8. Urlaubsfotos

Karl-Heinz Winterhalter hatte seinen Schlapphut tief ins Gesicht gezogen. Er lag auf der Klappliege vor seinem Wohnwagen und blinzelte durch den schmalen Spalt zwischen Wangenknochen und Hutkrempe hindurch. Die Abendsonne tauchte den Campingplatz in ein rötliches Licht. Es war kurz nach halb sieben.

»Ruhe jetzt endlich!«, brüllte der Familienvater von gegenüber gerade seine drei Kinder an. »Könnt ihr nicht einmal ohne Lärm spielen? Wollt ihr etwa, dass wir vom Campingplatz fliegen? Wenn ihr so weitermacht, geht’s ohne Essen ins Bett!«

Dass er bei seinen Ordnungsrufen selbst einen Dezibelwert erreichte, der weit über dem Grenzwert lag, bemerkte er nicht. Und einen Nutzen hatten seine Brüllattacken ohnehin nicht. Je lauter er wurde, umso lauter schrien auch die Kinder.

Wenn das so weiterging, würde tatsächlich gleich jemand vom Personal vorbeikommen und eine Ermahnung, wenn nicht sogar einen strengen Verweis, aussprechen.

Zum Glück für die Familie hatte sich noch keiner der umliegenden Camper beschwert. Wenn es um die Einhaltung von Ruhe und Ordnung ging, verstand das Management des Campingplatzes nämlich keinen Spaß. Auch, was die Mittagspause anbelangte: Die Poolanlage schloss auf die Sekunde genau um 12 Uhr 30 die Pforten, öffnete erst wieder spätnachmittags.

Selbst Geschirrspülen war zwischen dreizehn und fünfzehn Uhr unter Androhung eines Platzverweises strikt verboten.

Winterhalter war das ganz recht. Denn im Gegensatz zu der klassischen Aufgabenverteilung auf ihrem Bauernhof in Linach (Putzen, Kochen, Abwaschen waren exklusiv Hildes Revier, Hof kehren und technische Reparaturarbeiten fielen in »Karlis« Zuständigkeitsbereich), bestand Hilde im Urlaub auch im Rahmen ihres Extrementspannungsprogramms streng darauf, dass sie zwar weiter das Essen kochte, Winterhalter aber den Abwasch zu erledigen habe. Das war für ihn der Gipfel der langweiligen Urlaubsroutine.

Circa zwei Dutzend Spülbecken reihten sich im Waschhaus aneinander. Und ständig wurde man in Plaudereien oder – wie Winterhalter es nannte – Schwätzereien verwickelt. Nicht, dass der Kommissar grundsätzlich einem Schwatz abgeneigt war. Aber er musste ja nicht gleich mit dem halben Campingplatz bekannt sein. Darum wartete er meistens, bis die Stoßzeiten im Waschhaus vorüber waren. Dann hatte man in der Regel genug Sicherheitsabstand zu den anderen Abspülern.

Karl-Heinz Winterhalter drehte seinen Kopf nach rechts. Der Lärm von gegenüber schien seiner Hilde nicht das Geringste anzuhaben. Sie war auf ihrem Liegestuhl in einen tiefenentspannten Vorabendschlummer gefallen, hatte den Mund weit geöffnet.

Winterhalter schüttelte den Kopf.

Mittags »Faulenzia« am Wohnwagen, danach »Sieschta« am Strand, zwischendurch noch das ein oder andere kurze Schläfchen, abends früh ins Bett, morgens vergleichsweise spät raus (7 Uhr 30 – normalerweise stand Winterhalter um 4 Uhr 30 auf) …

So viel Ruhe war kaum auszuhalten.

Winterhalter begann, über die Frauenleiche am Strand zu grübeln. Er war sich sicher, dass seine Spürnase ihn nicht täuschte, und froh, dass er heute Mittag direkt nach dem Trubel um den kurzzeitig verschwundenen Hummel-Enkel noch einmal zu der am Strand liegenden Toten gegangen war.

Zwar hatte eine innere Stimme, die übrigens der von Hilde sehr ähnlich war, ihn aufgefordert, das zu unterlassen. Aber er hatte nicht anders gekonnt. Und die Flecken, die die Frau seitlich im Rücken- und Gesäßbereich aufwies, hatten ihn elektrisiert.

Der kurz nach ihm eintreffende Arzt, der den Tod der Frau am Strand festgestellt und die Leichenschau durchgeführt hatte, war allerdings auf seine Vorstellung »Winterhalter, Bolizia Criminale Tedesco« nicht im Geringsten eingegangen. Winterhalter, der sich rühmte, die besten Augen seiner Dienststelle zu haben, und auch mit Anfang fünfzig noch keine Brille trug, hatte das Protokoll des Arztes im Vorbeigehen gescannt. Obwohl er nur ein paar Brocken Italienisch konnte, war ihm die Todesursache »colpo di calore« sofort ins Auge gestochen.

»Schauet Sie mol«, hatte Winterhalter versucht, den Mediziner auf die Leichenflecken, die er inzwischen eindeutig identifiziert hatte, aufmerksam zu machen.

»Via, via«, hatte der Arzt kopfschüttelnd gesagt und ihn weggeschickt, als er versucht hatte zu demonstrieren, dass die Leichenflecken nicht mehr wegdrückbar waren.

Winterhalter war über die schwierige Verständigung ein »Heiland noch e’mol. So än Schießdreck« rausgerutscht, was ihm wiederum ein paar abschätzige Blicke der immer noch umstehenden Gaffer eingebracht hatte.

Und dann hatte er instinktiv seine Fotokamera geholt.

Die Schnappschüsse waren nicht gerade preisverdächtig, zumal er sie möglichst unauffällig hatte machen müssen. So, als würde er das Panorama fotografieren, das hinter dem Leichenfundort lag. Als die Bestatter die Leiche auf die Trage verladen hatten, waren die auf breiter Fläche verteilten violetten Leichenflecken allerdings noch besser zu erkennen gewesen. Winterhalter hatte noch ein paar Mal auf den Auslöser gedrückt. Er war nun sicher gewesen, dass die Frau aufgrund der massiven Leichenflecken schon mindestens zehn Stunden tot war, der Tod also mitten in der Nacht eingetreten sein musste.

Dass nach der Leichenschau weit und breit keine italienische Polizei zu sehen war, seine provisorischen Absperrmaßnahmen demnach praktisch umsonst gewesen waren, das hatte Karl-Heinz Winterhalter nicht nur geärgert, sondern nachhaltig beunruhigt. »Colpo di calore« laut Wörterbuch ein Hitzschlag – war seines Erachtens nach als Todesursache so gut wie ausgeschlossen.

Der Arzt war auf dem Holzweg. Nur hatte es Winterhalter aufgrund der Sprachbarriere leider nicht geschafft, ihm das deutlich zu machen.

Auch wenn er hier außer Dienst war, er musste rasch handeln. Aber wie?

Er hatte keinerlei Befugnis, als deutscher Kommissar in ein italienisches Verfahren einzugreifen. Klar, er könnte zur örtlichen Polizei gehen und die Kollegen auf die Unstimmigkeiten aufmerksam machen. Aber würden sie ihn dort überhaupt verstehen? Verstehen wollen?

Sollte er das deutsche Konsulat in Venedig informieren? Oder vielleicht am besten gleich das Bundeskriminalamt? Das hatte doch italienische Kontaktleute, die sich in internationale Kriminalfälle einschalten konnten.

Aber dafür musste die Sache wirklich wasserdicht sein. Sonst würde er sich blamieren.

Zunächst musste er eine zweite Fachmeinung in Sachen Leichenschau einholen. Eine vertrauliche. Denn bisher waren seine Zweifel nicht mehr als eine Hypothese.

Er würde die Fotos einem anderen Experten schicken.

Seinem Kollegen Claas Thomsen in seiner Dienststelle vielleicht?

Winterhalter verwarf den Gedanken, bevor er ihn zu Ende gedacht hatte.

Zu Thomsen hatte er alles andere als ein Vertrauensverhältnis. Der ließ keine Gelegenheit aus, ihm eins auszuwischen.

Abgesehen davon, dass der aus Norddeutschland stammende Kriminalhauptkommissar aufgrund seiner Schmutzphobie mit Winterhalters Nebenerwerb, seinem Bauernhof, ein massives Problem hatte (»Sie riechen heute ja schon wieder nach Stall«, lautete eine gängige Begrüßung im Büro. »Haben Sie keine Badewanne?«). Auch Winterhalters mitunter etwas hemdsärmeligen Ermittlungsmethoden mochte Thomsen nicht. Wobei er im Grunde ohnehin nur die eigenen Methoden akzeptierte.

Sollte Winterhalter vielleicht seine Kripochefin um eine zweite Meinung bitten? Vermutlich würde ihn Frau Bergmann aber für verrückt erklären, wenn er ihr Leichenfotos aus dem Urlaub schickte. Außerdem war sie ohnehin sehr beschäftigt – vor allem damit, sich als neue Polizeipräsidentin ins Gespräch zu bringen. Und auf dem Weg dorthin war es ihr sicher nicht genehm, wenn sich einer ihrer Untergebenen in die Arbeit der italienischen Polizei einmischte.

Dörr, schoss es Winterhalter durch den Kopf. Eric-Carsten Dörr. Mit dem Freiburger Gerichtsmediziner, der in Villingen wohnte, hatte er schon jahrelang engen Kontakt. Dörr freute sich immer unbotmäßig, wenn Winterhalter ihm seinen selbst gemachten Schwarzwälder Schinkenspeck zu Weihnachten schickte. Für einen solchen als Honorar würde er sich die Fotos sicher gerne anschauen.

Nur, wie konnte er ihm die Bilder zukommen lassen? Und vor allem so, dass Hilde nichts davon bemerkte. Zudem: Er musste schnell handeln, noch bevor die Leiche nach Deutschland überführt wurde.

Über diese Gedanken fiel Winterhalter in einen leichten Schlummer. Er begann zu träumen.

Von seinen Kühen, die sich im Stall drängten und wegen ihrer prallen Euter schrien.

Ich muss sie endlich melken, dachte sich Winterhalter.

Doch gerade, als er damit anfangen wollte, entdeckte er eine Frauenhand, die aus dem Heu ragte, das die Kühe in sich hineinfraßen. Er schob das Heu beiseite und legte eine Leiche frei. Es war die Frau vom Strand.

Sie sah noch entsetzlicher aus und war von Leichenflecken komplett übersät. Da erschien plötzlich seine Ehefrau Hilde, die Fäuste geballt und in die Hüften gestemmt.

»Karli, häsch du die Frau ermordet?«, fragte sie streng.

»Karli«, rief Hilde noch einmal. Doch diesmal war es nicht die Hilde aus dem Traum, es war die echte, leibhaftige, viel positiver gestimmte Hilde, die gerade an der Digitalkamera hantierte und von ihrem Mann ein abendliches Foto schießen wollte.

»Karli, nimm doch mol die blöde Kapp ab und lächel in die Kamera«, sagte sie. »Du siehsch g’rad so schön entspannt aus.«

»O Hilde, jetzt lass des doch bitte!«, reagierte Winterhalter unwirsch.

»Jetzt sei doch nit so«, gab sich Hilde beharrlich und drückte ein paarmal auf den Auslöser. Dann setzte sie sich wieder in ihre Klappliege.

»Ha, mir habet schon echt ä paar schöne Urlaubsfotos g’macht«, sagte sie und begann, die gespeicherten Bilder in der Fotogalerie an sich vorbeiziehen zu lassen. Karli beim Vorzeltaufbau, Hilde am Campingkocher, Karli beim Speckvesper, Hilde am Strand, blauviolette Flecken …

Moment!

»Karliii!« Hilde Winterhalter zog das I so lang, dass es dem Angesprochenen in den Ohren fast schmerzte.

»Jooo«, sagte Winterhalter betont gemütlich und suchte im Geiste bereits nach einer guten Ausrede.

»Was isch des für ä Frau auf dem Foto? Kannsch du mir des bitte erkläre?«

»Ah, die Fotos. Die hät der Herr Hummel g’macht. Da hab ich nix mit zum tun«, begann Winterhalter herumzueiern.

»De Herr Hummel?«, sagte Hilde misstrauisch. »Und des isch die Dote vom Strand, oder?«

»Ich glaub schon«, antwortete Winterhalter ganz beiläufig.

»Warum wollt de Herr Hummel die fotografiere? Und warum mit unserem Foto?«, setzte Hilde das Verhör fort.

»Er hät seine Kamera nit dabei g’habt. Ich weiß nit, warum. Wahrscheinlich für de Riesle, den Reporter vom Kurier. Des isch doch sein Kumpel«, geriet Winterhalter weiter ins Schlingern.

»Und des soll ich dir glaube? Die Fotos von dere Leiche zwische unsere Urlaubsfotos: Also, des geht jo gar nit!«, schimpfte Hilde nun. »Dass du nit ei’mol entspanne kannsch. Selbscht hier im Urlaub verfolge uns die Leiche.«

»Hilde?«, schaltete sich nun die neugierige Nachbarin von gegenüber ein. Sie stammte aus dem Nachbardorf Hammereisenbach und war dafür bekannt, ihre Nase in alle fremden Angelegenheiten zu stecken. Tauchsieder nannte Winterhalter sie deshalb. »Wa isch denn bei euch los?«

»Ha, de Karli wieder …«

»Nix«, entgegnete Winterhalter unwirsch. »Nix isch!«