D ass er mal die Polizei um Hilfe bitten könnte, wäre Lucien zuvor nicht im Traum eingefallen. Aber eine andere Möglichkeit sah er nicht. Auf seinem Monitor erkannte er, dass die Männer die Montage des Granatwerfers offenbar abgeschlossen hatten. Gerade hoben sie ihn auf ein dreibeiniges Untergestell. Die Zeit lief ihm davon.
»Salut, Lucien«, meldete sich Capitaine Achille Giraud am Telefon. »Was verschafft mir die Ehre deines Anrufs? Willst du mich zum Abendessen einladen?«
»Achille, ich habe jetzt keine Zeit für Erklärungen«, antwortete Lucien kurz angebunden. »Aber du musst sofort aktiv werden.«
»In fünf Minuten habe ich Dienstschluss …«
»Gerade beobachte ich, wie in Cimiez ein terroristischer Angriff vorbereitet wird«, fiel er ihm ins Wort.
»Nimmst du mich auf den Arm? Mit so was macht man keine Späße.«
»Ist mein bitterer Ernst. Zwei Männer haben auf einem Hausdach einen Granatwerfer in Stellung gebracht. Das Ziel kenne ich nicht, aber sie scheinen ihre Vorbereitungen abgeschlossen zu haben. Womöglich bleiben uns nur noch wenige Minuten, um den Anschlag zu verhindern.«
»Ein Granatwerfer? In Cimiez? Nur noch wenige Minuten …«, stammelte Achille.
»Du musst sofort ein Sondereinsatzkommando losschicken und das Dach stürmen lassen.«
Lucien wusste um die Schlagkraft der Groupe d’intervention de la Gendarmerie nationale, kurz GIGN . Spätestens seit dem Terroranschlag von 2016 auf der Promenade des Anglais war sie auch in Nizza in ständiger Alarmbereitschaft.
»Du bist dir mit dem Granatwerfer hundertprozentig sicher?«
»Ja, bin ich. Jetzt mach nicht lange herum und alarmiere die GIGN . Die Zieladresse habe ich nicht, aber ich schicke dir die GPS -Koordinaten auf dein Handy.«
Lucien konnte sie auf dem Display der Drohnenfernsteuerung ablesen.
»GPS -Koordinaten, ich … ich verstehe …«
Leider schien Achille heute etwas langsam von Begriff.
»Alerte rouge!«, schrie ihn Lucien an. »Gib sofort den Einsatzbefehl!«
»Mache ich doch. Du sagtest Cimiez?«
»Ja, verdammt noch mal. Die Koordinaten bekommst du in den nächsten Sekunden. Halt, und noch was: Wir haben nie miteinander gesprochen. Du hast einen anonymen Hinweis aus der Bevölkerung bekommen.«
»Meinetwegen. Wo bleiben die Koordinaten?«
»Sind schon unterwegs.«
Der Capitaine der Gendarmerie legte auf. Lucien atmete tief durch.
Die Kamera der Drohne zeigte, wie die beiden Männer hektisch am Granatwerfer herumhantierten. Es machte den Eindruck, als ob sie ein technisches Problem hätten. Hoffentlich brauchten sie eine Weile, es zu beheben.
Auf dem Display begann ein roter Punkt zu blinken. Quel dommage, die Batteriekapazität der Drohne neigte sich dem Ende zu. Ungeachtet dessen beließ er sie auf ihrer Position. Etwas musste sie noch durchhalten.
Mit dem Fernglas kontrollierte er das Penthouse. Kusnezow war wieder hinaus auf die Terrasse getreten und unterhielt sich Zigarre rauchend mit einem anderen Mann.
Zurück zur Kamera und dem Display. Die beiden Angreifer schienen ihr Problem gelöst zu haben. Jetzt waren sie offenbar mit der exakten Ausrichtung des Granatwerfers beschäftigt. Die Bestimmung von Winkelgrad und Entfernung konnte etwas dauern – hoffentlich lange genug.
Der rote Punkt auf dem Display blinkte schneller. Im schlimmsten Fall, überlegte Lucien, ging der Drohne der Saft aus, und sie stürzte aus großer Höhe vertikal auf die Männer. Schade um den Quadrocopter … Aber sein Absturz würde die Männer aus dem Konzept bringen … Eine vielleicht entscheidende Verzögerung bis zum Eintreffen des Einsatzkommandos.
Wo verdammt noch mal blieben die Spezialkräfte der GIGN ?
Lucien vergrößerte den Blickwinkel der Kamera. Die Männer und der Granatwerfer auf dem Display wurden kleiner, dafür kamen jetzt auch die angrenzenden Straßen ins Bild. Gerade rechtzeitig, um gepanzerte Fahrzeuge zu sehen, die unten vorfuhren. Männer mit Waffen sprangen heraus … Er hörte das Rotorengeräusch eines Helikopters, das rasch lauter wurde …
Lucien nickte. Achille Giraud hatte ihm geglaubt. Der rote Punkt auf dem Display, der die Batteriekapazität der Drohne anzeigte, leuchtete jetzt unablässig. Was wahrscheinlich bedeutete, dass gleich Schluss war. Zwar hätte er gerne beobachtet, wie die Männer auf dem Dach von den Spezialkräften außer Gefecht gesetzt wurden, aber eine Notwendigkeit dafür bestand nicht. Klüger war es, sich sofort zurückzuziehen – bevor die Drohne noch mit dem Helikopter kollidierte oder eben doch noch abstürzte. Er programmierte den Befehl, im Energiesparmodus auf direktem Weg zum Ausgangspunkt zurückzukehren, und hoffte, dass sie es schaffte. Irgendwie war ihm das Teil in der kurzen Zeit ans Herz gewachsen.
Als er keine zehn Minuten später sein Dach verlassen hatte und sich mit der Vespa auf den Heimweg machte, wurde er an einer Straßensperre aufgehalten. Das musste man der Gendarmerie lassen: Im Notfall arbeitete sie schnell und effektiv. Eine Professionalität, die man ihr sonst nicht immer zubilligte. Weil er in seinen Freizeitklamotten nicht gerade wie ein Terrorist aussah und sogar seinen Helm vorschriftsgemäß aufhatte, musste er nur freundlich lächeln – und wurde durchgewunken. Nach Villefranche und Cap Ferrat war es nicht weit. Doch blieb ihm genug Zeit, die vergangenen Geschehnisse Revue passieren zu lassen. Letztlich konnte er ein positives Fazit ziehen: Zwar hatte er nur einige dumpfe Schüsse gehört, aber das Killerkommando war ganz sicher außer Gefecht gesetzt worden. Kusnezow und seine Leute dürften von der Aktion einige Straßen weiter nicht viel mitbekommen haben und wiegten sich in Sicherheit. Eine trügerische Sicherheit, denn Lucien hatte es mehr denn je auf sie abgezielt. Ihm war klar, dass er sich beeilen musste. Im ungünstigsten Fall bekam die Gendarmerie heraus, auf wen es die Männer mit dem Granatwerfer abgesehen hatten. Freiwillig erzählen würden sie es wohl kaum. Aber die Situation könnte sehr schnell seiner Kontrolle entgleiten. Zum positiven Fazit gehörte auch, dass sich im Rucksack eine unversehrte Drohne befand, die es mit letzter Kraft und kurzen Rotorenaussetzern bedenklich taumelnd zu ihm zurückgeschafft hatte. Fast hätte er die Drohne zum Empfang gestreichelt wie eine streunende Katze, die man schon aufgegeben hatte.
Kaum war er in der Villa Béatitude eingetroffen, Francine und ihr roter Alfa waren nicht mehr da, rief Achille Giraud auf seinem Handy an. Lucien entschuldigte sich bei Rosalie, die neben ihm stand, und nahm das Gespräch entgegen.
»Lucien, ich bin noch völlig durch den Wind. Wie es scheint, haben wir wirklich im letzten Moment einen Anschlag verhindert …« Der Capitaine rang nach Luft. »Die Terroristen konnten von unseren Spezialkräften überwältigt werden. Das heißt, einer ist tot und der andere nicht vernehmungsfähig. Die Schweine hätten ja keinen Widerstand leisten müssen …«
Um die beiden tat es Lucien nicht leid. Wer einen Granatwerfer in Stellung brachte, war auf keiner Friedensmission. Immerhin konnten sie so nicht ausplaudern, auf wen sie es abgesehen hatten.
»In der Nähe ist ein Botschaftsgebäude, in dem gerade ein Diplomatenempfang stattfindet. Wir gehen davon aus, dass es die Attentäter auf dieses Ziel abgesehen hatten …«
Wäre sogar möglich, dachte Lucien, aber er glaubte, es besser zu wissen.
»Die Terroristen waren wohl Russen«, fuhr der Capitaine wie zur Bestätigung fort. »Aber genau wissen wir das noch nicht.«
Irrtum, dachte Lucien, sie kamen ganz sicher aus einer angrenzenden ehemaligen Sowjetrepublik. Er wusste sogar, aus welcher.
»Ich gratuliere«, sagte Lucien. »Gut, dass du so schnell reagiert hast.«
»Ja, Gott sei Dank. Nicht auszudenken, was hätte passieren können …«
»Danke, dass du mich gleich informiert hast. Dann will ich dich nicht länger aufhalten. Hast ja sicher gerade viel zu tun.«
»Halt, stopp, nicht auflegen. Du musst mir sagen, wie du die Attentäter entdeckt hast.«
»Muss ich dir nicht sagen. Du hast einen anonymen Hinweis aus der Bevölkerung bekommen, schon vergessen?«
»Das ist die offizielle Version, meinetwegen. Aber wir beide wissen es besser.«
»Reiner Zufall.«
»Unsinn, du verschweigst mir was.«
»Das mit dem Zufall stimmt schon.« Lucien zögerte. »Was ich dir jetzt erzähle, muss unser Geheimnis bleiben.«
»Kommt darauf an.«
»Du musst wissen, unsere Haushälterin, die liebe Rosalie, hat demnächst Geburtstag.«
Weil sie neben ihm stand, legte er ihr einen Finger auf den Mund, damit sie ihm nicht gleich laut vernehmlich ins Wort fiel.
»Was hat deine Rosalie mit dem Attentat zu tun?«
»Sie ist in Cimiez geboren und aufgewachsen …«
Rosalie schüttelte den Kopf.
»Ich will sie mit einem kleinen Film überraschen. Deshalb bin ich heute mit einer Drohne über Cimiez geflogen und habe Luftaufnahmen gemacht. Auch von ihrem Elternhaus und vom Park, in dem sie als Kind so gerne gespielt hat.«
Rosalie zeigte ihm einen Vogel.
»Lucien, du strapazierst meine Nerven«, sagte Achille. »Komm endlich auf den Punkt! Hier ist gerade der Teufel los, und du erzählst mir von einem Film, den du deiner Haushälterin zum Geburtstag schenken willst … Außerdem ist es verboten, mit einer Drohne unangemeldet über einem Wohngebiet herumzufliegen«, fiel ihm noch ein.
»Auch deshalb muss es unser Geheimnis bleiben. Jedenfalls habe ich plötzlich auf einem Hausdach die beiden Männer mit einem schweren Kriegsgerät entdeckt. Reiner Zufall. Ich bin näher rangeflogen und habe gesehen, dass es sich um einen Granatwerfer handelte.«
»Woher weißt du, wie ein Granatwerfer aussieht?«
»Aus dem Fernsehen. Jedenfalls habe ich es als meine Pflicht angesehen, dich sofort anzurufen und eine Katastrophe zu verhindern.«
»Das ist wirklich die Wahrheit? Mehr weißt du nicht?«
»Natürlich nicht.«
»Es fällt mir schwer, dir zu glauben. Erst zauberst du ein verschwundenes Collier herbei, jetzt entdeckst du per Zufall zwei Attentäter.«
»Schade, dass ich die Szene nicht gefilmt habe, sonst könnte ich sie dir vorspielen. Aber aus dem Geburtstagsfilm für Rosalie hätte ich sie in jedem Fall rausschneiden müssen, so was gehört nicht rein.«
»Lucien, wenn das alles stimmt, hättest du dir einen Orden verdient.«
»Kannst du entgegennehmen, für dein schnelles und entschlossenes Handeln.«
»Ich muss auflegen, der Polizeichef will mich sprechen.«
»Viel Vergnügen, und denk daran, es gab einen anonymen Hinweis aus der Bevölkerung.«
Als Lucien das Gespräch beendet hatte, zeigte ihm Rosalie erneut einen Vogel.
»Du redest ganz schön viel Unsinn, wenn der Tag lang ist«, stellte sie fest. »Erstens ist es bis zu meinem Geburtstag noch lang hin, zweitens bin ich nicht in Cimiez geboren, was du wissen solltest. Viertens möchte ich keinen Film geschenkt bekommen …«
Lucien grinste. »Was ist mit drittens?«
»Drittens? Ach so, kommt schon noch. Drittens hast du dir die Geschichte mit den beiden Männern auf dem Hausdach wahrscheinlich ausgedacht. Oder … oder …« Sie sah ihn fragend an. »Oder die Männer haben was mit dem blauen Elefanten zu tun und mit dem Tod deines Vaters. Könnte das sein?«
»Nein, haben sie nicht. Es war wirklich Zufall, dass ich sie entdeckt habe.«
»Dein Vater hat immer gesagt, Zufälle gibt es nicht.«
»Ich bin anderer Ansicht. Ich glaube, das Leben besteht fast nur aus Zufällen.«