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D as Gewehr in der grünen Angelrutentasche auf dem Rücken, fuhr Lucien mit der Vespa einige Straßen weiter an dem Gebäude mit dem Penthouse vorbei. In langsamer Fahrt, um sich einen Eindruck zu verschaffen. Was er sah, war eine »Privatvilla« der besonderen Art: ein großer Kubus, gebaut wie eine moderne Festung. Im Erdgeschoss nur winzige Fenster, die an Schießscharten erinnerten. Dafür Kameras an jeder Ecke. Eine Eingangstür aus Stahl. Und eine Rampe zur Tiefgarage, die mit Sperren gleich mehrfach gesichert schien. Hier hatte jemand entweder eine ausgeprägte Paranoia – oder gute Gründe, ungebetene Besucher von sich fernzuhalten. Lucien war klar, dass er kein Namensschild finden würde. Aber immerhin kannte er jetzt die genaue Adresse.

Er gab Gas und verließ Cimiez, am Musée Marc Chagall vorbei Richtung Villefranche. Dabei dachte er an seinen Vater, der dieselbe Strecke schwer verletzt zurückgelegt haben musste. Ob ihm klar gewesen war, dass er nicht mehr lange zu leben hatte? Es war ausschließlich der Nähe des Attentats zu verdanken, dass er es bis zurück zur Villa Béatitude schaffen konnte. Von Cannes zum Beispiel oder von Antibes wäre er unterwegs hinter dem Lenkrad zusammengebrochen und irgendwo am Straßenrand jämmerlich verreckt. Immerhin hatte er so einen würdigen Abschied gefunden. In seinem eigenen Bett, umsorgt von Rosalie und betreut von seinem Leibarzt Moreau. Die Schmerzen gelindert mit Morphium. Bei zugezogenen Damastvorhängen und Kerzenschein. Begleitet von Klängen seines Lieblingskomponisten Chopin. Und … in den letzten Minuten … in Anwesenheit seines Sohnes. Lucien erinnerte sich an die kalten Hände seines Vaters. An seinen rasselnden Atem. Und … an sein gegebenes Versprechen. Aber auch daran, dass sein Vater ihn mit keinem Wort aufgefordert hatte, ihn zu rächen. Er erinnerte sich an das eingetrocknete Blut seines Vaters auf dem Hausdach. Und auf dem Fahrersitz des Citroëns. Den Tod seines Vaters konnte er nicht ungeschehen machen. Aber er würde den Täter ausfindig machen und ihn zur Rechenschaft ziehen. Auf welche Weise auch immer. Von diesem Vorsatz würde er sich nicht abbringen lassen.

In der Villa Béatitude angekommen, ging er zunächst hinunter in die Katakomben, um das Gewehr zu verstauen. Gleich danach suchte er Rosalie auf.

»Na, mein Lieber, hast du den petit éléphant gefunden?«, fragte sie.

Wieder einmal stellte er fest, dass er für Rosalie wie ein offenes Buch war. Denn er hatte ihr nicht gesagt, warum er für einige Stunden außer Haus gewesen war.

Er nickte. »Ja, habe ich. Danke, dass du dich an ihn erinnert hast.«

»Natürlich, ich erinnere mich an fast alles. Sogar an dein Versprechen, mit mir zu meinem Laden mit den Gesundheitstees zu fahren.«

»Ich habe es nicht vergessen.«

»Dann ist ja gut. Aber vorher willst du herausfinden, warum dein Vater ausgerechnet dort geparkt hat. Stimmt’s?«

»Richtig.«

Rosalie legte den Kopf zur Seite und musterte ihn.

»Und? Weißt du es jetzt?«

Lucien entschied, dass er es ihr ruhig andeuten konnte.

»Ich denke schon.«

»Hat das mit seinem Unfall zu tun? Ist es dort in der Nähe geschehen?«

Unfall? So konnte man den Schuss in den Rücken auch bezeichnen. Klang weniger dramatisch.

»Sieht ganz so aus«, bestätigte er. »Und um deiner nächsten Frage zuvorzukommen: Ja, ich habe eine Vorstellung davon, was passiert ist.«

»Und jetzt? Was wirst du tun?«

Er zuckte ratlos mit den Schultern. »Wenn ich das wüsste.«

»Sprich mit Francine darüber. Sie wird wissen, was richtig ist.«

»Das, meine liebe Rosalie, werde ich unter Garantie nicht tun. Die Entscheidung muss ich allein treffen. Ich bitte dich auch, ihr nichts von unserem Gespräch zu erzählen.«

»Aber nur dann, wenn du mir versprichst, nichts Unüberlegtes zu tun.«

»Wo ist sie eigentlich?«

»Du sollst mir nicht ausweichen! Versprich mir, dass du über deine nächsten Schritte genau nachdenkst.«

»Das mache ich ganz sicher.«

»Francine ist vor einer Stunde gefahren. Sie habe einen Termin bei einem Juwelier in Monte Carlo, soll ich dir ausrichten. Morgen Vormittag will sie wieder im bureau sein.«

Demnach ging es mit dem Verkauf der Diamanten voran, dachte er.

»Ich schau mal, ob Edmond für mich Zeit hat«, sagte er nach einer Weile. »Ich hätte da einige Fragen.«

»Auf die er dir im Zweifelsfall keine Antworten gibt. Erwarte also nicht zu viel.«

»Du kennst ihn gut.«

»Besser, als mir lieb ist.«

»Wie meinst du das?«

Rosalie verzog das Gesicht. »Auch ich habe meine Geheimnisse.«

Im Grunde war Lucien froh, von Edmond schon länger nichts mehr gehört zu haben. Dass er jetzt selbst die Initiative ergriffen hatte, widerstrebte ihm eigentlich. Aber es musste sein.

Am späten Nachmittag saßen sie sich im Pavillon gegenüber. Natürlich bei einer Tasse Tee. Und mit Calissons, den Mandelplätzchen aus Aix-en-Provence, die in ihrer Form an Weberschiffchen erinnerten. Überflüssigerweise erzählte ihm sein Onkel die Geschichte, dass die Calissons im 15 .Jahrhundert von einem Koch zur Hochzeit des Herzogs René von Anjou erfunden worden waren. Weil die Braut so traurig dreingeschaut habe. Als ob ihn das interessieren würde. Falls die Calissons allerdings in der Lage waren, Edmonds Zunge zu lösen, sollte ihm das recht sein.

»Worüber wolltest du mit mir reden?«, fragte Edmond. »Sehnst du dich nach einem neuen Auftrag?«

War das ironisch gemeint? Sein Onkel wusste genau, dass ihm das Erbe der Chacarasse kein Vergnügen bereitete.

»Ich möchte mit dir über den Tod meines Vaters sprechen …«

Edmond winkte energisch ab. »Kannst du gleich vergessen. Ich habe dir schon mal gesagt, dass du von mir nichts erfahren wirst. Tote sollte man ruhen lassen. Auch im Falle von Alexandre. Qu’il repose en paix. «

»Weil du mich schützen willst, hast du mal behauptet. Deshalb würdest du mir nichts über die Hintergründe sagen.«

»Habe ich das gesagt? Dann wird es wohl stimmen.«

»Du musst mich nicht schützen, ich kann gut auf mich aufpassen.«

»Mag sein. Aber ich werde dir trotzdem nichts sagen. Ich verrate nie unsere Auftraggeber, das weißt du. Alexandre kannte sie auch nicht. Das waren die Regeln, an die haben wir uns gehalten.«

»Was ist mit der Person, die er liquidieren sollte? Den Namen hat er ja wohl gekannt.«

Edmond lächelte schief. »Er schon, c’est évident . Aber dich geht er nichts an. Der Auftrag ist abgeschlossen.«

»Ist er nicht. Denn die Zielperson lebt.«

Lucien konnte ihm seine Überraschung ansehen. Auch wenn er diese zu verbergen suchte.

»Woher willst du das wissen?«

»Weil ich den Mann erst heute Mittag gesehen habe. Er erfreut sich bester Gesundheit.«

»Du bluffst.«

»Ich hab sogar ein Foto von ihm.«

»Glaube ich nicht.«

Lucien hielt ihm sein Handy hin. Mit dem Foto von der Kamera seines Vaters.

Edmond kniff die Augen zusammen. Wahrscheinlich brauchte er seine Lesebrille.

»Der Mann mit dem Strohhut«, sagte Lucien leise. »Auf der Terrasse seines Penthouses in Cimiez.«

Edmonds Reaktion ließ auf sich warten. Wortlos starrte er auf das Foto. Schließlich schob er das Handy zur Seite.

»Und? Habe ich geblufft?«, fragte Lucien.

»Offenbar nicht«, gab Edmond widerstrebend zu. »Wie hast du ihn gefunden?«

»War nicht schwer.«

Dass ihm der Zufall in Gestalt eines blauen Elefanten zu Hilfe gekommen war, behielt er für sich.

»Was weißt du sonst noch?«

»Warum soll ich dir das sagen? Du sagst mir ja auch nichts.«

Edmond nahm einen Schluck Tee. Seine Hand zitterte leicht.

»Dann frage ich mal anders: Was willst du jetzt tun?«

»Ich werde den Auftrag zu Ende bringen.«

Das allerdings war nun tatsächlich ein Bluff.

»Den Auftrag gibt es nicht mehr. Das Honorar habe ich zurücküberwiesen. Kusnezow geht uns nichts mehr an.«

Lucien unterdrückte ein Lächeln. Jetzt war ihm der Name doch herausgerutscht. Darauf hatte er gehofft.

»Was ist mit unserem Ruf? Haben denn die Chacarasse bisher nicht jeden Job zur Zufriedenheit ihrer Auftraggeber erledigt?«

»Unser Ruf ist über Jahrhunderte gefestigt. Dass es in unserem Gewerbe auch mal Rückschläge gibt, dürfte jedem klar sein.«

Rückschläge? Der Tod seines Vaters war in seinen Augen sehr viel mehr.

»Soll ich Kusnezow ungeschoren davonkommen lassen?«

Lucien verwendete den Namen so selbstverständlich, als ob er ihm schon lange geläufig wäre.

»Vielleicht erledigt jemand anderer unseren Job?«, gab Edmond zu bedenken. »Sein Heimatland ist sehr nachtragend.«

»Warum lässt Russland ihn nicht vom eigenen Auslandsgeheimdienst ausschalten?«, wagte Lucien einen Schuss ins Blaue. Beim Namen Kusnezow schien ihm diese Schlussfolgerung naheliegend. »Die sind ja auch sonst nicht zimperlich.«

»Wie kommst du auf Russland? Du weißt eben doch nicht alles. Der Auftrag kam aus einer der ehemaligen asiatischen Sowjetrepubliken, die im Westen nicht so gut aufgestellt sind wie der Kreml. Auch verfügen sie über kein Polonium-210

Lucien wusste, worauf sein Onkel anspielte. Mit dieser radioaktiven Substanz waren schon einige Attentate verübt worden.

»Dazu brauchte es einen direkten Körperkontakt. Das würde eh nicht funktionieren, weil sich Kusnezow in den obersten Etagen seines Hauses verschanzt hat …«

Auch diese Interpretation lag für Lucien auf der Hand.

»… und sein Haus nie verlässt, ich weiß. Aber es macht keinen Sinn, dass wir uns weiter darüber unterhalten. Alexandres Tod gehört zum Berufsrisiko der Chacarasse. Es bleibt uns nur, sein Ableben in Demut und mit Trauer hinzunehmen.«

Lucien mochte es nicht, wenn sich Edmond so salbungsvoll ausdrückte. Weil es nicht ehrlich schien.

»Das kann ich nicht«, sagte Lucien.

»Du wirst es können müssen. Alexandre ist tot. Wir können ihn nicht mehr zum Leben erwecken. Außerdem weißt du gar nicht, wer ihn auf dem Gewissen hat.«

»Doch, ich weiß es«, flüsterte Lucien, an den bulligen Leibwächter denkend. Wobei ihm klar war, dass er keine Gewissheit hatte. Aber sein Bauchgefühl hatte noch selten getrogen.

Edmond hielt eine Hand ans Ohr. »Was hast du eben gesagt?«

»Rien, rien du tout!«