L ucien hatte beste Laune, als er am nächsten Vormittag vor der Villa Béatitude von seiner Vespa stieg. Was nicht ungewöhnlich war, denn seiner Mentalität entsprach es, das Leben nach Möglichkeit von der leichten Seite zu nehmen. Zugegeben, in der letzten Zeit war ihm das nicht immer gelungen, aber irgendwie hatte sich dann doch fast alles zum Guten gewendet. Sogar der Springbrunnen funktionierte wieder, wie er mit einem Blick zum Park feststellte.
Rosalie kam ihm im Foyer entgegen. »Bonjour, Lucien«, krächzte sie. »Comment ça va?«
Er deutete auf ihren Hals. »Was ist mit deiner Stimme passiert? Bist du erkältet?«
»Mais non … mir geht es formi… formidabel.«
»Du hörst dich an wie eine Krähe.«
»Wie eine Krähe? Lucien, mein Lieber, du solltest Mitleid haben und dich nicht über mich lustig machen.«
»Nun sag schon, was ist passiert?«
Rosalie zog eine Grimasse. »Ein kleines Missgeschick. Aber ich will nicht darüber reden.«
»Mir kannst du dich doch anvertrauen. Ich weiß alles von dir. Sogar, dass du Hämorrhoiden hast und beim Schlafen schnarchst.«
»Lucien, du bist unmöglich. Doch ich sag’s dir trotzdem, musst es aber für dich behalten. Ich habe oft Probleme beim Einschlafen …«
Lucien grinste. »Weil dich dein eigenes Schnarchen stört?«
»Jetzt hör schon auf. Das ist eine ernste Sache. Docteur Moreau hat mir ein Spray empfohlen, das man sich beim Zubettgehen in den Hals sprüht. Da ist so eine Art Schlafhormon drin. Molatinin oder so ähnlich …«
»Melatonin.«
»Sage ich doch. Beim Zubettgehen habe ich natürlich keine Brille auf. Sonst hätte ich die Verwechslung bemerkt. Jedenfalls habe ich mir gestern versehentlich ein Akutspray gegen Fußpilz in den Rachen gesprüht. Die Fläschchen sehen total gleich aus …«
Lucien konnte nicht anders, er musste lachen.
»Ich hätte ersticken können«, fuhr sie krächzend fort. »Dann hättest du jetzt niemanden, über den du dich lustig machen könntest.«
Er nahm sie tröstend in die Arme.
»Entschuldige. Ich bin froh, dass nichts Schlimmeres passiert ist.«
»Und ich erst. Jetzt gurgele ich mit Salbeitee und trinke Milch mit Honig.« Sie langte sich an die Kehle. »Ist schon besser geworden, findest du nicht?«
Ihm fielen einige dumme Antworten ein. Aber er verkniff sie sich. Tatsächlich hatte Rosalie noch Glück gehabt. Im Haushalt gab es ätzende Flüssigkeiten, die sie sich besser nicht in den Hals gesprüht hätte.
»Ja, viel besser.«
Im bureau wurde er bereits von Francine erwartet. Ihren offenen Alfa hatte er schon auf dem Parkplatz gesehen. Sie hatte ein rotes Leinenkostüm an und trug dazu passenden Nagellack und modische Pumps. Die Haare saßen perfekt. Einmal mehr bewunderte er ihr makelloses Äußeres. Es war ihm ein Rätsel, wie sie nach einer Fahrt im Cabrio so perfekt gestylt sein konnte. Seinetwegen hätte sie mit verstrubbelten Haaren, in Bermudas und T-Shirt zur Arbeit erscheinen können. Hätte ihm sogar besser gefallen. Aber so war sie nicht. Er erinnerte sich an seinen Vater, der sich ebenfalls immer korrekt gekleidet hatte. Wenn es die Umstände erlaubten, war er sogar seiner »Arbeit« im Blazer mit Einstecktuch nachgegangen. Francine und sein Vater? Sie hatten wohl trotz des Altersunterschieds in vielerlei Hinsicht gut zusammengepasst. Dann fiel ihm ein, wie sie bei ihrer kurzen Bootsfahrt von Cap Ferrat nach Villefranche ausgesehen hatte. Auch dass sie das Steuer übernommen und Vollgas gegeben hatte. Offenbar hatte sie ein zweites Gesicht. Wie sollte man aus dieser Frau schlau werden?
»Wie war der gestrige Abend?«, fragte sie.
»Wie immer, das Lokal war voll, und alle Gäste waren glücklich. Warum fragst du?«
»Weil ich dachte, du hättest vielleicht deinen Griechen getroffen, über den ich mich informieren sollte.«
»Wie kommst du denn darauf?«
»Weil seine Jacht Pourquoi pas wieder in der Bucht vor Villefranche ankert.«
»Wirklich? Ist mir gar nicht aufgefallen.«
Dabei, dachte Lucien, hatte er heute Morgen nach der Jacht dieses Rouven Mardrinac Ausschau gehalten. Doch die Dora Maar war schon ausgelaufen. Die Pourquoi pas hatte er offenbar übersehen. Was leicht möglich war, wenn sie von einem der Kreuzfahrtschiffe verdeckt wurde.
»Habe ich in einem Trackingsystem gecheckt. Die Pourquoi pas ist gestern Nachmittag eingetroffen.«
Warum wunderte ihn nicht, dass sie sich auch auf diesem Gebiet auskannte?
»Nein, ich habe Pavlidis nicht getroffen. Ehrlich gesagt lege ich auch keinen Wert darauf. Hast du was über ihn herausbekommen? Womit verdient er sein Geld?«
Sie sah ihn skeptisch an. »Du würdest mir sagen, wenn er was mit einem Auftrag von Edmond zu tun hätte?«
»Ganz sicher, versprochen.«
»Ich will dir mal glauben. Also, Thanos Pavlidis ist im Waffengeschäft. Sein Name taucht immer wieder im Zusammenhang mit illegalen Waffenlieferungen in Länder auf, wo Bürgerkrieg herrscht oder sonst schreckliche Dinge geschehen.«
»So habe ich ihn gar nicht eingeschätzt«, gab Lucien zu. »Ich hätte ihn eher für jemanden gehalten, der mit gestohlener Kunst handelt oder … mit Diamanten.«
»Wie kommst du ausgerechnet auf Diamanten?«
Lucien hüstelte verlegen. Er musste wirklich lernen, nicht alles auszuplaudern, was ihm gerade durch den Kopf ging. Aber jetzt war er Francine wohl doch eine Erklärung schuldig.
»Weil ich jemanden kenne, der Thanos Pavlidis Diamanten gestohlen hat. Aufgrund unglücklicher Umstände …« Wieder musste sich Lucien räuspern. »Aufgrund dieser Umstände hat mich Pavlidis der Komplizenschaft verdächtigt. Dieses Missverständnis konnte ich mittlerweile zwar ausräumen, aber er hätte gerne seine Diamanten zurück.«
»Ist doch nicht dein Problem.«
»Nein, eigentlich nicht. Doch wie es der Zufall will, habe ich der Diebin …«
»Diebin? Es handelt sich also um eine Frau?«
Lucien grinste betreten. »Habe ich vergessen zu erwähnen, spielt aber keine Rolle. Jedenfalls habe ich die betreffende Person überreden können, mir die Diamanten auszuhändigen.«
Francine runzelte die Stirn. »Wie viele sind es?«
»Nur drei. Pavlidis behauptet zwar, ihm seien fünf Klunker gestohlen worden, aber das muss nicht stimmen. Jetzt frage ich mich, was ich mit den Diamanten anstellen soll.«
»Du denkst doch wohl nicht ernsthaft darüber nach, sie ihm zurückzugeben?«
»Hatte ich in Erwägung gezogen, aber nicht aus Nächstenliebe, sondern damit er mich in Ruhe lässt. Aber einem Waffenschieber? Wohl eher nicht.«
»Sind sie wertvoll?«
»Kann ich nicht beurteilen. Groß sind sie, und Pavlidis behauptet, sie seien lupenrein.«
»Du kannst sie mir mal zeigen. Mit Diamanten kenne ich mich etwas aus.«
Das überraschte ihn weniger als manches andere.
»Mach ich gerne. Jedenfalls würde sich Pavlidis über billige Steinchen nicht so aufregen.«
Francine spielte gedankenverloren mit einer Haarlocke.
»Ganz sicher nicht«, sagte sie nach einer Weile. »Ich hätte da übrigens eine Theorie. In einer englischen Zeitung bin ich über den Bericht einer Untersuchungskommission gestolpert, demzufolge Pavlidis verdächtigt wird, in ein schwarzafrikanisches Land Tretminen geliefert zu haben. Nach der Ottawa-Konvention von 1997 sind diese Antipersonenminen international geächtet. Sie unterscheiden nicht zwischen Soldaten und Zivilisten. Oft sind es Kinder, denen beim Drauftreten die Beine zerfetzt werden. In meinen Augen gibt es kaum Grausameres …«
Francine hielt inne. Ihre Betroffenheit war nicht gespielt.
»Deine Theorie?«, hakte er nach.
»Ist ganz einfach. Das afrikanische Bürgerkriegsland, in das Pavlidis Tretminen geliefert haben soll, ist bekannt für seine großen Diamantvorkommen.«
»Du meinst, er hat sich die Minen mit Diamanten bezahlen lassen?«
Sie hob die Schultern. »Könnte ich mir wenigstens vorstellen.«
»Dann wären das sogenannte Blutdiamanten?«
»So nennt man sie. Wenn sie aber geschliffen sind, lässt sich das nicht mehr feststellen. Jedenfalls werden mit ihnen die kriegerischen Auseinandersetzungen in vielen Ländern Schwarzafrikas finanziert. Leute wie Pavlidis wollen ja irgendwie bezahlt werden.« Sie hielt kurz inne. »Schwarzafrika darf man eigentlich nicht mehr sagen«, korrigierte sie sich. »Länder südlich der Sahara wäre wohl korrekter.«
Lucien fand, dass man es mit der political correctness auch übertreiben konnte.
»Drei oder fünf dieser Diamanten dürften als Bezahlung kaum ausreichen …«, stellte er fest.
»Ganz gewiss nicht. Vermutlich kann er den Verlust leicht verschmerzen. Aber … aber wie gesagt, das ist nur eine Theorie. Muss nicht stimmen.«
Bisher waren ihre Theorien immer zutreffend gewesen, dachte Lucien. Sowohl bei Didier Pascal und Cédric Richard als auch beim Journalisten Luigi Zanarella und Riccardo Silvestri. Warum nicht also auch diesmal? Außerdem würde das erklären, warum Pavlidis den Diebstahl nicht zur Anzeige gebracht hatte. Wer sich selbst an keine Gesetze hält, meidet jeden Kontakt mit der Polizei.
Lucien zog die Schublade seines Schreibtischs auf und entnahm ihr eine Zigarettenschachtel. Beim Schütteln klapperte es.
»Ein originelles Versteck«, konstatierte sie trocken.
»Soll auch keines sein. Gefunden habe ich die Steinchen in einer angebrochenen Schachtel Erbsenpüree aus der Tiefkühltruhe.«
»Auch nicht viel besser.«
Er reichte ihr die Schachtel. Francine ließ die Diamanten in ihre Handfläche gleiten.
Sie pfiff anerkennend durch die Lippen. Dann nahm sie einen Stein und hielt ihn gegen das Licht.
»Je suis très impressionnée«, flüsterte sie.
»Was meinst du?«
»Ich schätze ihn auf zwei bis drei Karat. Mit bloßem Auge kann ich keine Einschlüsse erkennen …«
»Wie viel könnte er wert sein?«
»Kann ich nicht sagen. Ausschlaggebend sind die vier C: Carat, Cut, Clarity, Colour. Von zehntausend Euro aufwärts, können aber auch fünfzigtausend Euro sein. Oder sogar mehr.«
»Uups. Jetzt verstehe ich, dass Pavlidis sauer ist.«
»Ich bin in Monte Carlo mit einem Juwelier befreundet. Wenn du mir die Diamanten anvertraust, könnte ich dir morgen Genaueres sagen.«
»Sehr gerne. Würde mich wirklich interessieren, was sie wert sind.«
Auch würde er gerne wissen, ob es sich wirklich um Blutdiamanten handelte, fügte er in Gedanken hinzu. Aber das ließ sich offenbar nicht mehr feststellen. Eine Entscheidung hatte er jedenfalls schon getroffen. Er würde sie Pavlidis definitiv nicht zurückgeben. Die in Aussicht gestellte Provision interessierte ihn nicht. Vielmehr drängte es ihn, dem Mann einen Denkzettel zu verpassen. Ein kleines bisschen leistete er sogar Chloé Abbitte. Wie es schien, hatte sie den Richtigen beklaut. Wer mit Tretminen Handel trieb, hatte kein Mitleid verdient. Lucien überlegte, ob er Chloé wenigstens einen der drei Diamanten zurückgeben sollte. Als kleine Wiedergutmachung. Andererseits hatte sie ihn hintergangen und die Geldbörse mit den Tageseinnahmen aus dem P’tit Bouchon mitgehen lassen. Gar nicht zu reden von der versuchten Attacke mit der Bratpfanne. Allzu viel Nächstenliebe sollte sie von ihm also nicht erwarten.
Lucien nahm sich vor, alles gründlich zu überdenken. Sowohl, was Chloé betraf, als erst recht in Bezug auf Pavlidis. Vielleicht ließ sich über den zwielichtigen Griechen noch mehr in Erfahrung bringen? Womöglich kam ihm dabei eine Idee, wie man ihm ein Bein stellen könnte? Beziehungsweise besser: Wie man Pavlidis kräftig gegen das Schienbein treten könnte. Denn weh sollte es schon tun. Was die Diamanten betraf, hatte er bereits einen Einfall. Francine, davon war er überzeugt, würde ihn gutheißen.