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V espa war doch ein schöner Name, dachte Lucien, als er mit seinem Motorroller nach Nizza fuhr. Vespa bedeutete Wespe. Seine hatte zwei Räder und schnurrte zufrieden, ohne dass er ihr etwas ins Ohr flüsterte. Sie konnte sich im Verkehr mit schnellem Flügelschlag durch Lücken schlängeln und bei Ampeln die Farben Rot und Grün verwechseln.

Er überlegte, dass es nicht wichtig war, ob Francine etwas über Thanos Pavlidis herausfand. Geschäfte würde er mit ihm so oder so nie machen. Obwohl er die Wettschulden beim Tontaubenschießen sofort beglichen hatte. Das zumindest war ehrenwert. Chantal, die ebenso als Natalie bekannt war und jetzt Chloé hieß, würde er Pavlidis garantiert nicht ans Messer liefern. Selbst gegen eine angemessene Belohnung. Gleiches galt für seinen Freund Achille Giraud. Auch dem Capitaine der Gendarmerie nationale würde er Chloé nicht überstellen. Oder vielleicht doch? Verdient hätte es das Luder.

Er stellte seine Vespa auf einem kleinen Platz in der Altstadt von Nizza ab. Zu Chloés Wohnung waren es nur wenige Schritte. Die halb geöffnete Haustür war mit einem Karton Wein blockiert. Lucien mochte es, wenn man es ihm leicht machte. Er schlüpfte ins Treppenhaus und ging hinauf in den ersten Stock. Weil er ihren freundlichen Nachbarn mit dem Ring in der Nase nicht aufscheuchen wollte, verzichtete er darauf zu läuten. Außerdem liebte er Überraschungsbesuche. Er lauschte kurz an der Tür – dann öffnete er mit einem Dietrich das vorsintflutliche Schloss. Es war zweimal abgesperrt. Folglich sprach einiges dafür, dass Chloé noch nicht zurück war. Lucien glitt in die Wohnung und verriegelte hinter sich die Tür. Er schloss kurz die Augen. Er würde spüren, wenn jemand da war. Er glaubte an diese Fähigkeit. Sein Vater hatte versucht, sie ihm beizubringen. So hatte er mit verbundenen Augen entscheiden müssen, ob jemand im Zimmer war. Oder ob im Park jemand hinter ihm stand. Sinne seien wie ein Muskel, hatte sein Vater gesagt, man müsse sie regelmäßig trainieren, dann würden sie stärker.

Egal, dass er in Chloés Wohnung allein war, fand er auch nach einem kurzen Rundgang bestätigt. Fast allein, denn unter dem Bett schauten ihn zwei grüne Augen an. Das war Choupette, ihre Katze. Miaou, mon minou …

Eine Wohnung verriet viel über den Charakter eines Menschen. Bei Chloé herrschte ein kreatives Chaos. So hatte er sie eingeschätzt. Charmant, aber undiszipliniert. Systematisch durchsuchte er alle Schubladen und Schränke. Auf einem Kleiderbügel entdeckte er das gelbe Kleid, das er ihr geschenkt hatte. In einem Regalfach lagen teure Halstücher und Schals: Valentino, Louis Vuitton, Saint Laurent, Hermès … Er glaubte nicht, dass Chloé diese je gekauft hatte. Entweder waren das Geschenke von Verehrern, oder sie hatte sie irgendwo mitgehen lassen. Wer Diamanten entwendete und einer Bürgermeistersgattin ein Collier stahl, dürfte mit der Beschaffung von exklusiven Halstüchern keine Probleme haben.

Bald wusste er ziemlich viel über sie, sogar, welche Enthaarungscreme sie verwendete. Und dass sie kitschige Romane las. Nur ein Versteck für ihr Diebesgut fand er bislang nirgends. Auch der Spülkasten der Toilette war sauber. Keine hochkarätigen Diamanten … und keine wertvolle Halskette. Er konzentrierte seine Suche auf die offene Küche. Einbrecher, die wenig Zeit hatten, wurden hier am häufigsten fündig. Im Besteckkasten, in Kaffee- oder Keksdosen, zwischen Putzmitteln …

Bingo. Im Geschirrschrank stieß er auf die Pistole, die Chloé bei ihm hatte mitgehen lassen. In einer Suppenterrine. Er leerte das Magazin und legte sie zurück. Zufrieden war er dennoch nicht. Immerhin ließ ihm Chloé reichlich Zeit. Die Katze hatte sich auch an ihn gewöhnt und strich ihm um die Beine.

Lucien durchsuchte den Kühlschrank. Er stellte fest, dass sich Chloé ausgesprochen ungesund ernährte. Prêt-à-manger. Viel Fastfood mit hohem Fettgehalt, Zucker und Konservierungsstoffen.

Schließlich nahm er sich das Gefrierfach vor. Tiefkühlpizza verdure e mozzarella . Ein großer Becher mit Eiscreme: glace à la banane . Er drehte den Becher in der Hand. Die Versiegelung war aufgerissen. Chloé hatte ihn eindeutig geöffnet. Doch gegessen hatte sie nichts von dem Eis. Jedenfalls war die Oberfläche völlig glatt. Wer machte einen Eisbecher auf und probierte nicht davon?

Lucien machte den Backofen an und stellte das Bananeneis hinein. Zweihundert Grad Umluft. Es sollte also schnell gehen.

Als Nächstes interessierte er sich für eine angebrochene Schachtel mit purée de petits pois . Die grüne Masse mit dem Erbsenpüree war hart gefroren. Appetitlich sah der Inhalt nicht aus. Undefinierbare Speisereste klebten daran.

Erbsenpüree, Tiefkühlpizza und Bananeneis? Was für ein Glück, dass ihn Chloé nie zum Essen einladen würde.

Kurz entschlossen legte er auch die Schachtel mit dem Püree in den Backofen. Das Eis war schon fast geschmolzen.

Er lief zum Fenster und sah hinunter auf die Straße. Gegenüber ging gerade der alte Mann ins Haus, der ihm den entscheidenden Tipp mit Chloés Wohnung gegeben hatte.

Miaou … die Katze Choupette ließ sich von ihm hochheben und hinter den Ohren streicheln. Wo blieb Chloé?

Lucien kontrollierte den Backofen. Das aufgetaute Eis und das Erbsenpüree tropften auf das eingeschobene Blech. Eine auch farblich wenig appetitliche Mischung. Doch kam es ihm auf etwas ganz anderes an: Er wollte wissen, ob sonst noch was in den Packungen war. Etwas, das entschieden schwerer verdaulich war. Chloé wäre nicht die Erste, die auf diesen Einfall gekommen war. Innovativ war die Idee nicht. Aber auch nicht wirklich schlecht.

Lucien saß in einem Sessel, auf dem Schoß Choupette, als die Wohnungstür aufgeschlossen wurde. Hätte auch der zuvorkommende Nachbar sein können, der nach der Katze sehen wollte. Aber es war Chloé, die in ihre Wohnung zurückkehrte. Sie pfiff ein Lied und warf ihre kleine Reisetasche quer durchs Zimmer auf die Couch. Offenbar war sie bester Laune. Dass sie einen Besucher hatte, war ihr noch nicht aufgefallen.

»Hallo, chèrie «, sagte Lucien zur Begrüßung. »Schön, dass wir uns wiedersehen.«

Chloé erstarrte.

»Kannst du dich noch an mich erinnern? Ich bin’s, der Idiot, der dich aus dem Wasser gefischt hat.«

»Lucien? Wie … hast du mich gefunden? Und, äh, wie kommst du in meine Wohnung?«

»Durch die Tür, meine liebe Chantal. Ach so, eigentlich heißt du ja Chloé. Auch ein schöner Name.«

Er beobachtete, wie sie sich rückwärts dem Geschirrschrank näherte, wo sie in der Suppenterrine die Pistole deponiert hatte.

»Es ist alles anders, als es den Anschein hat«, sagte sie.

Es gab wohl kaum eine dümmere Ausrede.

»Falls du dir die Pistole greifen willst, das kannst du dir sparen, ich hab die Munition rausgenommen. Du kannst mit ihr also höchstens nach mir werfen.«

»Was für eine Pistole?«, spielte sie die Ahnungslose. »Und warum sollte ich mit ihr nach dir werfen? Weil du in meine Wohnung eingebrochen bist? Das verzeihe ich dir.«

»Wie großzügig.«

Sie warf einen Blick zum Backofen.

»Sag mal, wonach stinkt es hier?«

Lucien lächelte. »Ich wollte mir was zum Essen auftauen. Aber dein Gefrierfach gibt nicht viel her. Ziemlich trostlos, wenn du mich fragst. Bananeneis mit Erbsenpüree halte ich für eine gewagte Kombination.«

Aus ihrem Gesicht wich die Farbe. Er beobachtete, wie sie vom Geschirrschrank abließ und sich stattdessen von einem Haken eine schwere gusseiserne Pfanne griff.

»Willst du uns was zum Essen machen?«, fragte er im Spaß.

Statt eine Antwort zu geben, stürzte sie mit der erhobenen Pfanne auf ihn zu.

Das musste man ihr lassen, dachte er, die Frau hatte Temperament. Und sie wusste, was sie wollte – wie es aussah, ihm eins überbraten. Womit die Bratpfanne dann doch ihren erweiterten Zweck erfüllt hätte.

Lucien blieb entspannt im Sessel sitzen. Schließlich war es ein Leichtes, Chloés Attacke abzuwehren. Im letzten Moment hielt er ihr lächelnd Choupette entgegen. Natürlich würde sie ihre geliebte Katze nie in Gefahr bringen. Entsprechend stoppte sie abrupt in ihrer stürmischen Vorwärtsbewegung. Sie kam ins Straucheln. Lucien stellte ihr ein Bein. Mit der Pfanne in der Hand stürzte sie zu Boden. Dass sie dabei mit dem Kopf einen Beistelltisch streifte, hatte er nicht vorhersehen können. Auch nicht, dass sie danach besinnungslos liegen blieb. Übertriebenes Mitleid hielt er dennoch für fehl am Platz. Wer mit einer gusseisernen Pfanne auf ihn losging, hatte keine Anteilnahme verdient.

Lucien ließ die Katze behutsam auf den Boden gleiten. Ihr war kein Haar gekrümmt worden. Choupette, mon petit minou, au revoir …

Er überzeugte sich, dass Chloé nichts Schlimmes widerfahren war. Sehr bald schon würde sie ihr Bewusstsein wiedererlangen.

Keine fünf Minuten später wurde Chloé wach. Jetzt war sie es, die im Sessel saß. Verwundert sah sie auf ihre Handgelenke. Lucien hatte sie mit zwei ihrer seidenen Halstücher an die Armlehnen gefesselt. Links Hermès und rechts Valentino. Die Füße hatte er mit Saint Laurent fixiert.

Lucien stand lächelnd vor ihr und spielte mit der Bratpfanne.

»Na, ausgeschlafen?«, fragte er.

Sie zerrte an den Halstüchern.

»Mach sie nicht kaputt«, riet er. »Dazu sind sie zu teuer.«

»Sehr witzig«, lallte sie. »Wo ist Choupette?«

»Elle va bien, ihr ist nichts passiert, deinem Kätzchen geht es gut.«

»Dein Glück, sonst hätte ich dich umgebracht.«

»Was dir im Moment schwerfallen dürfte.«

»Hast du eine Ahnung.«

Na bitte, ihren Humor hatte sie nicht verloren.

»Deinen Backofen habe ich abgestellt, ist leider etwas versaut. Das Erbsenpüree hatte übrigens das Verfallsdatum längst überschritten. Außerdem hättest du dir an den Diamanten die Zähne ausgebissen.«

Chloé rang nach Luft. »Du hast sie gefunden? Du bist ein ganz gemeines Ekel.«

»War nicht schwer. Gleiches gilt für Bananeneis als Versteck für ein Diamantcollier. Auch nicht gerade genial.«

»Wage es nur nicht, mich zu beklauen …«

Lucien lachte »Wer beklaut hier wen? Das Collier gehört der Frau des Bürgermeisters von Toulon.«

Sie riss die Augen auf. »Woher weißt du das?«

»Weil dich die Polizei sucht.«

Der Ausdruck in ihrem Gesicht änderte sich.

»Aber sie weiß hoffentlich nicht, wer ich bin?«

»Noch nicht, aber ich kann ja einen befreundeten Capitaine von der Gendarmerie anrufen. Er würde sich freuen.«

»Das tust du nicht, oder?«

»Mal sehen. Hängt ganz von dir ab. Übrigens hatte ich ein langes Gespräch mit einem gewissen Thanos Pavlidis. Von wegen versuchter Vergewaltigung.«

Sie schaffte es zu lächeln.

»War doch eine gute Geschichte? Sogar du hast mir geglaubt.«

»Pavlidis sitzt mir im Nacken. Er verdächtigt mich, dein Komplize zu sein. Er vermisst fünf hochkarätige Diamanten. Im Erbsenpüree habe ich nur drei gefunden. Wo sind die anderen?«

»Pavlidis hat dich angelogen, es waren nur drei Diamanten.«

»Das soll ich dir glauben?«

»Musst du nicht, aber es ist die Wahrheit. Thanos neigt zur Übertreibung. Sogar seine Jacht ist kleiner, als er mir vorher erzählt hat. Und nicht nur die …«

Lucien war an weiteren Details nicht interessiert.

»Wo ist eigentlich das Geld, das du bei mir hast mitgehen lassen?«

»Du meinst die Tageseinnahmen aus dem P’tit Bouchon? Viel war das ja nicht, dein Lokal scheint nicht besonders gut zu laufen.«

Er beobachtete, wie sie unauffällig versuchte, ihre Fesseln zu lockern. Sie würde keinen Erfolg haben. Im Gegenteil, denn seine Knoten hatten die Eigenschaft, sich dabei sogar noch stärker zusammenzuziehen.

»Du beklaust also einen armen Mann? Hast du denn überhaupt kein Mitleid? Außerdem habe ich dir das Leben gerettet, schon vergessen?«

»Gestorben wäre ich auch ohne deine Hilfe nicht, davon kannst du ausgehen. Aber … hiermit bedanke ich mich in aller Form für deinen selbstlosen Einsatz. So, jetzt mach mich los! Dann haben wir miteinander Sex, und alles ist wieder gut.«

Er sah sie schmunzelnd an. Wirklich schlecht war der Vorschlag ja nicht.

»Ich werde mich zu beherrschen wissen …«

»Du weißt, was dir entgeht?«

»Ich erinnere mich dunkel.«

»Das glaube ich dir nicht. Wer mit mir Sex hatte, wird sich ein Leben lang daran erinnern.«

»Jetzt neigst aber auch du zur Übertreibung. Doch zugegeben, ich erinnere mich noch ganz gut. Trotzdem verabschiede ich mich jetzt. Mein Geld kannst du behalten. Auch die Pistole. Die Diamanten und das Collier nehme ich mit.«

»Das kannst du nicht machen …«

»Natürlich kann ich das, wirst gleich sehen. Vorher gebe ich dir noch drei Ratschläge: Erstens solltest du nie mehr hochgesteckte Haare tragen und so aussehen wie auf der Spendengala in Toulon. Die Polizei fahndet mit dem Foto einer Überwachungskamera nach dir. Zweitens solltest du vermeiden, Thanos Pavlidis über den Weg zu laufen. Er hält sich noch immer an der Côte d’Azur auf und ist auf dich ziemlich schlecht zu sprechen. Und drittens, das ist mein wichtigster Rat, solltest du um Villefranche einen großen Bogen machen. Meide meine Nähe. Denn …« Lucien machte eine Kunstpause. Mit ernstem Gesicht fuhr er fort: »Denn ich bin nicht immer so nett, wie es den Anschein hat. Ich würde es nicht dabei belassen, dich bei der Gendarmerie zu verpfeifen.«

»Du drohst mir?«, fragte sie mit stockender Stimme.

»Nein, ich gebe dir nur wohlgemeinte Ratschläge. So, jetzt muss ich wirklich gehen. Ich wünsch dir noch einen schönen Tag.«

Sie riss an ihren Fesseln. »Mach mich vorher los!«

»Warum sollte ich? Chacun est le maître de son destin … «

Jeder ist seines Glückes Schmied? Er hätte, dachte Lucien, Chloé auch knebeln können. Dann hätte sie jetzt wirklich ein Problem. Ihm ging durch den Kopf, dass er mit ihr gerade vielleicht zu hart umgegangen war. Wirklich böse war er ihr nicht. Irgendwie fand er sogar witzig, wie sie sich als Diebin durchs Leben schlug. Und natürlich war es für sie hart, dass er sie um ihre geklauten »Schätze« erleichtert hatte. Aber es hätte für sie schlimmer kommen können. Lucien läutete bei dem zuvorkommenden Nachbarn mit dem kahl rasierten Kopf, den dunklen Lidschatten und dem Ring in der Nase.

»Bonjour, mon cher«, hauchte der zur Begrüßung. »Hast du es dir anders überlegt? Machen wir es zu zweit oder zusammen mit der schnuckligen Chloé?«

»Weder noch. Aber ich soll dir ausrichten, dass die schnucklige Chloé deinen Besuch in zehn Minuten erwartet. Nicht früher, sie will sich erst noch fertig machen. Du hast ja einen Schlüssel.«

»Mon Dieu, Chloé erwartet mich? Was um Himmels willen hat sie mit mir vor?«

Lucien zuckte mit den Schultern. »Keine Ahnung. Aktuell steht sie auf Fesselspiele.«