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N och immer hatte er keinen Plan, aber immerhin eine vage Idee, worauf sein Gespräch mit Zanarella hinauslaufen könnte. Ihm war klar, dass das ohne Überzeugungsarbeit nicht gehen würde. Weshalb Lucien in die Katakomben abgetaucht war und einige »Requisiten« zusammensuchte. Francine würde nicht gefallen, dass er neben einer Pistole auch Plastiksprengstoff mit Zünder und ein zerlegbares Gewehr mit Zielfernrohr in einem Aktenkoffer verstaute. Dazu noch einige Gadgets, technische Spielereien, die sich als nützlich erweisen konnten. Der Koffer hatte ein Zahlenschloss. Vor Francines Neugier war der Inhalt sicher.

Im P’tit Bouchon hatte er sich wieder einmal für einige Tage abgemeldet. Auch Rosalie wusste Bescheid. Seine Reisetasche war gepackt. Es konnte losgehen.

Er fuhr den Citroën aus der Garage. Rosalie ließ es sich nicht nehmen, ihn mit einer herzlichen Umarmung zu verabschieden und ihm alles Gute zu wünschen. Ihr war zweifellos klar, dass er im Auftrag von Edmond verreiste. Ihrem ernsten Gesichtsausdruck entnahm er, dass sie sich Sorgen machte.

»Übrigens hat sich auch Francine den Rest der Woche freigenommen«, sagte sie. »Weißt du, warum?«

»Tatsächlich? Nein, ich habe keine Ahnung.«

Sie drohte ihm mit dem Zeigefinger. Das hatte sie in der letzten Zeit häufiger getan.

»Du sollst mich nicht anschwindeln. Ich erinnere dich an unser Gespräch in der Küche: Ne fais pas de conneries! «

Er solle keinen Mist bauen? Hatte sie das wirklich so gesagt? Und wie meinte sie das?

Er gab ihr einen Kuss auf die Stirn.

»Bis bald, meine liebe Rosalie. Pass auf dich auf!«

»Um mich musst du dir keine Sorgen machen.«

Monte Carlo war vom Cap Ferrat nur einen Katzensprung entfernt. Schon schwieriger war es, Francines Adresse zu finden. Wie sich herausstellte, wohnte sie in einem exklusiv wirkenden Apartmenthaus in bester Lage. Wobei es in Monte Carlo natürlich viele beste Lagen gab und erst recht exklusive Wohnhäuser. Ein Concierge trug Francines Reisetasche und begleitete sie zum Auto. Lucien fragte sich, ob er die Déesse von seinem Vater kannte? Natürlich ließ sich der Concierge nichts anmerken. Lucien nahm ihm die Tasche ab, sie war von Louis Vuitton, und verstaute sie im Kofferraum neben seiner Reisetasche und dem Aktenkoffer. Der Concierge öffnete die Beifahrertür und half Francine ins Auto. Als ob sie das nicht selbst geschafft hätte.

»Ich habe eine Bitte«, sagte sie, als sie losfuhren. »Könnten wir über Roquebrune fahren, ich möchte zum Grab deines Vaters.«

»Ich hatte das sowieso vor. Ich besuche den Friedhof viel zu selten.«

»Muss ja auch nicht sein. Zum Trauern braucht man kein Grab. Und doch hat es eine Bedeutung.«

Lucien fuhr die wenigen Kilometer an der Küste entlang, dann hinauf nach Roquebrune-Cap-Martin. Hinter dem Dorf waren die nahe gelegenen Seealpen zu sehen, mit dem markanten Gipfel des Mont Agel. Unter ihnen die Küstenlinie mit dem von hier tatsächlich azurblauen Meer und dem Fürstentum Monaco. Sie parkten und gingen wortlos zum Familiengrab der Chacarasse. Francine hatte eine rote Rose dabei, die sie auf die Marmorplatte legte. Sie faltete die Hände und schloss die Augen. Lucien stand neben ihr und wusste nicht so recht, was er tun sollte. Beten? Das konnte er nicht. Also versuchte er, mit seinem Vater stille Zwiesprache zu halten. Er fragte ihn, ob es ihm recht war, dass er hier mit Francine stand. Was er davon hielt, dass sie mit ihm nach San Remo fuhr. Mit der Absicht, ihn davon abzuhalten, was er ihm auf dem Sterbebett versprochen hatte. Nämlich die mörderische Familientradition fortzusetzen. Lucien erinnerte sich an Francines Worte, dass sein Vater nach Erledigung seines letzten Auftrags erneut mit ihr darüber hatte reden wollen. Was hätte er ihr anbieten können? Wie hätte er den Konflikt gelöst? Natürlich bekam er keine Antwort. Oder doch? Denn plötzlich fiel ihm die einzige Lösung ein, die für seinen Vater infrage gekommen wäre. Francine wollte er nicht verlieren, gleichzeitig doch die Familientradition fortgesetzt wissen. Das ging nur, wenn er seinen Sohn in die Pflicht nahm. Und der Sohn, das war er. Ihm wurde bewusst, dass ihm sein Vater auch ohne die tödliche Schussverletzung die Verantwortung übertragen hätte. Und er hätte zweifellos dafür gesorgt, dass er ihr auch gerecht geworden wäre.

Francine hauchte dem Foto auf dem Grabstein einen Kuss zu. »Wegen mir können wir gehen«, riss sie ihn aus seinen Gedanken.

Er nickte. »Au revoir, mon père. Ciao, mia cara mamma!«

»Was ist mit deinem Bruder?«

»Du hast recht, auch von ihm sollte ich mich verabschieden. Wäre Raymond noch am Leben, würde er meinen Job erledigen. Also dann: Salut, Raymond! «

Die Fahrt über Menton und Ventimiglia ins italienische San Remo ging schneller, als ihm lieb war. Gerne hätte er noch länger seinen Gedanken nachgehangen. Doch bald schon kündigten Gewächshäuser von der Città dei Fiori, der Blumenstadt an der ligurischen Küste.

»Ich habe uns im Miramare Palace zwei Zimmer reserviert«, sagte Francine. »Unter meinem Namen.«

Die Reisetasche hatte er gepackt, auch den Aktenkoffer, ans Naheliegende aber nicht gedacht.

»Dann fahren wir direkt hin.«

Das große schneeweiße Jugendstilgebäude, am Corso Matuzia direkt am Meer gelegen, war nicht zu übersehen. Er stellte den Citroën auf dem Parkplatz ab.

»Schön ist’s hier«, sagte Francine. »Hier könnte man Urlaub machen.«

»Zanarella tut es. Wir leider nicht.«

Sie warf ihm einen strengen Blick zu. »Wir beide sowieso nicht. Wenn, würde ich allein herfahren.«

Dieser Bemerkung, dachte Lucien, hätte es nicht bedurft. Aber die Klarstellung war ihr wohl wichtig. Hatte Francine sich das auf dem Friedhof vorgenommen?

»Natürlich. Allein ist ja auch viel schöner.«

Ganz so flapsig hatte er nicht reagieren wollen. Aber jetzt war es schon raus.

Sie gingen an die Rezeption und checkten ein. Ihre beiden Zimmer lagen nebeneinander im zweiten Stock. Immerhin bestand sie nicht darauf, in eine andere Etage zu wechseln.

Eine halbe Stunde später trafen sie sich auf der Terrasse. Francine war schon da und winkte ihm zu. Sie saß in der Nähe des Pools unter einem weißen Schirm mit zwei Loungesesseln.

»Zanarella macht’s uns leicht«, sagte sie. »Erstens schaut er genauso zerrupft aus wie auf den Fotos, und zweitens sitzt er gleich da drüben. Allein, vor einem Bierglas und mit aufgeklapptem Notebook.«

Tatsächlich, das war er. Zweifel ausgeschlossen. Nur hatte er statt der Nickelbrille eine Sonnenbrille auf der Nase. Blass sah er aus. Wie jemand, der nie in die Sonne ging. Wahrscheinlich war es ihm sogar unter dem Sonnenschirm zu hell.

»Schaut nicht so aus, als ob er in Begleitung wäre«, stellte sie fest.

»Wahrscheinlich ist der Computer sein Begleiter.«

»Und jetzt?«

»Bestellen wir uns was zu trinken und beobachten ihn.«

»Alternativ könntest du zu ihm rübergehen«, schlug sie vor, »dich zu ihm setzen und ihm mitteilen, dass du ihn leider ermorden müsstest. Auf seine Reaktion wäre ich gespannt.«

Sie hatte wirklich einen trockenen Humor.

»Vielleicht bekommt er einen Herzinfarkt und fällt tot vom Stuhl? Schon wäre der Auftrag erledigt.«

»Wir wollen doch nicht, dass er stirbt.«

»Na gut, dann lass ich es sein und bestelle mir auch ein Bier.«

»Ich nehme einen Campari Fizz.«

»Fizz? Was ist das?«

»Campari mit wenig Orangensaft und viel Champagner.«

Irgendwann klappte Zanarella seinen Computer zu. Er unterschrieb die Rechnung auf seinem Tisch und verschwand im Hotel. Bevor der Kellner zum Abräumen kam, schaute Lucien auf Zanarellas Beleg nach seiner Zimmernummer. Der Journalist wohnte im dritten Stock, offenbar zur Seite hinaus mit Blick auf den Garten. Ob er sich jetzt aufs Ohr legte, um zum Abendessen wieder fit zu sein? Oder schrieb er weiter am Computer? Vielleicht an einer Enthüllungsgeschichte über den korrupten Politiker Riccardo Silvestri?

Lucien lief um die Ecke, zählte im dritten Stock die Zimmer ab und wartete – verdeckt vom Stamm einer Palme. Es dauerte nur wenige Minuten, dann wurde ein Fenster geöffnet. Für einen Augenblick war Zanarella zu erkennen. Lucien lächelte. Er hatte die Zielperson unter Kontrolle. Gleich würde er dafür sorgen, dass das auch so blieb.

Lucien sagte Francine Bescheid und ging auf sein Zimmer. In seinem Aktenkoffer hatte er einen Sensor von der Größe eines Knopfes. Er ging hinauf in den dritten Stock und befestigte den Sensor an Zanarellas Tür. Rechts oben im Eck. Er würde keinem auffallen. Und selbst wenn, sah er so aus, als ob er genau da hingehören würde. Aus welchem Grund auch immer. Lucien stellte über sein Handy die Verbindung her. Ab jetzt würde er ein Signal erhalten, wenn Zanarellas Tür bewegt wurde. Unbemerkt konnte er sein Zimmer jedenfalls nicht mehr verlassen.

Zurück auf der Terrasse, informierte er Francine. Dann bestellte er ein zweites Bier. Und Francine Champagner – diesmal ohne Campari und Orangensaft.

Ob er schon einen Plan habe, fragte sie.

Er schüttelte den Kopf. Nein, aber er sehe eine Möglichkeit, Edmonds Auftrag flexibel zu interpretieren. Er deutete an, was er sich überlegt hatte.

Sie sah ihn überrascht an. »Ist ja doch so was wie ein Plan. Könnte sogar funktionieren. Du willst Zanarella also manipulieren … doch, doch, wäre möglich. Aber was wird Edmond davon halten?«

»Er wird nicht erfahren, was gespielt wurde. Und wenn es so ausgeht, wie ich mir das vorstelle, könnte er mir nicht mal einen Vorwurf machen.«

»Das Problem bleibt Zanarella.«

»Wir müssen auf einen günstigen Moment warten. Vorläufig reicht es, ihn nicht aus den Augen zu verlieren.«

Prompt kam genau in diesem Moment ein Signal auf Luciens Handy.

»Unser Freund verlässt sein Zimmer.«

Eine Viertelstunde später bummelten sie am Casino von San Remo vorbei, wo bis in die Siebzigerjahre das berühmte Musikfestival Canzone Italiana veranstaltet wurde. Zanarella, der etwa hundert Meter vor ihnen lief, schenkte dem prächtigen Jugendstilgebäude keine Aufmerksamkeit. Er schien völlig in Gedanken versunken. Schon zuvor hatte er die russisch-orthodoxe Kirche, die auf die Zarin Maria Alexandrowna und ihren Aufenthalt im Winter 1864 zurückging, keines Blickes gewürdigt. Dabei war sie mit ihren fünf Zwiebeltürmen, die an den Kreml erinnerten, eine der Attraktionen von San Remo. Zanarella lief weiter in die belebte Haupteinkaufsstraße Via Giacomo Matteotti. Die Schaufenster auf beiden Seiten ignorierte er. Schnurgerade setzte er mit gesenktem Kopf einen Schritt vor den anderen. Lieber rempelte er jemanden an, als auszuweichen.

»Ein seltsamer Mensch«, sagte Francine.

»Jedenfalls ist er mit seinem Kopf überall, nur nicht im Hier und Jetzt.«

Da er nie zur Seite blickte oder sich gar umdrehte, rückten sie näher auf.

Zanarella erreichte einen Zeitungskiosk. Lucien und Francine verharrten vor einem Modegeschäft und beobachteten ihn in der spiegelnden Schaufensterscheibe.

Mit einem Stapel Tageszeitungen und Magazine unter dem Arm trat Zanarella schließlich den Rückweg an. Wieder hefteten sie sich an seine Fersen.

»Das hätten wir uns sparen können«, stellte Francine fest. »Wenn er sich wenigstens mit jemandem getroffen hätte. Aber so?«

»War doch ein netter Spaziergang.«

»Stimmt. Und du hast Zanarella nicht umgebracht. Das ist doch schon mal ein Erfolg.«

Sie verzog keine Miene. Dennoch war klar, dass sie das nicht ernst gemeint haben konnte.

»War keine Bahnstrecke da, wo ich ihn hätte vor den Zug stoßen können.«

»Das will ich nie mehr hören.«

»Dann darfst du nicht solche Bemerkungen machen. Auch nicht im Spaß.«