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N atürlich kannte Lucien Saint-Paul-de-Vence. Wer kannte das Künstlerdorf nicht? Ein »Geheimtipp« wie Bussana Vecchia war es schon lange nicht mehr. Im Gegenteil wurde es von Touristen aus aller Welt regelrecht überrannt. Ein Highlight war die auf einem kleinen Hügel gelegene Chapelle du Rosaire mit Glasfenstern und Keramikarbeiten von Henri Matisse. Im Ort selbst, der von einer komplett erhaltenen Festungsmauer umschlossen war, schoben sich die Besucher durch mittelalterliche und verwinkelte Gassen. Selbst die Rue Grande, die sich durch den ganzen Ort zog, war alles andere als grande, sondern schmal und den Fußgängern vorbehalten. Kunstvoll gepflastert mit kleinen Steinen. Und gesäumt von Kunstgalerien.

Lucien stellte seinen Landrover auf einem Parkplatz in der Nähe des Friedhofs ab, wo Marc Chagall begraben lag. Während er in den Ort hinauflief, dachte er an Francine, die auf diesem holprigen Untergrund besser keine Stöckelschuhe tragen sollte. Sie hatte ihn gefragt, wo er so dringend hinmüsse. Und hatte ihm offenbar geglaubt, dass sein plötzlicher Aufbruch nichts mit Edmond zu tun hatte. Francine konnte sich sogar an Carlotta auf der Beerdigung erinnern. Nicht ganz überzeugt schien sie, dass er tatsächlich einem Hilferuf seiner Cousine folgte und deshalb so eilig nach Saint-Paul-de-Vence müsse. Warum sonst hätte sie ihm viel Spaß gewünscht?

Auch Rosalie hatte ihn beim Abschied misstrauisch gemustert. Er solle nicht vergessen, dass Carlotta eine Verwandte sei. Er wisse, wie dieser Hinweis gemeint sei. Lucien war sich dagegen nicht so sicher, ob eine Cousine soundsovielten Grades … Er hatte den Gedanken nicht zu Ende geführt.

Er bog in eine Seitengasse und entdeckte Carlottas Galerie. Mit efeubewachsenen Mauern, blauen Fensterläden und einem kleinen runden Bistrotisch mit zwei Stühlen vor dem offenen Eingang. Très charmant .

Er klopfte gegen die Glasscheibe und trat ein.

»Carlotta, bist du da?«

Keine Antwort. Falls sie jetzt tot in der Ecke lag, käme er zu spät.

Er sah sich die aufgehängten Bilder an. Den Signaturen entnahm er, dass sie alle von Carlotta stammten. Sie stellte also nur ihre eigenen Werke aus. Im Stil waren sie ganz unterschiedlich – von abstrakten Gemälden bis hin zu dreidimensionalen Objekten mit Schwemmholz vom Strand. Sie gefielen ihm alle auf die eine oder andere Art.

»Du bist ja schon da«, rief von hinten eine Stimme. »Ich war nur schnell einen Kaffee trinken.«

»Hallo, Carlotta. Hast du keine Angst, dass dir jemand was klaut?«

»Nein, meine Bilder sind zu groß.«

Sie umarmte ihn. So fest, wie sie sich das auf dem Friedhof natürlich nicht getraut hatte. Das fühlte sich ausgesprochen gut an. Wobei ihm klar war, dass sie sich nicht aus Zuneigung so an ihn schmiegte, sondern weil sie gerade eine starke Schulter brauchte.

Er schob sie sanft von sich und blickte ihr ins Gesicht.

»Du schaust gar nicht so aus, als ob du Angst hättest.«

»Jetzt nicht mehr, du bist ja da.«

Sie schloss die Tür zur Galerie und hängte von innen ein Schild an die Scheibe: Fermée pour le moment.

»Also, erzähl!«, forderte er sie auf.

»Ein bisschen bin ich selbst schuld«, gab sie zu. »Ich hatte eine kurze Affäre mit einem gewissen Thibaut. Auf diesen Geistesgestörten hätte ich mich nie einlassen dürfen. Er kann nicht akzeptieren, dass ich von ihm nichts mehr wissen will. Jetzt macht er mir das Leben zur Hölle. Er bombardiert mich mit E-Mails und Textnachrichten, in denen er mir die schlimmsten Dinge androht …«

»Zum Beispiel?«

»Dass er mir beide Arme brechen würde, damit ich nicht mehr malen kann. Oder mir mit einer Rasierklinge … nein, ich kann’s nicht aussprechen.«

»Klingt wirklich nicht nett.«

»Thibaut ist gewalttätig, das habe ich selbst erlebt. Ich trau ihm alles zu.«

»Aber außer diesen Provokationen ist bislang nichts passiert, oder?«

»Doch, er hat mir in der Nacht aufgelauert und mich mit einem Messer bedroht. Es ist mir gelungen, wegzurennen. Er hat eine Stinkbombe in meine Galerie geworfen, er hat mein Auto angezündet …«

»Dein Auto? Woher weißt du, dass er es war?«

»Weil er es angekündigt hat, falls ich nicht wieder zu ihm zurückkehre.«

»Warum zeigst du ihn nicht bei der Polizei an? Stalking ist strafbar. Erst recht, ein Auto anzuzünden.«

»Das würde nichts bringen. Wer glaubt schon einer Italienerin? Außerdem ist Thibaut im Ort sehr beliebt. Er ist Installateur, jeder braucht ihn irgendwann. Und außerdem …« Sie schluckte. »Und außerdem war ich so blöd, alle Beschimpfungen und Drohungen sofort nach Erhalt zu löschen. Aus Wut. Ich könnte also nichts beweisen.«

»Das war wirklich blöd. Aber dieser Thibaut wird ja nicht aufhören …«

»Ganz sicher nicht.«

»Die nächsten Anfeindungen speicherst du. Dann hast du was in der Hand.«

Auch er selbst, dachte Lucien, würde gerne einen Beweis sehen. Schließlich kannte er Carlotta so gut wie gar nicht. Vielleicht bildete sie sich das alles nur ein? Oder sie spielte selbst ein doppeltes Spiel? Nach Chloé wollte er sich ersparen, schon wieder von einer Frau reingelegt zu werden.

»Mein ausgebranntes Auto kannst du dir anschauen. Steht im Hinterhof einer Werkstätte. Ist ein Elektroauto. Die Polizei geht von einem technischen Defekt aus.«

»Und du hast nicht gemeldet, dass du Thibaut im Verdacht hast?«

»Ich habe mich nicht getraut. Er könnte mich dafür umbringen.«

Er sah sie zweifelnd an. »Und was, schlägst du vor, soll ich jetzt tun?«

»Pass auf mich auf!«

Carlotta war eine Frau, dachte Lucien, bei der man gerne Leibwächter spielen würde. Im wahrsten Sinne des Wortes. Praktikabel war es aber nicht.

»Wie stellst du dir das vor? Ich kann ja nicht ewig hierbleiben.«

»Ist mir klar.« Sie wischte sich eine Träne von der Wange. »Ehrlich gesagt habe ich … habe ich gehofft, dass dir noch etwas anderes einfällt. Nach allem, was über die Chacarasse in der Familie so erzählt wird.«

»Was wird über uns erzählt?«

»Als dein Vater mal mit Tante Laetitia bei meinen Eltern zu Gast war, wurden sie in der Nacht von gewalttätigen Einbrechern überrascht …«

»Und?«

»Von den drei Männern konnte einer entkommen. Die beiden anderen waren tot.«

»Und du meinst, das war mein Vater?«

»So erzählt man sich.«

»Das kann ich mir nicht vorstellen, mein Vater war ein ausgesprochen friedfertiger Mensch.« Er wunderte sich selbst, wie leicht ihm das über die Lippen ging. »Aber selbst wenn«, fuhr er fort, »ich bin nicht mein Vater. Ich habe in Villefranche ein kleines Restaurant und kann schon nicht dabei zuschauen, wenn ein lebender Hummer in siedendes Wasser geworfen wird.«

»Könntest du nicht trotzdem versuchen, Thibaut ein kleines bisschen einzuschüchtern? Musst ihm ja nicht wehtun. Nur so viel, dass er mich in Zukunft in Ruhe lässt.«

Ihre Augen drückten so viel Hoffnung aus, dass er fast bereit war, einzuwilligen. Denn natürlich konnte man diesen Thibaut einschüchtern, ohne ihm körperlich wehzutun. Was aber, wenn er unschuldig war? Außerdem konnte keiner garantieren, dass er danach wirklich Ruhe gab.

»Carlotta, ich möchte dich heute Abend gerne ins La Colombe d’Or zum Essen einladen«, wechselte er unvermittelt das Thema. »Was hältst du davon?«

Sie rang sich ein Lächeln ab.

»Meinst du, damit lösen wir meine Probleme?«

»Ich muss darüber nachdenken. Auf nüchternen Magen kann ich das nicht. Anschließend bringe ich dich nach Hause. Für heute kannst du also unbesorgt sein.«

»Hört sich gut an. Natürlich lasse ich mich von dir gerne ins La Colombe d’Or einladen. Ist mir normalerweise zu teuer.«

»Falls ein Zimmer frei ist, übernachte ich auch dort.«

»Ich denke, du willst mich heimbringen?«

»Mache ich trotzdem. Hinterher gehe ich halt wieder zurück.«

»Ich habe ein Gästesofa, ich würde mich sicherer fühlen, wenn du bei mir übernachtest.«

Lucien zögerte. Ob das Gästesofa auch für ihn ausreichend sicher war? Ihm fiel Chloé ein, die damals noch Chantal hieß. Zugegeben, er hatte nicht viel Widerstand geleistet. Aber Carlotta war seine Cousine. Sie beide wussten es. Außerdem hatte sie wohl wirklich Angst.