A m nächsten Vormittag fuhr Lucien mit seiner Vespa in bester Laune bei der Villa Béatitude vor. Die Dinge schienen sich gerade alle zum Besten zu wenden. Edmond war mit seiner Arbeit zufrieden, obwohl er sie im Grunde verweigert hatte. Er hatte Chloé aufgespürt und würde ihr später einen sicher kurzweiligen Besuch abstatten. Im P’tit Bouchon waren heute wieder alle Tische reserviert. Alain hatte vom Fischhändler in Nizza wunderbare bretonische Hummer mitgebracht, die sein Chefkoch Roland heute Abend als homard à l’américaine auf die Speisekarte setzen wollte. Also klassisch in Wasser gekocht, danach zerlegt und in der Pfanne mit Knoblauch, Tomaten und provenzalischen Kräutern scharf angebraten. Roland hatte da seine ganz eigene Methode und weitere Zutaten, die er wie ein Staatsgeheimnis hütete. Lucien wusste, dass er anschließend trockenen Weißwein hinzugab und den Hummer im Sud einige Minuten köcheln ließ. Zum krönenden Abschluss wurde der homard am Tisch mit Cognac flambiert. Mit Paul hatte er abgesprochen, welchen Wein er zum Hummer empfehlen sollte, und zwar einen Meursault aus dem Burgund. Wem dieser Premier Cru zu teuer war, durfte freilich auch einen provenzalischen Rosé bestellen – sogar glasweise. Lucien nahm sich vor, rechtzeitig zurück zu sein. Eine Portion homard à l’américaine hatte er vorsichtshalber für sich reserviert. Vom Meursault hatte er genug Flaschen im Keller. Diesbezüglich musste er sich keine Sorgen machen.
Francines rotes Alfa-Cabrio stand an seinem gewohnten Platz. Den Gedanken, sie zum Hummeressen einzuladen, verwarf er genauso schnell, wie er ihm in den Kopf geschossen war. Er war gut beraten, auch weiterhin eine professionelle Distanz zu bewahren. Das fiel ihm schwer genug. Er sollte keine unnötigen Risiken eingehen.
Rosalie kam mit einer Gießkanne um die Ecke. Der neue Gärtner habe einige Rosen vergessen, bemängelte sie.
»Welche Hosen?«, fragte er mit einem Grinsen.
»Rosen, ich sagte Rosen und nicht Hosen. Sag mal, hörst du schlecht?«
Weil sein Grinsen immer breiter wurde, merkte Rosalie, dass sie gerade auf den Arm genommen wurde.
»Du bist unmöglich. Am liebsten würde ich dir die Gießkanne an den Kopf werfen. Mach dich nur lustig über mich. Wirst schon sehen, was du davon hast.«
»Tut mir leid. Ich wollt dir nur vor Augen führen, wie es mir umgekehrt mit dir geht.«
»Vor Augen führen ist Quatsch. Wenn überhaupt, habe ich es mit den Ohren. So, und jetzt mach nicht länger rum und geh rauf zu Francine. Soll die sich mit dir rumärgern.«
»Da haben wir was angerichtet«, sagte Francine zur Begrüßung und deutete auf ihren Monitor. »Selbst die französischen Nachrichtenseiten berichten mittlerweile vom Bestechungsskandal in Rom. Offenbar gibt es eine Verbindung zu einem französischen Staatsunternehmen.«
Lucien zuckte mit den Schultern. »Wir haben gar nichts angerichtet. Wir haben nur dafür gesorgt, dass Zanarella am Leben bleibt und das Richtige tut.«
»Vielleicht bekommt er dafür doch seinen ersehnten Journalistenpreis? Ich würde es ihm wünschen.«
»Mir wäre es egal.«
»Na ja, mir eigentlich auch. Ganz was anderes: Hast du dir eigentlich mal die Liste mit den gemeinnützigen Organisationen angeschaut, an die dein Vater einen Teil seiner Einkünfte gespendet hat? Oder willst du diese Tradition doch nicht fortsetzen?«
Stimmt, Francine hatte ihm diese Liste bereits vor Tagen hingelegt. Er hätte schon längst eine Entscheidung treffen sollen.
»Doch, natürlich will ich diese Gepflogenheit fortsetzen. Obwohl sie mich an den mittelalterlichen Ablasshandel erinnert. Als ob einem auf diese Weise die begangenen Sünden vergeben würden und das Fegefeuer erspart bliebe.«
»Gutes zu tun kann nicht verkehrt sein. Die von deinem Vater bedachten Hilfsorganisationen können jeden Euro gebrauchen.«
»Die konkreten Summen weißt du nicht?«, stellte er erneut die Frage, auf die er schon einmal keine Antwort erhalten hatte.
»Nein, das musst du schon selbst entscheiden. Auch ob du dasselbe Konto verwenden möchtest. Die Bankverbindung habe ich dir dazugeschrieben.«
»Spricht nichts dagegen, oder?«
»Nein, natürlich nicht. Alexandre hat sich immer alles gut überlegt.«
Ja, das hatte er, dachte Lucien. Sein Vater hatte immer alles bis ins letzte Detail durchdacht. Fehler zu machen sei keine Option, hatte er mal gesagt. Und doch war ihm ein entscheidender Fehler unterlaufen, ein todbringender, denn sonst wäre er noch am Leben.
»Ich muss dich was fragen«, sagte Lucien nach einer Weile. »Mein Vater hat dir gesagt, er müsse noch diesen einen Auftrag erledigen, danach wollte er mit dir über die Zukunft reden. Weißt du, worum es bei diesem Auftrag ging? Auf wen war er angesetzt?«
Sie sah ihn nachdenklich an. »Das ist ein abrupter Themenwechsel. Nein, ich weiß es nicht. Da musst du Edmond fragen.«
»Der sagt es mir nicht.«
»Ich kann ihn nicht ausstehen.«
»Hat mein Vater denn keine Andeutung gemacht? Irgendwas musst du doch mitbekommen haben.«
Sie schüttelte langsam den Kopf. »Nein, nichts. Alexandre konnte sehr verschwiegen sein.«
Das konnte er wirklich, dachte Lucien. Er hatte ihm sogar verschwiegen, dass er eine Geliebte hatte. Dennoch, Francine sollte … ja, sie sollte die Wahrheit über den Tod seines Vaters wissen.
»Auf dem Totenschein meines Vaters steht, dass er einem Herzinfarkt erlegen sei«, sagte Lucien leise.
Sie sah ihn regungslos an. »Was nicht stimmt, das ist mir klar.«
»Willst du wissen, woran er in Wahrheit gestorben ist?«, fragte er vorsichtig.
»Ich weiß es, er wurde hinterrücks erschossen.«
»Woher …?«
»Woher ich das weiß? Von Docteur Moreau. Ich habe ihn so lange unter Druck gesetzt, bis er es mir vor Kurzem verraten hat.«
»Unter Druck gesetzt …?«
»War nicht schwer. Schließlich weiß ich Dinge von Moreau, die ihn seine ärztliche Zulassung kosten würden.«
Francine, dachte Lucien, war eine Frau voller Rätsel und Geheimnisse.
»Ich denke, der Schuss hatte mit seinem letzten Auftrag zu tun«, sagte er. »Obwohl mir Edmond geraten hat, nicht nachzuforschen, wird mir immer klarer, dass ich den Tod meines Vaters nicht einfach so hinnehmen kann. Ich möchte wissen, was passiert ist. Wie es sein konnte, dass er in den Rücken geschossen wurde. Und wer es getan hat.«
Francine verzog keine Miene.
»Und dann? Was würdest du tun, wenn du es wüsstest? Würdest du versuchen, deinen Vater zu rächen? Gehört auch das zum Ehrenkodex der Chacarasse?«
Lucien ging zum Fenster und sah hinaus auf den Park. Dann drehte er sich um.
»Ehrlich gesagt habe ich keine Ahnung, was ich tun würde. Der Ehrenkodex wäre mir egal. Solange ich nicht weiß, wer meinen Vater umgebracht hat, muss ich über meine Reaktion nicht nachdenken. Grundsätzlich halte ich nichts davon, Gleiches mit Gleichem zu vergelten …«
»Auge um Auge, Zahn um Zahn«, flüsterte Francine – so leise, dass er es kaum verstand.
Ihm kam der Gedanke, dass nach dieser alttestamentarischen Logik jeder seiner Vorfahren den Tod verdient hatte. Wohl auch sein Vater. Ihn erstaunte, dies ausgerechnet von Francine zu hören.
Während er noch überlegte, wie er auf ihre Bemerkung reagieren sollte, klopfte es an der Tür.
Rosalie steckte ihren Kopf herein – Lucien war dankbar für die Unterbrechung – und sagte, dass der Monteur für den Springbrunnen da sei beziehungsweise, um genau zu sein, für die Pumpe. Er müsse wissen, wie hoch er die Fontäne einstellen solle.
»So wie früher«, sagte Lucien. »Einfach so wie immer.«
Rosalie schüttelte verzweifelt den Kopf. »Lucien, mein Lieber, du bist schon wieder mal keine große Hilfe. Wie soll ein Monteur, der heute zum ersten Mal da ist, wissen, wie unsere Fontäne früher ausgesehen hat? Dann müsste er ja nicht fragen.«
Lucien lächelte. Wo sie recht hatte, hatte sie recht. Eigentlich müsste sie sich selbst erinnern, aber sie hatte schon immer ein schreckliches Augenmaß. Er selbst kannte die Fontäne seit seiner Kindheit. Als Kind war sie ihm unendlich hoch erschienen und hatte mit der Spitze fast die Wolken berührt. Mit zunehmendem Alter und Körpergröße war sie geschrumpft. Was wohl eine Frage der Perspektive war. Vielleicht aber auch an der Verkalkung lag.
»Drei Meter höher als die Zypresse hinter dem Rosenbeet«, antwortete Francine an seiner Stelle. »So hoch war sie jedenfalls, bevor die Pumpe ihren Geist aufgegeben hat.«
»Sie sind ein Schatz. Von Ihnen kann Lucien noch viel lernen.«
Francine hob eine Augenbraue. »Das denke ich auch.«
Das Gespräch zum Tod seines Vaters setzten sie nicht fort. Es blieb unausgesprochen, war aber offensichtlich, dass auch Francine wissen wollte, wer ihren Alexandre und mithin seinen Vater getötet hatte. Gleichzeitig blieb ungeklärt, welche Reaktion sie ihm zubilligen würde. Francines geflüstertes »Auge um Auge« widersprach ihrem Willen, dass bei der Ausführung von Edmonds Aufträgen niemand zu Tode kommen dürfe. Das hatte sie ihm unmissverständlich klargemacht. Doch brauchte es auf diese Frage keine Antwort. Denn sie war hypothetischer Natur. Jedenfalls für den Augenblick. Das musste nicht so bleiben …
Stattdessen ging er mit Francine die vorbereitete Spendenliste durch und ließ sich erklären, welche wohltätigen Ziele die gemeinnützigen Empfänger verfolgten. Sie hatte auf jede Frage eine präzise Antwort. Wohl auch deshalb, überlegte er, weil sie die Liste ursprünglich selbst erstellt und mit seinem Vater abgesprochen hatte. Was hatte Rosalie gesagt? Von Francine könne er noch viel lernen. Umgekehrt aber auch, ging ihm durch den Kopf. Doch nichts Vernünftiges.
Bevor er sich verabschiedete, um zurück nach Ville-franche zu fahren und später weiter nach Nizza, fiel ihm noch ein, dass er erneut Francines Recherchefähigkeiten in Anspruch nehmen könnte. Allerdings sollte sie dabei auf keine falschen Gedanken kommen.
»Ich bin einem Mann begegnet, der mir suspekt ist«, begann er vorsichtig. »Um es gleich zu sagen, er hat absolut nichts mit Edmonds Aufträgen zu tun und auch nichts mit dem Tod meines Vaters. Er hat mir …« Lucien musste sich räuspern. »Nun ja, er hat mir ein Geschäft vorgeschlagen. Bevor ich mich darauf einlasse, würde ich gerne wissen, womit er sein Geld verdient.«
»Frag ihn doch einfach«, schlug sie vor.
»Ich glaube nicht, dass ich eine ehrliche Antwort bekommen würde. Manche Menschen haben ihre Geheimnisse.«
»Stimmt, du zum Beispiel.«
Er lächelte. »Ich wüsste nicht, welche. Aber zurück zu meinem Bekannten: Er ist Grieche und heißt Thanos Pavlidis. Er kreuzt gerade mit einer großen Motorjacht vor der Côte d’Azur. Sie trägt den hübschen Namen Pourquoi pas .«
Francine schüttelte den Kopf. »Warum haben Jachten immer so idiotische Namen? Die Besitzer halten sich wohl für besonders originell. Wie heißt eigentlich dein Gummiboot?«
»Zodiac.«
»Das ist kein Name, so heißt der Hersteller«, stellte sie klar.
»Ganz genau. Weshalb ich zu meiner Vespa auch Vespa sage.«
»Na gut, dann bist du eben das Gegenteil von originell.«
»Wie heißt dein Alfa?«, konterte er.
»Romeo läge auf der Hand, aber ich habe einen anderen Kosenamen. Den verrate ich dir aber nicht. Es reicht völlig, wenn ihn mein roter Alfa kennt und zufrieden schnurrt, wenn ich den Kosenamen in sein Ohr flüstere. Doch zurück zu deinem Thanos Pavlidis. Hast du irgendeinen Verdacht, womit er sein Geld verdienen könnte?«
»Keine Ahnung, im Internet steht nur, er sei ein griechischer Geschäftsmann.«
»Weshalb er dir ein Geschäft vorgeschlagen hat, ich verstehe. Jetzt möchtest du gerne mehr über ihn wissen. Ich kann ja mal gucken, was ich herausfinde.«
»Das wäre sehr freundlich.«
»Unter einer Bedingung: Er erstickt nicht morgen an einem gerösteten Brot mit Zaziki.«
»Ich vergifte auch nicht seinen Ouzo.«