E s war ausgerechnet ein Aschermittwoch, als am 23 . Februar 1887 das idyllisch gelegene Bergdorf Bussana durch ein Erdbeben in Schutt und Asche gelegt wurde. Von der Bevölkerung aufgegeben, die an der Küste einen neuen Ort gegründet hatte, wurde Bussana Vecchia bald zur Geisterstadt. Es sollte über siebzig Jahre dauern, bis wieder Leben in die Ruinen kam. Hippies und Künstler entdeckten das zerstörte Dorf und siedelten sich illegal dort an. Die Behörden versuchten, dem Einhalt zu gebieten, aber die Künstlerkolonie hielt nicht nur durch, sondern wurde langsam größer – und bald eine Attraktion für Besucher. Heute finden sich in den mittelalterlichen Gassen von Bussana Vecchia viele Galerien und Künstlerwerkstätten. Zwischen zerstörten, zum Teil jedoch liebevoll restaurierten Häusern werden Gemälde ausgestellt. Handgearbeiteter Schmuck und allerlei Skurrilitäten werden zum Kauf angeboten. Im Schatten von mit Efeu überwucherten Mauern dösen Katzen.
Francine war noch nie hier gewesen, doch Lucien kannte das Künstlerdorf. Er liebte die kreative Anarchie. In engen Serpentinen ging es von San Remo hinauf auf den Berg. Er war froh, dass gerade kein Auto entgegenkam. Platz zum Ausweichen gab es nämlich so gut wie keinen. Er wollte die Déesse ohne Kratzer und Beulen wieder nach Hause bringen. Als rechts entlang einer hohen Mauer Autos parkten, wählte Lucien die erste Lücke. Er hatte keine Lust, alles wieder rückwärts fahren zu müssen. Er erinnerte sich, dass die Straße später abrupt endete. Wenn man Pech hatte, konnte man nirgends wenden.
Sie stiegen aus und liefen das letzte Stück zu Fuß. Bald kamen sie an einem weißen Fiat Cinquecento mit rotem Stoffdach vorbei. Lucien bat Francine, weiterzugehen, er komme gleich nach. Er machte sich hinter Zanarellas Fiat zu schaffen. Es dauerte nicht lange, dann war er fertig. Er eilte Francine hinterher und erreichte sie am Ortseingang vor dem Restaurant La Casaccia, dem vielleicht einzigen komplett neu errichteten Gebäude. Unter weißen Schirmen saßen an einfachen langen Holztischen und Bänken, von denen man einen fantastischen Blick hinunter zur Küste hatte, vor allem Tagesbesucher, aber offenbar auch einige Bewohner des Ortes. Man konnte sie an ihrem Äußeren leicht voneinander unterscheiden. Sie kamen aus verschiedenen Welten.
»Zanarella ist nicht hier«, sagte Francine. »Ich habe auch innen nachgeschaut. Sogar auf der Toilette.«
»Du bist die perfekte Assistentin. Ab jetzt nenne ich dich Dr. Watson.«
»Aber du bist nicht Sherlock Holmes. Darum lass das. Was hast du bei Zanarellas Auto gemacht?«
»Eine kleine Überraschung vorbereitet. Aber nichts Schlimmes, du musst dir keine Gedanken machen.«
»Na hoffentlich.«
Sie liefen durch eine schmale Gasse hinauf in den Ort. Neben liebevoll gestalteten Eingängen rankten sich Bougainvilleen. Ein Hund sah ihnen träge hinterher. An einer Mauer waren malerisch viele bunte Briefkästen angebracht. Sogar eine Postzustellung schien es also mittlerweile zu geben. Obwohl hier offiziell überhaupt niemand leben durfte. Rechts zweigte unter einem verfallenen Torbogen eine steile Treppe ab.
»Wir sollten uns besser trennen«, schlug Lucien vor. »Sonst könnte es passieren, dass wir im Gewirr der Gassen an ihm vorbeilaufen.«
»Einverstanden. Wir bleiben über unsere Handys in Kontakt. Falls du ihn vor mir triffst …«
»Verspreche ich dir, ihm kein Haar zu krümmen.«
»Das wollte ich hören. Bonne chance. «
Wenige Minuten später gelangte Lucien zu einer Kirchenruine ohne Dach, aber mit weitgehend intakten Außenmauern. Sogar der Kirchturm hatte dem Erdbeben standgehalten. Ein großes schmiedeeisernes Gitter verwehrte den Zutritt. Auf dem einstigen Kirchenboden wuchs hohes Gras. Schon während des Tages war das ein magischer Ort. Wie musste die Kirchenruine erst nachts unter einem funkelnden Sternenhimmel wirken?
Luciens Gedanken schweiften nur kurz ab, denn plötzlich entdeckte er Zanarella. Er stand auf einem kleinen Platz und fotografierte. Lucien sah sich um. Sie waren allein. Der Moment war ideal. Er wollte mit einer Nachricht an Francine keine Zeit verlieren und ging auf ihn zu.
Zanarella ließ die Kamera sinken und sah Lucien misstrauisch entgegen.
»Ich kann Ihnen nicht helfen«, sagte er abweisend.
Er ging wohl davon aus, dass sich Lucien entweder verlaufen hatte oder irgendwas zur Kirchenruine wissen wollte.
»Buongiorno, Signor Zanarella«, sagte Lucien auf Italienisch. »Wir kennen uns noch nicht …«
Zanarella wich unwillkürlich einen Schritt zurück. Natürlich hatte er nicht damit gerechnet, mit dem Namen angeredet zu werden.
»Aber ich freue mich, Sie hier zu treffen«, fuhr Lucien in freundlichem Ton fort. »Sie müssen mir nicht helfen, aber ich möchte Ihnen helfen.«
Zanarella kniff die Augen zusammen. »Wie meinen Sie das? Ich brauche Ihre Hilfe nicht.«
»Doch, brauchen Sie, sogar ganz dringend. Ich will nicht lange herumreden, aber Ihr Leben ist bedroht. Und ich will dafür sorgen, dass Ihnen nichts geschieht.«
Nach einem weiteren Schritt zurück stieß Zanarella mit dem Rücken gegen eine Mauer.
»Wer sind Sie?«
»Sagen wir so, ich bin Ihre Lebensversicherung. Ich weiß aus zuverlässiger Quelle, dass ein Auftragskiller auf Sie angesetzt wurde.«
Zanarellas Hände begannen zu zittern. Er war zwar ein mutiger Mann, der bei seinen Recherchen keine Risiken scheute, gerade aber verlor er die Fassung.
»Auftragskiller …«, murmelte er.
Lucien wollte ihm Zeit geben, die Information zu verarbeiten. Deshalb nickte er nur.
Zanarella gewann seine Contenance zurück. Er straffte den Rücken.
»So ein Blödsinn, wer sollte ein Interesse haben, mich umzubringen?«
»Ich denke, das wissen Sie selbst am besten.«
»Sagen Sie es mir!«
»Ich vermute, Sie haben sich mit Ihren Nachforschungen bei Riccardo Silvestri zu weit vorgewagt. Genaueres weiß ich auch nicht.«
Beim Namen Silvestri wich die Farbe aus Zanarellas Gesicht.
»Silvestri …«, wiederholte er. »Dieses korrupte Schwein …«
»Ich will ihn nicht direkt beschuldigen. Aber dass der Auftrag etwas mit Ihren Recherchen zu tun hat, liegt auf der Hand.«
Zanarella sah Lucien misstrauisch an.
»Und Sie wollen mir helfen? Warum sollten Sie das tun?«
»Weil Sie in Rom nicht nur Feinde, sondern auch Freunde haben. Diese haben mich gebeten, Ihren … Arsch zu retten.«
Lucien hatte sich bewusst für diese harte Ausdrucksweise entschieden. Zanarella musste sich des Ernstes der Lage bewusst werden.
»Von welchen Freunden sprechen Sie?«
»Das tut jetzt nichts zur Sache. Seien Sie froh, dass Sie welche haben.«
Man konnte ihm ansehen, dass er fieberhaft nachdachte.
»Wie ist Ihr Name?«, fragte er.
»Luciano, das muss reichen.«
»Also, Luciano, was wollen Sie jetzt machen? Wie wollen Sie meinen Arsch retten?«
»Jetzt bleibe ich erst mal an Ihrer Seite und passe auf Sie auf. Dann lade ich Sie zur Beruhigung in der Osteria degli Artisti zu einem Glas Wein ein. Vielleicht haben Sie auch Lust auf ravioli ricotta e spinaci? Habe ich im Vorbeigehen auf der Schiefertafel gesehen. Anschließend fahren Sie zurück ins Miramare Palace …«
»Sie wissen, wo ich wohne?«
»Natürlich, ich habe dort auch ein Zimmer. Ich passe schon seit gestern auf Sie auf.«
»Seit gestern …«
»Ganz genau. Sie waren so in Ihren Computer und in Ihre Zeitungen vertieft, dass Sie mich offenbar nicht bemerkt haben.«
»Das ist doch alles Bullshit«, erregte er sich plötzlich, »ich glaube Ihnen kein Wort. Questo è stupido! Completamente stupido! «
»Das ist es nicht, und das wissen Sie ganz genau. Ihre Freunde in Rom haben einen Vorschlag, den ich Ihnen unterbreiten soll.«
Aus den Augenwinkeln bemerkte Lucien, dass sie von Francine beobachtet wurden. Sie hielt sich in großer Entfernung und tat so, als ob sie sich für die Kirchenruine interessieren würde.
»Was soll das für ein Vorschlag sein?«
»Erzähle ich Ihnen später. Jetzt sollten Sie sich erst mal beruhigen.«
»Ich bin die Ruhe selbst«, protestierte Zanarella.
Das Angebot, in der Osteria einzukehren, lehnte Zanarella ab. Auch hatte er das Interesse an Bussana Vecchia verloren. Er wollte so schnell wie möglich zurück ins Hotel, um nachzudenken – und sich Luciens Vorschlag anzuhören. Auch wenn ihm anzumerken war, dass er die Geschichte mit dem Auftragskiller nicht wirklich glauben konnte.
Seite an Seite liefen sie an den geparkten Autos entlang. Lucien hatte eine dunkle Sonnenbrille auf und tat so, als ob er die Umgebung checken würde. So wie Bodyguards im Kino oder Fernsehen. Francine folgte in sicherer Entfernung. Beim kleinen Fiat angekommen, blieben sie stehen. Lucien wünschte ihm eine sichere Fahrt und verabredete ein Treffen auf der Hotelterrasse in einer Stunde. Wieder blickte er ostentativ um sich. Dann erschrak er und riss Zanarella zu Boden, sich dabei schützend auf ihn werfend. Sekundenbruchteile später war ein Knall zu hören. In der Mauer neben dem Fiat gab es eine kleine Explosion.
»Merda, auf uns wird geschossen.«
Mit Zanarella robbte er hinter den Fiat in Deckung.
Ein zweiter Knall. Wieder splitterte es in der Mauer. Diesmal über ihren Köpfen.
Kurz darauf wagte sich Lucien aus der Deckung. Vor allem, um der erstarrten Francine ein schnelles Zeichen zu geben, dass alles gut sei. Gott sei Dank neigte sie nicht zur Hysterie.
Er ließ die Fernsteuerung, mit der er die bei ihrer Ankunft in der Mauer platzierten kleinen Sprengladungen zur Explosion gebracht hatte, in seiner Hosentasche verschwinden.
»Ich glaube, er ist weg«, sagte Lucien. »Sie können wieder aufstehen.«
Zanarella zitterte. Lucien musste ihm auf die Beine helfen.
»Sind Sie verletzt?«, fragte er besorgt.
»Nein, ich glaube nicht.«
»Sind Sie in der Lage, Auto zu fahren? Oder soll ich Sie chauffieren? Kann ich gerne machen.«
Zanarella hielt sich am Fiat fest.
»Sind Sie sicher, dass der Schütze weg ist?«
»Jedenfalls sehe ich ihn nicht mehr. Aber sicher kann man sich nie sein.«
»Ich glaube …«, stammelte Zanarella, »ich glaube, es ist wirklich besser, wenn Sie fahren.«
Lucien ließ sich den Schlüssel geben und rangierte ein Stück aus der Lücke, damit Zanarella auf der Beifahrerseite einsteigen konnte. Dann öffnete er das Fenster und wendete. Dabei kam er an Francine vorbei, die mittlerweile bei ihnen angekommen war. Von Zanarella unbemerkt warf er ihr aus dem geöffneten Fenster den Schlüssel des Citroëns zu. Jetzt hatte sie das Problem, die unübersichtliche Déesse zu wenden. Oder auf der schmalen Straße rückwärts zu fahren. Mit dem Cinquecento war das kein Problem gewesen.
»Bitte anschnallen«, sagte Lucien.
Er freute sich, dass sein Einfall, ein Attentat vorzutäuschen, den erhofften Effekt erzielt hatte. Zanarella war mit den Nerven am Ende. Für den Augenblick jedenfalls schien er überzeugt, dass ihm jemand nach dem Leben trachtete. Und dass ihn Lucien gerade gerettet hatte.