach Paris! Da hatte sie sich wohl mächtig verlaufen …

Er beschloss, Chantal für die nächste Zeit auszublenden. Er hatte eine Mission, die seine volle Aufmerksamkeit erforderte. Ihm ging das eherne Prinzip der Chacarasse durch den Kopf: Die erteilten Aufträge wurden ausgeführt, ohne nach dem Warum zu fragen. Ob die Delinquenten ihr Schicksal verdient hatten, war kein Kriterium. Durfte es nicht sein. Dennoch stellte sich Lucien genau diese Frage: Wie groß war die Schuld, die Didier Pascal auf sich geladen hatte? Durfte man den Leichtsinn des Mädchens einfach außer Acht lassen? Nur weil man der Vater war und es sich leisten konnte, eigenes Recht zu sprechen? Lynchjustiz war aus gutem Grund verboten. Und seit François Mitterrand war in Frankreich auch die Todesstrafe abgeschafft.

Lucien verstand, warum sich die Chacarasse unbedingte Neutralität auf die Fahne geschrieben hatten. Nur so ließen sich die Aufträge mit kühlem Kopf »erledigen«. Sonst war man verloren. Lucien dachte an seinen Vater, der gemeint hatte, er sei zu weich für diesen Job. Das habe er von seiner sanftmütigen Mutter geerbt. Wenn er seinem Vermächtnis entsprechen wollte, musste er lernen, über seinen Schatten zu springen. Doch das würde ihm nicht gelingen. Niemand konnte über seinen Schatten springen. Das war physikalisch unmöglich.