33

N ach ihrer Ankunft im Miramare Palace war Zanarella immer noch so mitgenommen, dass er sich erst auf sein Zimmer zurückziehen musste. Sie verabredeten sich zwei Stunden später auf der Terrasse. Lucien vergewisserte sich, dass der Bewegungsmelder an Zanarellas Tür funktionierte. Schließlich könnte der Mann auf die Idee kommen, stiften zu gehen. Was Lucien nicht wirklich glaubte, denn erstens hatte er Angst, und zweitens würde er ganz sicher wissen wollen, wie sein Vorschlag aussah.

Lucien wartete vor dem Hotel auf Francine. Bald glitt die Déesse auf den Parkplatz. Wie es schien, unversehrt. Er wollte ihr aus dem Auto helfen, was sie aber nicht zuließ.

»Ich müsste dir böse sein«, sagte sie. »Wir haben ausgemacht, dass du mich benachrichtigst, sobald du Zanarella findest. Hast du nicht gemacht …«

»Ich hatte keine Zeit. Der Moment war gerade ideal.«

»Dann hast du bei seinem Auto diese Pyro-Show abgezogen. Hättest mich wirklich vorwarnen können.«

Ihm fiel keine Entschuldigung ein. Weil sie recht hatte.

»So musste ich mir erst zusammenreimen«, sprach sie weiter, »was die Inszenierung sollte.«

»Immerhin hat’s funktioniert. Zanarella glaubt wirklich, dass auf ihn geschossen wurde …«

»Und dass du ihm das Leben gerettet hast? Du könntest als Komparse beim Film anfangen.«

Komparse? Das war gemein.

»Ich dachte eher an eine Hauptrolle. Wie auch immer. Zanarella erholt sich gerade auf seinem Zimmer. In zwei Stunden treffen wir uns auf der Terrasse, dann sage ich ihm, was er tun muss.«

»Hoffentlich steigt er darauf ein.«

»Wenn nicht, werde ich ihn am späteren Abend erneut einschüchtern. Ich habe mir schon was Nettes ausgedacht. Aber ich glaube, es wird nicht nötig sein. Auf Zanarella ist noch nie geschossen worden. Das muss er erst mal verkraften.«

»Falls du doch was inszenierst, sag mir vorher Bescheid. Sonst kündige ich.«

Lucien hielt es für möglich, dass sie es ernst meinte.

»Mach ich, versprochen.«

»Ich nehme dich beim Wort. So, jetzt gehe ich auch aufs Zimmer und schau mir die Dateien an, die wir von Zanarellas Sticks kopiert haben. Falls es was spektakulär Neues gibt, das für deinen Plan wichtig sein könnte, sage ich dir Bescheid.«

Zanarella erschien fünf Minuten zu früh. Er stolperte über eine Stufe. Offenbar stand er immer noch unter Schock.

Lucien hatte einen Tisch gewählt, der etwas abseitsstand. Francine saß einige Tische weiter und blätterte in einem Modemagazin. Dass sie in den Dateien zwar viel kompromittierendes Material gefunden hatte, aber nichts, was die Sache in einem anderen Licht erscheinen ließ, wusste er bereits von ihr.

Lucien stand auf und winkte Zanarella zu sich.

»Ich vermute, Sie wollen ein Bier«, sagte Lucien.

»Das wissen Sie also auch, ich meine, dass ich gerne Bier trinke.«

»Ich weiß vieles, aber bestimmt nicht alles.«

Zanarella nickte. »Wer weiß schon alles?«, sagte er nachdenklich. »Nicht einmal ich.«

Lucien legte ein verformtes Projektil auf den Tisch.

»Habe ich aus der Mauer«, sagte er. »Diese Kugel war für Sie bestimmt.«

Zanarella legte entsetzt die Hände vor den Mund. »Dio mio.«

Offenbar war er in einer Verfassung, in der er jeden Schwindel glaubte.

»Wenn Sie damit einverstanden sind, erkläre ich Ihnen jetzt den einzigen Ausweg, den es für Sie gibt.«

»Es gibt nur einen?«

»Ganz genau. Es gibt keinen anderen. Glauben Sie mir, ich habe Erfahrung mit Auftragskillern. Die bringen ihren Job zu Ende. Einfach deshalb, weil sie nur dann dafür bezahlt werden.«

»Und wenn ich zur Polizei gehe?«

Lucien wunderte sich, dass er erst jetzt darauf kam.

»Wird nichts helfen. Die Polizei kann Sie nicht rund um die Uhr beschützen. Warum sollte sie auch? Dass Sie wirklich gefährdet sind, wird man erst glauben, wenn Sie tot sind. Und es gibt noch ein Argument, das gegen die Polizei spricht …«

»Welches?«

»Als Journalist wissen Sie das selbst am besten: Die Polizei ist ein korrupter Haufen, unterwandert von zwielichtigen Typen, die für Geld alles machen. Ihnen ist doch klar, dass ein hochrangiger Politiker wie Silvestri und seine Hintermänner überall ihre Leute haben. Nein, die Polizei kann Sie nicht schützen, nur umbringen.«

Lucien fragte sich, ob er gerade zu dick aufgetragen hatte. Aber die Bestätigung von Vorurteilen war schon immer glaubwürdig. Erst recht in Stresssituationen.

Zanarella nahm einen tiefen Zug aus seinem Glas. Etwas Bier verschüttete er dabei.

»Der Ausweg? Wie soll der aussehen?«

»Sie stellen heute Nacht das gesamte Material, das Sie gegen Silvestri gesammelt haben, ins Netz. Gleichzeitig schreiben Sie in Ihrem Newsletter einen Kommentar, dass Sie hiermit Ihre Recherchen abgeschlossen hätten. Ab jetzt solle die Gerechtigkeit ihren Lauf nehmen. Sie seien erschöpft und würden für einige Zeit von der Bildfläche verschwinden, um sich zu erholen.«

»Ich soll alles ins Netz stellen? Noch heute Nacht? Was soll das bringen?«

Ein mit allen Wassern gewaschener investigativer Journalist sollte schneller von Begriff sein, dachte Lucien. Dann sah er, dass Zanarella immer noch auf das vor ihm liegende Projektil starrte. Wie das sprichwörtliche Kaninchen vor der Schlange. Er wirkte regelrecht paralysiert und unfähig, einen klaren Gedanken zu fassen.

»Ist doch ganz einfach. Man will Sie umbringen, um zu verhindern, dass die ganze Wahrheit ans Licht kommt. Gleich nach Ihrem Tod wird man versuchen, das gesamte von Ihnen recherchierte Belastungsmaterial zu vernichten. Man wird Ihren Computer zerstören, die USB -Speicher in Ihrem Hotelsafe löschen …«

Zanarella riss die Augen auf. »Woher … woher wissen Sie?«, stotterte er.

Lucien lächelte. »Wie schon gesagt, ich weiß vieles, aber nicht alles.«

»Übrigens ist mein Hotelsafe vorhin nicht aufgegangen«, sagte Zanarella. »Ich musste jemanden kommen lassen, der ihn geöffnet hat.«

»So was passiert«, ging Lucien nicht weiter darauf ein. »Neben den Datenspeichern wird man alle Papiere und Akten vernichten, die man finden kann. Das war’s dann. Sie sind tot, und Silvestri und seine Kumpane kommen davon. Das können Sie doch nicht wirklich wollen? Wenn Sie aber noch heute Nacht alles publik machen, was Sie wissen, macht es keinen Sinn mehr, Sie umzubringen. Die Bombe ist ja schon hochgegangen. Man wird den Auftragskiller zurückpfeifen und sich gute Anwälte suchen.«

Zanarella nahm die Brille ab und reinigte sie umständlich mit seinem Taschentuch. Eine Verlegenheitsgeste, weil er Zeit brauchte, über Luciens Vorschlag nachzudenken.

»Das leuchtet mir alles ein«, sagte er schließlich. »Aber erstens habe ich meine Recherchen noch nicht abgeschlossen. Und zweitens brauche ich für mein Renommee als Enthüllungsjournalist eine reißerische Titelgeschichte in einer der auflagenstärksten Tageszeitungen Italiens. Dafür bekomme ich wahrscheinlich den Premiolino, den wichtigsten Journalistenpreis Italiens.«

»Ich gratuliere. Den Preis können Sie dann als Leiche entgegennehmen«, setzte Lucien weiter auf die Schocktherapie. »Nein, nicht einmal das, denn es würde gar nicht erst zur Veröffentlichung kommen.«

Zanarella zuckte zusammen.

»Tun Sie endlich diese Patrone weg. Die macht mir Angst.«

Genau das war ihr Zweck, dachte Lucien.

»Außerdem«, fuhr Lucien fort, »haben Sie mit der Veröffentlichung im Internet doch Ihren persönlichen Triumph. Es wird heißen, dass der berühmte Enthüllungsjournalist Luigi Zanarella den größten Politskandal der jüngsten Geschichte ins Rollen gebracht hat. Vielleicht bekommt man auch dafür einen Preis?«

»Glaube ich nicht. Aber Sie haben recht, ich … ich würde es immerhin erleben.«

»Genauso ist es. Was gibt es da noch groß nachzudenken?«

»Und Sie garantieren mir, dass der Auftragskiller von mir ablässt?«

»Ich kann Ihnen gar nichts garantieren, auch wenn ich mir sehr sicher bin. Übrigens sehen das auch Ihre Freunde in Rom so, die sich um Sie große Sorgen machen. Trotzdem rate ich Ihnen, erst mal von der Bildfläche zu verschwinden. Haben Sie jemanden, bei dem Sie sich eine Weile verstecken können?«

Zanarella trank sein Bier aus.

»Ja, meine Schwester, sie lebt ziemlich abgeschieden auf der campagna in den Marken. Und zwar …«

Lucien machte eine abwehrende Handbewegung. »Will ich gar nicht wissen, niemand sollte es wissen.«

Wieder nahm Zanarella die Brille ab, um sie mit seinem Taschentuch zu putzen. Sauberer wurde sie davon nicht, ganz im Gegenteil.

»Habe ich Bedenkzeit?«, fragte er.

Lucien beschloss, ihm weiter zuzusetzen.

»Natürlich haben Sie die. Und zwar so lange, bis Sie von einer Kugel in den Kopf getroffen werden. Alternativ werden Sie in die Luft gesprengt. Vielleicht ist aber auch Ihr nächstes Bier vergiftet. Oder Sie bekommen unangemeldeten Besuch in Ihrem Hotelzimmer und fallen unglücklich aus dem Fenster. Für einen Genickbruch ist die dritte Etage hoch genug. Für kurze Zeit werde ich noch auf Sie aufpassen, danach müssen Sie allein klarkommen.«

»Woher wissen Sie, dass nicht genau in diesem Moment jemand auf mich zielt?«

»Drehen Sie sich um! Hinter Ihnen sitzt eine Dame im roten Kleid und tut so, als ob sie ein Magazin lesen würde. In Wahrheit observiert sie die Umgebung.«

Zanarella blickte über die Schulter.

Francine deutete mit zwei Fingern einen heimlichen Gruß an. Auch sie, dachte Lucien, würde eine gute Komparsin abgeben.

»So, genug gequatscht«, sagte Lucien entschieden. »Entweder Sie gehen jetzt hinauf in Ihr Zimmer und bereiten die Veröffentlichung des Materials vor. Spätestens um Mitternacht sollte alles online sein. Oder ich gehe hinüber zu der aparten Dame im roten Kleid, und wir beide reisen ab. Und zwar sofort. Bin neugierig, wie Ihre Todesanzeige aussieht.«

Zanarella langte sich mit zitternden Händen an den Kopf.

»Sie machen mich fertig, wissen Sie das?«

»Nein, nicht ich. Das schaffen Sie schon selbst. Also, was ist jetzt?«

»Ich tu, was Sie mir raten«, sagte Zanarella leise. »Aber Sie müssen mir versprechen, dass mir in den nächsten Stunden nichts widerfährt.«

»Das verspreche ich. Gehen Sie sicherheitshalber nicht ans Fenster. Machen Sie nicht auf, wenn jemand klopft. Auch nicht dem Roomservice. Hängen Sie das Schild mit ›Do not disturb‹ an die Tür. Wir werden den Flur observieren und Sie vor ungebetenem Besuch schützen. Soll ich Ihnen was zum Essen aufs Zimmer bringen? Vielleicht Panini mit Schinken und Käse? Für Getränke haben Sie ja Ihre Minibar.«

»Panini, sì sì, volentieri!«

»Ich rufe Sie vorher an, damit Sie wissen, dass ich es bin.«

»Dass Sie es sind … ich verstehe …«

Lucien fragte sich, ob Zanarella die nötige Konzentration aufbrachte, in den nächsten Stunden alles ins Internet zu stellen. Oder auf die Website seiner Tageszeitung? Auch musste er für seinen Newsletter einen Text schreiben, der alles erklärte. Andererseits war Zanarella ein routinierter Zeitungsjournalist, der es gewohnt war, mit engen Redaktionsschlussterminen klarzukommen. Er würde es schaffen. Sofern er es sich nicht anders überlegte.