D as P’tit Bouchon war wieder einmal bis auf den letzten Platz besetzt. Wäre er ein Wirt, der auf den Umsatz angewiesen war, müsste er überglücklich sein. Doch das Glücksgefühl wollte sich nicht einstellen. Nicht nach den Tagen, die hinter ihm lagen. Aber zufrieden war er dennoch. Schließlich war es auch für seine équipe am besten, wenn der Laden brummte. Da liefen sie zur Höchstform auf: Roland als Maître de Cuisine und sein Souschef Alain. Unter ihrer Regie werkelten in der Küche der Entremetier für die Beilagen, der Gardemanger für die Vorspeisen und Salate, die Patissière, sie hieß Inès, kümmerte sich um die Desserts … Eine Arbeitsteilung wie in einem großen Restaurant. Alain legte großen Wert auf die Zuständigkeiten der einzelnen Posten. So hatte er es gelernt. Lucien entlockte es regelmäßig ein amüsiertes Lächeln. Denn in Wahrheit herrschte in der Küche des P’tit Bouchon – pure Anarchie. Jeder machte alles. Es ging drunter und drüber. Weil die Küche zu klein war, kamen sich alle ins Gehege. Seine Mannschaft nahm sich gegenseitig die Küchenwerkzeuge weg. Man kämpfte um freie Stellen an den Arbeitsflächen und auf dem Herd. Schimpfwörter flogen hin und her. Auch mal ein Kochlöffel oder Topflappen. Und doch wurde am Ende alles fertig. Sogar in anerkannt guter Qualität. In Luciens Augen kam das einem Wunder gleich.
Im Service lief es entschieden gesitteter ab. Was auch an Pauls ruhiger Art lag. Er dirigierte seine Leute mit unauffälligen Handzeichen. Er versuchte, alle Tische im Blick zu behalten – und damit die Gäste mit ihren Wünschen. Für Lucien unterschieden sich genau in diesem Punkt gute Servicekräfte von zweitklassigen. Letztere liefen mit »Tunnelblick« durchs Lokal. Sie vermieden es, nach links und rechts zu schauen, weil dort neue Arbeit auf sie warten könnte. Ihre Nachwuchskellnerin Adèle konnte dabei sogar ihre Ohren verschließen. Sie reagierte grundsätzlich nicht auf Zurufe. Auch wenn es nur darum ging, ein zusätzliches Besteck vorbeizubringen. Er nahm sich vor, mit ihr mal darüber zu reden.
Apropos Paul. Er hatte vergessen, Rosalie zu fragen, wie er mit ihr verwandt war. Er sei ihr Neffe, hatte er gesagt. Dabei hatte Lucien immer gedacht, Rosalie habe überhaupt keine Familie. Was natürlich Quatsch war, denn Eltern hatte sie wie jeder Mensch ganz sicher gehabt. Er mochte den hünenhaften Kerl. Doch sehr viel mehr, als dass er ursprünglich hatte Catcher werden wollen, aber nach einer Verletzung mit dem Kellnern begonnen hatte, wusste er nicht von ihm.
Nachdem Lucien an einem Pult am Eingang die Reservierungen abgeglichen und die Gäste empfangen hatte, saß er jetzt an seinem Lieblingstisch in der Ecke. Paul servierte ihm von der Tageskarte zunächst einen gravlax de saumon, einen gebeizten Lachs mit einer feinen Crème von Roter Bete. Danach ein steak de veau en croûte de poivre, ein Kalbsrückensteak in Pfefferkruste.
Als ihm Paul Wein nachschenkte, schob ihm dieser einen Zettel zu.
»Die zwei Griechen, von denen du gesprochen hast, waren hier und haben nach dir gefragt«, sagte er. »Das ist ihre Telefonnummer. Ich soll sie anrufen, wenn du wieder auftauchst. Sie haben mir eine Belohnung versprochen.«
Lucien sah ihn lächelnd an. »Und? Hast du es gemacht?«
»Bist du verrückt?« Er runzelte die Stirn. »Aber vielleicht willst du sie selbst anrufen? Falls du Hilfe brauchst, sag mir Bescheid. Die zwei Westentaschenganoven verputze ich zum Frühstück.«
Lucien zweifelte nicht an seinen Worten. Den ehemaligen Catcher sah man ihm immer noch an. Paul konnte nicht ahnen, dass er die beiden Freunde schon selbst »verputzt« hatte. Um in seinem Bild zu bleiben: quasi zum Dessert.
»Nett von dir, aber wird, glaube ich, nicht nötig sein.« Lucien blickte auf den Zettel mit der Telefonnummer. »Hast recht, vielleicht rufe ich sie tatsächlich selbst an«, sagte er.
Paul klopfte auf den Tisch. »Nicht vergessen. Kannst immer auf mich zählen.«
Das würde er bestimmt nicht vergessen, dachte Lucien. Man wusste nie, was die Zukunft brachte. Vor allem in seinem Leben gab es schwer vorhersagbare Risiken. Gut möglich, dass er mal auf Pauls Angebot zurückkommen musste. Doch vorher würde er mit Rosalie über ihren Neffen sprechen. Er sollte mehr über ihn wissen.
Am späteren Abend gönnte sich Lucien noch einen Digestif. Den Zettel mit der Telefonnummer hatte er eingesteckt. Gedankenverloren schaute er in das Glas mit dem Averna und ließ die Eiswürfel kreisen.
»Na, du Vaterlandsverräter«, wurde er plötzlich angeraunzt. »Trinkst einen Bitterlikör aus Italien. Muss das sein?«
Lucien sah auf. Vor ihm stand feixend Capitaine Achille Giraud von der Gendarmerie nationale.
»Meine Mutter war Italienerin. Mehr kann ich zu meiner Entlastung nicht vorbringen.«
»Das ist in der Tat strafmindernd. Von einer Verhaftung werde ich deshalb absehen.«
»Zu gütig. Magst auch einen Averna?«
»Volentieri. Darf ich mich setzen? Ich will was mit dir besprechen.«
Mit Achille hatte er noch nie etwas »besprochen«, dachte Lucien. Außer die Fußballtabelle und die Jahrgangsqualität von Rotweinen.
»Nimm Platz. Ich hab dich gar nicht gesehen. Wie war das Essen?«
»Ungenießbar. Comme un fumier de cheval, wie ein Haufen Pferdemist.«
Lucien sah ihn entsetzt an. Das hatte er noch nie von einem Gast gehört. Erst recht nicht von einem Freund.
»Ist nicht dein Ernst?«
»Doch, definitiv.« Der Capitaine lachte. »Aber ich war woanders beim Essen, nicht bei dir. Bin gerade erst gekommen.«
»Wie kannst du mir einen solchen Schrecken einjagen?«
Achille Girauds Miene verfinsterte sich.
»Ich könnte dir noch ganz andere Schrecken einjagen.«
Jetzt sah er nicht mehr so aus, als ob er sich einen Spaß erlauben würde. Doch Lucien blieb äußerlich unbeeindruckt.
»Nur zu, jetzt bin ich ja vorbereitet.«
Der Capitaine winkte ab. »Das spare ich mir auf. So kurz nach dem Tod deines von mir sehr geschätzten Vaters …«, er räusperte sich, »will ich dich schonen. Du bist noch nicht so weit.«
Lucien hasste rätselhafte Andeutungen, die unnötig Spannung aufbauten. Entweder ließ man raus, was man zu sagen hatte, oder man hielt die Klappe. Leider konnte er das Achille so nicht sagen. Denn … denn womöglich wusste er Dinge von seinem »sehr geschätzten« Vater, die er besser nicht wissen sollte. Oder ahnte er gar, dass er in seines Vaters Fußstapfen trat? Nein, das konnte nicht sein. Beides war unmöglich. Doch wäre es in jedem Fall ein Fehler, ihn zu provozieren. Schließlich war Achille Capitaine bei der Gendarmerie nationale . Und damit sein natürlicher Gegenspieler.
»Dann halt ein anderes Mal«, sagte er gelassen. Er hob sein Glas. »Santé!«
»Tchin-tchin, mon ami!«
Der Capitaine sah ihm lächelnd in die Augen. Lucien zuckte mit keiner Wimper.