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E s wäre übertrieben zu behaupten, sein Treffen mit Edmond hätte einen harmonischen Ausklang gefunden. Dazu war es, nun ja, zu kontrovers verlaufen. Aber sie hatten sich am Ende ohne wüste Beschimpfungen getrennt. Anlass hätten beide gehabt. Edmond, weil er auf dem Felsvorsprung offenbar wirklich Todesängste ausgestanden hatte. Umgekehrt auch Lucien, weil er jetzt wusste, dass sich sein Onkel durch unbedachte Äußerungen am Tod seines Vaters schuldig gemacht hatte. Edmond war keine Ausrede eingefallen. Zurück auf dem Küstenwanderweg, hatte er, zwar in Sicherheit, aber noch unter Schock, erneut seinen Fehler zugegeben. Allerdings habe er nicht ahnen können, hatte er kurzatmig zu seiner Verteidigung vorgetragen, dass es beim Auftraggeber offenbar eine undichte Stelle gab. Ahnen nicht, hatte Lucien erwidert, aber die Möglichkeit hätte er in Betracht ziehen müssen. Schließlich mache er den Job schon ewig. Jetzt müsse er mit der Schuld leben, seinen Bruder ans Messer geliefert zu haben.

Während sich Lucien dies alles durch den Kopf gehen ließ, saß er auf der Gartenbank unter der Pergola. Hier hatte er erst gestern mit Francine gesprochen. Hier hatte er den Arm um sie gelegt und versucht, sie zu beruhigen. »Es ist vorbei. Alles ist vorbei …«, hatte er gesagt. Und so war es auch.

Blieb die Frage, wie sich Edmond ihm gegenüber in Zukunft verhalten würde. Würde er versuchen, ihn für seine Attacke zu bestrafen? Wie könnte eine solche Strafe aussehen? Viele Möglichkeiten hatte sein Onkel nicht. Vor allem würde er sich seiner Geschäftsgrundlage berauben. Einen anderen Chacarasse gab es nicht, der seine Aufträge erledigen könnte. Faktisch, überlegte Lucien, saß er am längeren Hebel. Kam hinzu, dass sein Onkel ihn mittlerweile als gefährlich einstufte. Edmond glaubte, dass er in Lyon Didier Pascal umgebracht hatte. Beim Journalisten Luigi Zanarella war er kurz davorgestanden, ihn in San Remo unter Wasser zu ziehen. Maxim Kusnezow hatte er in Nizza regelrecht hingerichtet. Und die Aktion mit dem Rollstuhl auf dem Sentier du Littoral hätte auch anders enden können.

Davon zumindest glaubte Lucien ausgehen zu können: Sein Onkel würde ihn fortan mit mehr Respekt behandeln.

Und umgekehrt? Bei ihm hatte Edmond jeden Respekt verloren. Alles sprach dafür, dass er durch seine Unvorsichtigkeit seinen Vater in eine Falle hatte tappen lassen. Dafür konnte er Edmond nicht zur Rechenschaft ziehen. Aber er würde es nie vergessen …

»Was sitzt du hier so dumm herum?«, riss ihn Rosalie aus seinen Gedanken. Er hatte sie nicht kommen hören. Der Springbrunnen hatte ihre Schritte übertönt. »Wolltest du nicht Francine abholen und mit ihr zum Friedhof fahren?«

»Ich brauch nur ein paar Minuten, dann breche ich auf.«

»Aber nicht in dieser zerschlissenen Hose. Und du solltest dir auch ein anständiges Hemd anziehen.«

»Je vais le faire«, sagte er geistesabwesend. »Hatte ich sowieso vor.«

Sie sah ihn zweifelnd an. »Hat dich dein Gespräch mit Edmond so durcheinandergebracht?«

»Mein Gespräch? Ach so, nein. Aber jetzt habe ich einen schwerwiegenden Grund mehr, meinen Onkel nicht zu mögen.«

»Ich hab auch einen Grund«, sagte sie leise.

Er warf ihr einen überraschten Blick zu.

»Erzähl!«

Rosalie schüttelte den Kopf. »Musst du nicht wissen. Ist persönlich und liegt schon ewig zurück.«

Was verstand sie unter persönlich, überlegte Lucien.

»Kannst dich mir ruhig anvertrauen.«

»Es reicht, dass dein Vater davon wusste. Und der Pfarrer in meiner Kirche. Beide leben nicht mehr. Sie haben mein Geheimnis mit ins Grab genommen. Da ist es gut aufgehoben.«

Sein Vater und der Pfarrer wussten davon? Warum gerade die beiden? Lucien schwante, dass Rosalies Grund, Edmond nicht zu mögen, tiefer ging.

Er machte eine einladende Handbewegung. »Komm, setz dich zu mir auf die Bank.«

»Aber ich will nicht darüber reden.«

Trotzdem nahm sie Platz. War das gerade ein Seufzen?

Obwohl sie ihn neugierig gemacht hatte, beschloss er, ihren Wunsch zu respektieren.

»Musst du nicht«, sagte er. Doch würde er sich ihre Andeutung merken. Irgendwann würde er sie dazu bringen, ihm das »Geheimnis« zu verraten.

»Genau genommen habe ich es leichter als du«, stellte sie nach einer Weile fest. »Edmond und ich können uns aus dem Weg gehen …«

War das der Grund, überlegte er, warum ihn sein Onkel partout nicht in der Villa Béatitude besuchen wollte? Weil er dort auf Rosalie treffen würde?

»Aber du kommst von ihm nicht los«, fuhr sie fort. »Genauso wenig, wie es dein Vater geschafft hat. Euch verbindet das Erbe der Chacarasse. Das ist euer Schicksal.«

Eine Stunde später fuhr Lucien mit dem alten Citroën DS nach Monte Carlo. Edmonds Villa in Beaulieu ließ er im wahrsten Sinne des Wortes links liegen. Auf der Basse Corniche ging es über Èze-sur-Mer und Cap d’Ail zum nahe gelegenen Fürstentum Monaco. Von seinem Vater kannte er die Geschichte, dass diese Küstenstraße im 19 .Jahrhundert nur gebaut wurde, um den Glücksspielern eine schnelle Anreise zum Spielcasino in Monte Carlo zu ermöglichen. Weiter oben am Berg verlief die Moyenne Corniche und darüber die Grande Corniche, die schon die alten Römer angelegt hatten. Er dachte an seinen älteren Bruder Raymond, der vor zwei Jahren mit seinem Motorrad auf der kurvigen Route de la Turbie, die von dort nach Monte Carlo führte, tödlich verunglückt war. Wäre das nicht passiert, befände er sich heute in seiner Situation. Oder ganz anders: Raymond hätte anstelle seines Vaters den Auftrag, Kusnezow zu ermorden, übernommen. Dann wäre sein Vater noch am Leben. Raymond aber wahrscheinlich tot, doch das war er sowieso. Machte es Sinn, grübelte Lucien, über solche theoretischen Schicksalswendungen nachzudenken? Natürlich nicht, denn was geschehen war, war geschehen. Das Leben war unumkehrbar.

Die Realität war, dass er jetzt im Auto seines Vaters saß, um Francine abzuholen. In einem gebügelten weißen Hemd und sauberen Jeans. Die Budapester aus Cordovan-Leder hatte Rosalie auf Hochglanz poliert. Im Kofferraum die Blumensträuße. Einen für seinen Vater – und einen zweiten für seine Mutter Laetitia zum Geburtstag.

Warum war er noch nie auf die Idee gekommen, seinem Bruder Blumen hinzulegen? Die Antwort war einfach: Weil sich Jungs keine Blumen schenkten. Dagegen hatte er ihm schon einmal einen Stein auf die Grabplatte gelegt. Er hatte ihn aus den Seealpen von einer Wanderung mitgebracht, die sie früher mal zusammen unternommen hatten. Einige Monate hatte der Stein auf dem Grab gelegen, dann war er plötzlich weg. Tatsächlich dachte er relativ wenig an seinen Bruder, ohne zu wissen, warum. Auch hatte er sich nie genauer für Raymonds Motorradunfall interessiert. Er kannte die Stelle, wo er von der Straße abgekommen war. Makabrerweise ganz in der Nähe von der Haarnadelkurve, die Gracia Patricia von Monaco im September 1982 zum Verhängnis geworden war. Die Fürstin hatte sich damals auf der Fahrt von der Sommerresidenz Roc Agel zurück nach Monte Carlo befunden, war von der Straße abgekommen und mit ihrem alten Rover in die Tiefe gestürzt. Mit im Auto ihre Tochter Stéphanie, die den Unfall mit einer Gehirnerschütterung und einer schweren Wirbelverletzung überlebte. Bis heute rankten sich Gerüchte um dieses Unglück. Die unbewiesenen Spekulationen reichten von der Annahme, nicht die Fürstin, sondern ihre minderjährige Tochter sei gefahren, bis hin zu Verschwörungen oder einem möglichen Anschlag der Mafia. Warum war ihm nie der Gedanke gekommen, auch bei Raymonds Unfall könnte etwas nicht stimmen? Weil er das Leben bis vor Kurzem immer von der leichten Seite genommen und Dinge selten hinterfragt hatte? Weil sein Vater nie eine Andeutung gemacht hatte?

Nach den Ereignissen der letzten Zeit betrachtete Lucien vieles in einem anderen Licht, vor allem zog er manches in Zweifel. Genauso wenig, wie sein Vater an einem Herzinfarkt gestorben war, musste Raymonds Unfall mit dem schweren Motorrad auf einen Fahrfehler zurückzuführen sein. Es stimmte zwar, dass sein Bruder oft sehr schnell unterwegs gewesen war, aber er war auch Rennen gefahren und beherrschte die Maschine perfekt. Warum sollte ausgerechnet er einfach so von der Straße abkommen?

Lucien fasste einen Entschluss: Sobald er die aktuellen Geschehnisse verarbeitet hatte und wieder Ruhe in sein Leben eingekehrt war, würde er sich mit dem »Unfall« seines Bruders beschäftigen – und herausfinden, ob es wirklich einer gewesen war …

Er war so in Gedanken verloren, dass er in Monte Carlo eine Abzweigung übersah. Er musste umdrehen, um zu Francines Apartmenthaus zu gelangen. Sie stand schon vor der Tür und erwartete ihn. Zum ersten Mal seit der Trauerfeier trug sie Schwarz. Ein schwarzes Kostüm, schwarze Nylons und schwarze Pumps.

Sie sah fantastisch aus … Doch sollte er so was nicht denken. Erst recht nicht an einem Tag wie heute.