A m Abend saß Lucien in Villefranche auf seinem Balkon. Das P’tit Bouchon würde heute ohne ihn auskommen müssen. Er wäre nicht fähig, sich auf die Alltäglichkeiten seines Restaurants zu konzentrieren. Nicht an einem Tag wie heute. Er wollte keine Gäste sehen oder gar mit ihnen höflich belanglose Worte wechseln. Auch interessierte ihn nicht, was Roland in seiner Küche zusammenrührte. Den Service wusste er bei Paul in guten Händen. Viel konnte nicht schiefgehen – nicht mehr als sonst auch.
Lucien schloss die Augen und ließ die Geschehnisse der letzten Stunden Revue passieren. Zunächst war alles nach Plan gelaufen. Auch der Trick, seine Drohne quasi als »Lockvogel« einzusetzen, hatte funktioniert. Und dann … dann war alles anders gekommen als erwartet. Statt des von ihm verdächtigten Leibwächters war Kusnezow persönlich aufgetaucht. Eine faustdicke Überraschung. Aber eine, die im Ergebnis zweifelsfrei offenbarte, wer für den Tod seines Vaters wirklich verantwortlich war. Wenn man so wollte, ein direkter Rollentausch: Das Opfer war zum Jäger geworden und der Jäger zum Opfer.
Lucien empfand Genugtuung, dass er Kusnezow dazu gebracht hatte, den Mord an seinem Vater zu gestehen. Mord? Ja, denn ein Schuss in den Rücken war heimtückisch und grausam. Auch wenn sein Vater das Gleiche vorgehabt hatte – ein Schuss über große Entfernung. Ebenfalls mit der Absicht, ein Leben auszulöschen. Kusnezows Leben. Moralisch erkannte Lucien keinen großen Unterschied. Sein Vater hätte gegen Bezahlung gemordet, Kusnezow war dem zuvorgekommen und hatte Gleiches mit Gleichem vergolten. Vielleicht war dessen Motiv sogar nachvollziehbarer, weil es ja schließlich um seinen eigenen Kopf ging. Wenn man so wollte eine erweiterte Form der Selbstverteidigung. Seinem Vater dagegen war es »nur« darum gegangen, einen Auftrag auszuführen. Mit geschäftsmäßiger Routine, mit Vertrag und geregeltem Honorar. Kein Verteidiger würde auf mildernde Umstände plädieren. Auch wäre die Entschuldigung nicht strafmindernd, dass die Chacarasse dies eben schon seit Generationen so betrieben. Halt ein Familienerbe, das jedem Nachfahren bereits in die Wiege gelegt wurde. Faktisch müssten alle seine Vorfahren im Nachhinein zur Höchststrafe verurteilt werden, überlegte Lucien. Früher hätte man ihnen unter der Guillotine den Kopf abgeschlagen. Vielleicht war es sogar mal geschehen? In der Familienchronik stand nichts davon. Womöglich aber hatte man dieses Kapitel diskret unterschlagen.
Lucien stellte fest, dass er sich mit seinen Gedanken von dem entfernte, was ihm eigentlich wichtig war: nämlich die Geschehnisse des zurückliegenden Tages zu verarbeiten. Schuldfrage hin oder her. Einen entscheidenden Unterschied gab es eben doch: Kusnezow hatte nicht irgendjemanden erschossen, sondern seinen Vater – und er hatte es gestanden. Laut und vernehmlich!
Und dann? Ab da war nichts mehr nach Plan gelaufen. Wobei er sich erneut selbstkritisch die Frage stellte, an welchen Plan er gerade dachte. Schließlich hatte er nie weiter als bis zu einem Geständnis vorausgeblickt. Dass plötzlich Francine als Racheengel auf der Bühne erscheinen könnte, wäre ihm im Traum nicht eingefallen. Wie die Nemesis in der griechischen Mythologie, die Göttin des Zorns und der Rache. Eine Verwandlung, die er Francine nie zugetraut hätte.
Lucien gestand sich ein, dass ihm Francine eine Entscheidung abgenommen hatte. Durfte er sie dafür verurteilen? Ganz gewiss nicht. Sie hatte nur das getan, wozu ihm wohl der Mut gefehlt hätte.
Er überlegte, was mit Kusnezows Leiche passiert war. Seine Männer könnten ihn einfach auf dem Dach liegen lassen. Irgendwann würde ihn jemand finden. Ein Techniker der Klimaanlagen zum Beispiel oder ein Schornsteinfeger. In einem zweifellos sehr unansehnlichen Zustand. Die mediterrane Sonne war gnadenlos – auch zu Leichen. Wäre er wirklich Ornithologe, würde er auch die Vögel in Betracht ziehen. Auf jeden Fall würde sich die Polizei schwertun, Kusnezows Identität festzustellen, ebenso den genauen Todeszeitpunkt und erst recht den Tathergang.
Doch wie wahrscheinlich war es, dass Kusnezows Männer ihn einfach liegen ließen? Sie schuldeten ihm einen würdigeren Abschied.
Sich aus dem Staub zu machen, um gleich danach die Polizei zu verständigen, war ebenfalls keine realistische Option. Denn in der Folge würde es zu Ermittlungen kommen. So etwas fürchteten bewaffnete Söldner wie der Teufel das Weihwasser.
Und der Mann mit dem roten Barett? Abgesehen von Kopfschmerzen dürfte es ihm wieder gut gehen. Aber er würde nicht verstehen, wie ihm das hatte passieren können. Die Verletzung seines Egos würde länger nachwirken.
Lucien kam zu der Schlussfolgerung, dass sie Kusnezows Leiche mitgenommen hatten. Vielleicht geschah das sogar genau jetzt mit der einbrechenden Dunkelheit? In den nächsten Tagen oder Wochen würden seine Unterstützer dafür sorgen, dass er eine angemessene Trauerfeier bekam. Und weil er wohl auch als Leiche nicht zurück in seine Heimat durfte, würde er irgendwo in dieser Gegend auf einem Friedhof seine letzte Ruhe finden. Gestorben eines natürlichen Todes. Vielleicht an einem Herzinfarkt, überlegte Lucien. Wie sein Vater … Dann hätten sie zumindest diese Lüge gemeinsam.
Lucien stand auf und ging in die Küche. Er entkorkte eine Flasche Wein und goss sich ein Glas ein. »Obligé aux vivants et aux morts«, zitierte er leise das Familienmotto. Er verstand es immer weniger.
Zurück auf dem Balkon, stellte er sich die Frage, wie es weitergehen sollte. Francine hatte er versprochen, morgen mit ihr zum Familiengrab nach Roquebrune zu fahren. Aber vorher, nahm er sich vor, würde er seinem Onkel Edmond einen Besuch abstatten. Schließlich hatte er eine interessante Neuigkeit für ihn. Auf seine Reaktion war er schon gespannt. Auch hatte er einige dringliche Fragen …