D ie Rückfahrt am nächsten Tag verlief ohne Zwischenfälle. Die Déesse seines Vaters schnurrte zuverlässig vor sich hin. Mit jedem Kilometer schien es ihm, dass er sich nicht nur physisch von Lyon entfernte, sondern auch im übertragenen Sinne Abstand gewann. Natürlich würde er nie vergessen, wie Didier Pascal stolpernd vor ihm hergerannt war – um dann vom Zug erfasst zu werden. Die Bilder hatten sich für immer in sein Gedächtnis eingebrannt.
Auf dem Beifahrersitz lagen zwei aktuelle Ausgaben der Lyoner Tageszeitung Le Progrès . Auf den Seiten mit den lokalen Ereignissen gab es eine knapp gehaltene Nachricht: Mort sur la voie ferrée. Unter der Überschrift »Tod auf dem Bahngleis« wurde berichtet, dass sich auf einem Industriegelände nahe einer bekannten Raffinerie spätabends ein tragisches Unglück ereignet habe. Ein Güterzug habe einen einundfünfzigjährigen Mann erfasst. Für Didier P. sei jede Rettung zu spät gekommen, er sei sofort tot gewesen. Die Polizei gehe von Selbstmord aus. Das Opfer sei erst vor Kurzem aus einer mehrjährigen Haft entlassen worden und mutmaßlich am Leben in Freiheit gescheitert.
Lucien hatte den Artikel mehrfach gelesen und wusste jedes Wort auswendig. Mort sur la voie ferrée – knapper und unpersönlicher konnte die Nachricht kaum betitelt werden. Große Aufmerksamkeit dürfte sie bei den Lesern kaum erwecken. Wer sollte sich für das Schicksal eines Didier P. interessieren? Allenfalls könnte man Mitleid mit einem Mann haben, der am »Leben in Freiheit« gescheitert war. Entscheidend für Lucien war die Annahme der Polizei, dass es sich um Selbstmord gehandelt habe. Weitere Nachforschungen würde es kaum geben. Dafür fehlte jeder Anlass.
Kurz vor der Abzweigung nach Cap Ferrat beschloss er, einen kurzen Umweg über Beaulieu zu machen. Er parkte auf der Straße. Edmond musste nicht sehen, dass er mit der alten Déesse seines Vaters unterwegs war. Obwohl das natürlich sein gutes Recht war. Aber Lucien wollte gegenüber Edmond möglichst wenig von seinem Leben preisgeben. Schlicht deshalb, weil es ihn nichts anging. Er stieg aus und ging die letzten Meter zur Art-déco-Villa. Er hatte sein Kommen nicht angekündigt – denn er legte keinen Wert darauf, mit seinem Onkel zu sprechen. Er wollte nur eine der beiden Tageszeitungen in den Briefkasten stecken.
Er kam nicht dazu, weil sich die Haustür öffnete und Edmonds französischstämmiger Butler auftauchte. Er habe ihn per Zufall auf der Überwachungskamera gesehen, sagte er mit seinem komischen englischen Akzent. Lucien vermutete, dass er einen Bewegungsmelder ausgelöst hatte. Der »Zufall« hatte also einen Signalton.
»Ihr Onkel macht gerade seinen afternoon nap . Der Mittagsschlaf ist ihm heilig. Ich störe ihn nur very unwillingly . Oder ist es très important? «
Lucien fragte sich, wie sein Onkel dieses affektierte Kauderwelsch aushielt. Oder entsprach das seinem ausdrücklichen Wunsch und gehörte zur Stellenbeschreibung?
»Ich möchte Edmond keinesfalls stören«, sagte Lucien leise. »Wenn Sie ihm später nur freundlicherweise diese Zeitung geben. Mit einem schönen Gruß von mir. Das wäre very friendly .«
Der Butler zog fragend eine Augenbraue nach oben. Er hatte zweifellos schauspielerisches Talent.
»Weiß er, warum Sie ihm diese Zeitung vorbeibringen? Der Comte bevorzugt eigentlich andere Tageszeitungen, zum Beispiel den Figaro .«
Lucien hatte den Artikel nicht markiert. Er war sich sicher, dass ihn Edmond sehen würde. Außerdem fand er, dass der Butler entschieden zu neugierig war.
»Machen Sie sich darüber mal keine Gedanken«, beschied er ihm. »Und jetzt wünsch ich noch einen schönen afternoon. Au revoir .«
In der Villa Béatitude angekommen, fuhr er den Citroën in die Garage. Er hatte gerade den Motor abgestellt, da klopfte bereits Rosalie ans Fenster. Er stellte fest, dass sie mindestens so aufmerksam war wie Edmonds Butler. Auch ohne aktivierten Bewegungsmelder. Und ihr Lächeln war herzerwärmend – weil es echt war.
Vorsichtig öffnete er die Tür.
»Du musst ein Stück zurücktreten«, sagte er, »sonst kann ich nicht aussteigen.«
»Wo soll ich hinaufsteigen?«
Er schlängelte sich aus dem Auto und nahm sie in die Arme.
»Alles gut. Komm, wir gehen in die Küche und trinken einen Tresterschnaps.«
»Ein guter Vorschlag. Extra für dich habe ich sogar eine tarte Tatin gebacken, die magst du doch so gern.«
Er lächelte. Schließlich war sie es selbst, die den karamellisierten Apfelkuchen so gern mochte. Er hatte oft zugeschaut, wie sie ihn kopfüber zubereitete, von unten nach oben, und schließlich routiniert aus der Tortenform auf einen großen Glasteller stürzte.
»Du konntest doch gar nicht wissen, dass ich heute zurückkomme?«
Sie langte sich theatralisch ans Herz. »So was spüre ich. Außerdem schmeckt die tarte morgen auch noch. Wie war …« Sie zögerte und sah ihn nachdenklich an. »Wie war deine Reise? Alles zu deiner Zufriedenheit erledigt?«
Lucien hatte das Gefühl, dass sie etwas ahnte. Nichts Genaues natürlich, aber doch so viel, dass er gerade von seinem ersten Auftrag zurückkam.
»Zu meiner Zufriedenheit? Nein, ganz und gar nicht.«
Sie runzelte die Stirn. »Das habe ich mir gedacht. Aber Edmond wird zufrieden sein, habe ich recht?«
Er überlegte, wie viel Rosalie von der »Arbeit« seines Vaters mitbekommen hatte. Dass er die Aufträge von seinem Bruder erhalten hatte, wusste sie offenbar. Auch dass diese grundsätzlich gegen das fünfte Gebot verstießen. Schließlich kannte sie sogar die geheimen »Katakomben« unter dem Haus. Schon deshalb, weil sie dort für Sauberkeit sorgte.
Er zuckte mit den Schultern. »Ob Edmond zufrieden ist, interessiert mich nicht. Wenn überhaupt, dann stehe ich bei meinem Vater in der Pflicht.«
»C’est vrai. So ist es, genau so und nicht anders.«
»Rosalie, ich möchte dich was fragen. Was weißt du über den Tag, an dem mein Vater angeschossen wurde? Was hatte er vorgehabt?«
Sie kratzte sich verlegen am Kinn.
»Ich habe mir schon gedacht, dass du irgendwann fragen wirst. Ich habe mir das Hirn zermartert, um dir eine Antwort geben zu können. Aber leider hat er keine Andeutung gemacht. Mir war nur klar, dass er einen Auftrag erledigen wollte. Ich habe ihm geholfen, ein Gewehr in eine Umhängetasche für Angelruten zu verstauen. Ich habe ihm viel Glück gewünscht, und er hat mir zum Abschied einen Kuss auf die Stirn gegeben.«
»Wann ist er weggefahren?«
»Kurz nach Tagesanbruch. Gegen Mittag wollte er wieder zurück sein.«
»Dann kann sein Ziel nicht weit entfernt gewesen sein.«
Lucien überlegte, wann er die Nachricht vom bevorstehenden Tod seines Vaters erhalten hatte. Das war am späten Vormittag gewesen. Paul hatte ihn beim Verlassen des P’tit Bouchon abgefangen, um ihm die Nachricht von Rosalie zu überbringen. Also betrug die Zeitspanne nur wenige Stunden. Er war mit dem Citroën gefahren. Wie lange hatte er nach seiner Verletzung am Steuer noch durchhalten können? Wahrscheinlich könnte Docteur Moreau eine Schätzung abgeben. Im Grunde war sie überflüssig, denn allzu lange bestimmt nicht. Folglich lag der »Tatort« in einem relativ engen Radius.
»Du müsstest Edmond fragen«, sagte Rosalie.
»Habe ich schon. Er sagt mir nichts.«
»Hätte ich mir denken können, Edmond ist eine falsche Schlange.«
Ein Kuchenstück tarte Tatin später, nach einem Marc de Provence und einem extrastarken Kaffee verabschiedete sich Lucien von Rosalie. Von ihr wusste er, dass Francine heute ihren freien Tag hatte und morgen wieder im bureau sein würde. Es gebe viel zu erledigen. Er versprach zu kommen. Lucien startete seine Vespa und fuhr nach Villefranche. Er fühlte sich zerschlagen und ausgelaugt. Dabei hatte er in den letzten zweieinhalb Tagen nicht viel gemacht. Er war nur nach Lyon gefahren – und dort so lange hinter einem Mann hergelaufen, bis dieser von einem Zug überfahren wurde. Er hatte nicht viel gemacht … und doch war dieser Mann jetzt tot.