L ucien hatte allen Grund, seinen »Ausflug« nach Saint-Paul-de-Vence in bester Erinnerung zu behalten. Auch würde er den ausgesprochen herzlichen Abschied am nächsten Morgen nicht so schnell vergessen.
Einige Tage waren seitdem vergangen. Von Carlotta wusste er, dass sich Thibaut nicht mehr hatte blicken lassen. Er hoffte, das blieb so. Denn er hatte wirklich wichtigere Dinge im Kopf, als sich mit einem durchgeknallten Stalker zu beschäftigen, der seiner Cousine das Leben schwer machte – sich hoffentlich aber jetzt mit einem eingegipsten Handgelenk nach einem neuen Wohnort umsah.
Francine und Rosalie gegenüber hatte er auf ihre Fragen nur angedeutet, dass er seiner Cousine hatte helfen können. Sie habe ein Problem mit ihrer Galerie gehabt. Es sei ein Leichtes gewesen, es aus der Welt zu schaffen. Mit dieser Erklärung, so schien es ihm, gaben sich die beiden zufrieden.
Lucien beschloss, Francine erneut ins P’tit Bouchon einzuladen. Diesmal zum Mittagessen. Dort könnte er in entspannter Atmosphäre das Gespräch behutsam auf ein Thema lenken, das ihm wie kein anderes am Herzen lag.
Francine sagte spontan zu. Weil sie sich erneut weigerte, auf der Vespa mitzufahren, seine Autos aber in der Garage standen, schlug sie der Einfachheit halber vor, ihn mit ihrem vor der Villa geparkten Alfa-Cabrio zu chauffieren.
Auf der kurzen Fahrt brachte er zweierlei in Erfahrung: Dass sie nämlich erstens sehr wohl in hochhackigen Schuhen fahren konnte, ohne sie auszuziehen. Wie das ging, war ihm ein Rätsel. Er konnte ja nicht mit dem Kopf zwischen ihre Beine kriechen und schauen, wie sie das mit den Pedalen hinbekam. Und zweitens stellte er fest, dass sie hinter dem Steuer ihre Zurückhaltung verlor und ähnlich Gas gab wie auf dem Zodiac. Noch kurz vor dem Ortsschild von Villefranche-sur-Mer überholte sie. Dass ein durchgezogener Strich dies eigentlich verbot, schien sie nicht zu interessieren. Da auch Lucien mit seiner Vespa die Verkehrsregeln flexibel interpretierte, hoffte er, dass sie sich im Straßenverkehr nie begegneten – auf der falschen Spur.
Im P’tit Bouchon angekommen, heil und unversehrt, freute sich Francine über das Tagesgericht. Als plat du jour empfahl Roland heute confit d’agneau à la provençale . Ein Schmorgericht vom Lamm mit Karotten, Tomaten, Knoblauch – und reichlich vin blanc . Rolands besonderer Trick war es, die Stücke der Lammschulter vor dem Anbraten mit Rosmarinhonig zu bestreichen. Das verlieh ihnen ein besonderes Aroma.
Von seinem etwas abseitsstehenden Stammtisch in der Ecke beobachteten sie, wie zwei betrunkene junge Männer herumgrölten, laut über ein älteres Ehepaar herzogen und die Bedienungen Inès und Adèle begrapschten. Lucien wollte gerade aufstehen, um die beiden Gäste höflich, aber bestimmt auf die Straße zu setzen, da tauchte aus der Küche Paul auf, von dem er immer noch nicht genau wusste, wie er mit Rosalie verwandt war. Dass er aber mal als Catcher gearbeitet hatte, musste man nicht wissen, das sah man ihm an. Paul warf ihm einen fragenden Blick zu. Lucien nickte und deutete zur Tür.
»Schmeißt er die beiden Rüpel jetzt raus?«, fragte Francine. »Hoffentlich gibt es keine Schlägerei.«
Lucien lächelte. »Hat es in meinem Restaurant noch nie gegeben. Mit mir hätten sich die beiden vielleicht angelegt. Paul strahlt eine natürliche Autorität aus. Ihm werden sie aufs Wort gehorchen.«
Tatsächlich muckten die beiden nur kurz auf. Dann zogen sie die Köpfe ein und ließen sich von ihm zum Ausgang begleiten.
»Manches Mal sind Muskeln doch von Vorteil«, stellte sie fest. »Du kannst dich glücklich schätzen, einen solchen Mitarbeiter zu haben.«
»Er ist ein Neffe von Rosalie«, sagte Lucien.
»Ich weiß.«
Wie konnte er glauben, dass sie das nicht wissen könnte?
»Er ist auch im Service perfekt.«
Wie zum Beweis ging Paul zu den beiden älteren Herrschaften und entschuldigte sich für die Unannehmlichkeiten. Sie hörten, wie er ihnen ein Dessert anbot, auf Kosten des Hauses.
»Ich sag’s ja, ist ein guter Mann.«
Er verschwieg, dass es Paul gewesen war, der ihm die Nachricht von der schweren Verletzung seines Vaters überbracht hatte. An jenem Tag, der ihrer beider Leben von Grund auf verändern sollte – weil an diesem Tag das Leben seines Vaters endete.
Während sie das Lammconfit aßen, sprachen sie zunächst über Belanglosigkeiten. Auch darüber, dass Rosalie dringend ein Hörgerät brauchte. Vor Kurzem, erzählte Francine, habe ihr die liebenswerte Haushälterin ein eau de toilette gebracht, dabei hatte sie um einen nettoyeur de toilette zur Reinigung des WCs gebeten.
Roland kam an den Tisch und holte sich sein verdientes Lob fürs confit d’agneau ab. Luciens Urteil schien ihn nicht zu interessieren. Ihm genügte es völlig, dass ihm Francine ein Lächeln schenkte und seine Kochkünste lobte.
Paul servierte ihnen das Dessert: crème brûlée à la lavande. Ein Klassiker. Nichts für Diabetiker. Der Lavendel immerhin sollte gut für die Gesundheit sein.
Er hatte sich, dachte Lucien, lange genug um das Thema gedrückt, weshalb er sie eigentlich eingeladen hatte. Kein leichtes Thema, denn er wollte mit ihr über den Tod seines Vaters sprechen. Er war nicht länger bereit, sein Ableben einfach so hinzunehmen. Ohne nachzufragen. Ohne die näheren Umstände zu kennen. Ohne zu wissen, wer den tödlichen Schuss abgegeben hatte. Wer für seinen Tod verantwortlich war.
»Francine, wir haben schon mal über den Tod meines Vaters gesprochen«, begann er vorsichtig. »Ich weiß nicht, ob das der richtige Moment ist …«
»Es ist nie der richtige Moment – und doch muss es vielleicht sein.«
»Ich hatte den Eindruck, du würdest wie ich gerne wissen, was passiert ist.«
Francine zögerte. »Ich bin mir nicht mehr so sicher. Vielleicht hat dein Onkel recht, und es ist besser, nicht daran zu rühren.«
Der Sinneswandel überraschte ihn. Er erinnerte sich an ihre geflüsterten Worte: »Auge um Auge, Zahn um Zahn«. Das hatte sich anders angehört.
»Edmonds Ratschläge interessieren mich nicht. Du hast gesagt, du wüsstest nicht, was der letzte Auftrag meines Vaters war, auf wen er angesetzt war. Ist dir vielleicht nicht doch noch was eingefallen?«
Sie schüttelte den Kopf. »Alexandre hat keine Andeutung gemacht, nicht die geringste. Du kannst mir glauben, ich würde mich daran erinnern.« Sie sah ihn fragend an. »Aber mir scheint, du hast etwas herausbekommen, habe ich recht?«
»Nicht wirklich. Habe ich dir schon von der Kamera erzählt, die ich in seinem Citroën gefunden habe?«
Francine hob die Augenbrauen. »Eine Kamera? Nein, von der weiß ich nichts.«
»Auf ihr sind einige wenige Fotos gespeichert. Sie wurden leider aus großer Entfernung aufgenommen und sind stark verpixelt. Auf einem Bild ist ein Mann mit Strohhut zu sehen. In einem Lehnstuhl auf einer Dachterrasse. Die Qualität ist zu schlecht, als dass man ihn erkennen könnte. Auf zwei weiteren Bildern ist ein bulliger Mann zu sehen, mit einer Militärweste und einem Barett schräg auf dem Kopf. Er steht schräg hinter dem Alten. Aber auch sein Gesicht ist völlig unscharf.«
Lucien spürte, dass er Francines volle Aufmerksamkeit hatte.
»Gib die Fotos einem Spezialisten! Es gibt Programme, mit denen man die Bildqualität verbessern kann.«
»Habe ich schon gemacht. Die Gesichter sind immer noch nicht zu erkennen. Keine Chance.«
»Trotzdem würde ich mir die Fotos gerne mal anschauen.«
Lucien holte sein Smartphone aus der Tasche und öffnete eine Bilddatei.
»Hier sind sie. Bereits in der optimierten Version.«
Auf Francines Stirn bildeten sich zwei steile Falten. Konzentriert blickte sie auf das Display. Sie scrollte zwischen den Fotos hin und her. Mit den Fingern vergrößerte sie den Ausschnitt.
»Schade. Die Gesichter sind wirklich nicht zu erkennen. Der Mann mit dem Strohhut könnte das Zielobjekt gewesen sein. Der Typ hinter ihm wirkt wie ein Leibwächter.«
»Habe ich auch schon gedacht. Außer der Kamera habe ich im Fußraum des Citroëns auch das Handy meines Vaters gefunden. Ich habe gestern den Akku geladen, aber ich kann es nicht öffnen. Kennst du den Code?«
»Ich denke schon.«
Er reichte ihr das Handy.
Sie tippte die Ziffern ein. Bling.
»Schon offen. Aber …« Sie schob mit dem Finger auf dem Display herum. »Aber es ist nichts drauf. Die Dateien sind alle gelöscht. Keine abgespeicherten Telefonate, keine Textnachrichten, keine Bilder … kein gar nichts. Das verstehe ich nicht.«
»Aber ich«, sagte Lucien. »Mein Vater hat mir wenige Tage vor seinem Tod von einer neuen App vorgeschwärmt, die eigentlich fürs Militär entwickelt wurde. Werden keine gegenteiligen Befehle eingegeben, löscht diese App nach vierundzwanzig Stunden automatisch alle Inhalte. Auf Nimmerwiedersehen. Ich wusste nicht, dass er sie schon installiert hat.«
»Das sieht ihm ähnlich. Er war übervorsichtig.«
»Leider, deshalb hilft uns das Handy nicht weiter.«
Sie drehte nachdenklich ihr Glas.
»Vielleicht ist das ein Zeichen? Hätte Alexandre gewollt, dass wir seinen Tod aufklären, würde er es uns nicht so schwer machen.«
Ein Zeichen? Nach seinem Tod, sozusagen aus dem Jenseits? Lucien glaubte nicht an solche übersinnlichen Botschaften. Sein Vater hatte schlicht nicht damit gerechnet, dass ihm etwas zustoßen könnte.
»Zumindest hatte es für ihn keine Priorität«, sagte er. »Sonst hätte er mir auf seinem Sterbebett einen Hinweis gegeben.«
Für diesen einen Satz, dachte Lucien, hätte seine Kraft noch gereicht.
»Alexandre hat dich nicht gebeten, ihn zu rächen?«
»Nein, hat er nicht. Wichtiger war ihm mein Versprechen, das Erbe der Chacarasse fortzusetzen. Ich sollte es ihm schwören …«
»Was du getan hast?«
»Ja, aber das weißt du ja.«
»Was waren seine letzten Worte?«, fragte sie zögerlich.
Hoffte sie, dass sie ihr gegolten hatten?
»Merci, mon fils. Que Dieu te bénisse!«, sagte er wahrheitsgemäß. Der Satz hatte sich für immer in sein Gedächtnis eingebrannt.
Sie nickte. »Wie schön, aber auch eine Bürde.«
Dass Gott ihn segnen sollte, empfand er nicht als Bürde. Das Versprechen aber, da hatte Francine recht, umso mehr.
»Ich frage mich«, ging er nicht darauf ein, »wie das in meiner Familie früher gehandhabt wurde. Mein Vater wird nicht der erste Chacarasse gewesen sein, der in Ausübung seines Berufes den Tod gefunden hat. Wurde der Tod meiner Vorfahren nicht gerächt?«
»Kann ich mir nicht vorstellen. Deine Vorfahren waren keine Lämmer. Natürlich hätten sie sich gerächt.«
»Dann hätte mich Edmond dazu auffordern müssen«, überlegte Lucien laut. »Aber er scheint kein Interesse daran zu haben, seinen Bruder zu rächen.«
Sie sprachen nicht weiter, weil Paul an den Tisch kam und fragte, ob er ihnen noch eine kleine Käseauswahl servieren dürfe.
Francine winkte dankend ab. »Non, merci . Ich kann nicht mehr.«
Auch Lucien verzichtete darauf. Ihm war wichtiger, ihr Gespräch fortzusetzen.
»Deinem Onkel solltest du mit Vorsicht begegnen«, fuhr Francine fort, sobald sie wieder unter sich waren. »Alexandre war auf seinen Bruder nicht gut zu sprechen. Er hat ihm nicht vertraut.«
Welche Gründe könnte es für Edmond geben, dachte Lucien, den Tod an seinem Bruder einfach so hinzunehmen? Weil er froh war, ihn los zu sein? In der Hoffnung, seinen Sohn leichter manipulieren zu können? Oder weil er Dinge wusste, die er besser für sich behielt?
»Ich werde ihn erneut auf den letzten Auftrag meines Vaters ansprechen«, sagte er. »Als Sohn ist es mein Recht, die Hintergründe zu erfahren. Es ist meine Entscheidung, wie ich damit umgehe.«
»Ja, mach das! Zeig ihm die Fotos von diesem Mann auf der Terrasse. Und lass dich von ihm nicht abwimmeln!«
»Ich könnte Edmond ja androhen, ihn anderenfalls mitsamt seinem Rollstuhl über die Klippen ins Meer zu schieben.«
»Die Drohung würde er nicht ernst nehmen. Dazu glaubt er, dich gut genug zu kennen.«
»Wenn er sich da mal nicht täuscht«, sagte Lucien.
»Du musst mir was versprechen.«
»Es nicht zu tun?«
»Nein, tust du eh nicht. Aber wenn du je herausbekommst, wer Alexandre erschossen hat, will ich es wissen.«
Er benötigte einen Moment Bedenkzeit.
»Ja, versprochen«, stimmte er schließlich zu – mit dem Hintergedanken, dass es ihm überlassen blieb, wann er es ihr sagte.