12. Durchsage – die zweite!

»Signor Karl-Einz Winteralter – Signor Karl-Einz Winteralter bitte an die Telefon – Herr Winteralter bitte an Telefon in Rezeption.«

Der Kommissar hatte ein klassisches Déjà-vu.

Zwei Stunden war es gerade her, dass der Lautsprecher ihn letztmalig aufgefordert hatte, dorthin zu kommen.

Nun würde wohl auch der letzte Campingplatzbesucher mitbekommen haben, dass bei ihm etwas nicht stimmte. Mindestens genauso beunruhigend war jedoch die Reaktion seiner Frau. Seiner Hilde, mit der er nächstes Jahr Silberhochzeit feiern wollte und die sich mehr als elf Monate im Jahr als unerschütterlicher Fels in der Bauernhofbrandung erwies. In den drei Wochen, in denen sie im Hochsommer in Italien residierten, konnte sie solche Störungen allerdings überhaupt nicht gebrauchen.

»Karli«, drohte sie. »Wenn des wieder der Thomsen isch, dann sprech ICH mit ihm!«

Und das sagte Hilde nicht nur einfach so, das bekräftigte sie mit ihrem energischsten Gesichtsausdruck – vor dem sogar die Kühe zu Hause in Linach Angst hatten.

Sie packte also ihren Karl-Heinz und stapfte mit ihm entlang der von Pinien gesäumten Campingplatzstraßen in Richtung Rezeption.

»Hilde, ich hab ihm g’sagt, dass ich hier nit ermittel«, beschwor Winterhalter seine Gattin.

Hilde ging voraus. Deutlich voraus.

Ihnen begegneten weniger Menschen als Karl-Heinz bei seinem ersten Gang heute Morgen. Die meisten waren wohl schon am Strand. Aber diejenigen Schwarzwälder, die das Ehepaar Winterhalter nun ansprachen, lächelten nicht mehr. Sie waren sich sicher, dass da etwas ganz Schlimmes passiert sein musste.

Zweimal an einem Morgen ausgerufen werden? Und das im Zeitalter von WLAN?

»Ich drück die Daume«, meinte einer, obwohl er keine Ahnung haben konnte, was anstand.

»Jetzt wart doch mol, Hilde«, beschwichtigte Winterhalter seine Frau, kurz bevor sie die Rezeption erreichten.

Aber deren Laune war mit jedem Schritt schlechter geworden. Sie hasse solche Einmischungen in ihren Urlaub, blaffte sie ihren Mann an. Aber er sei ja selbst schuld daran – viel zu gutmütig und ein Spielball dieses »Fischkopfs«, wie sie Thomsen tatsächlich in ihrer Erregung nannte.

Sie entriss dem Rezeptionsmitarbeiter den Hörer und ließ im tiefsten Schwarzwälderisch Dampf ab:

»Höret Sie mol, Herr Thomsen! Des isch ä ausg’machte Frechheit. Nur weil Sie kein Privatlebe habet, müsset Sie nit denke, dass mein Mann auch im Urlaub nur für Sie do isch. Ab jetzt isch Schluss – auch mit diesem blöde Dodesfall hier. Mein Mann isch nit zuschtändig, und des wird er auch nit sei. Also gehet Sie jemand anderem uff de Wecker, aber nit …«

Winterhalter schämte sich. Umso mehr war es für ihn eine große Erleichterung, als seine Frau mit verdutztem Gesichtsausdruck und einige Dezibel leiser sagte: »Des isch mir jetzt aber ä bissle … Sie müsset schon entschuldige. Des muss auch an de Sonn hier liege, dass ich … Verstehet Sie? Aber isch’s denn wirklich so dringend? … Ach, er hat Sie …? Oh … Kleine Moment, bitte.«

Dann wandte sie sich wieder streng ihrem Mann zu: »Es isch für dich …«

Es war sein Kollege Dörr – der Gerichtsmediziner, dem er noch am gestrigen Abend die Fotos von der Toten zugemailt hatte. Dem iPad von Martina Hummel sei Dank. Sie hatte Winterhalter am späteren Abend an das Gerät herangelassen – im Gegensatz zu Hubertus …

Kollege Dörr war wirklich fix. Winterhalter hatte erst in zwei, drei Tagen mit einer Reaktion gerechnet.

Er hatte ihm die Telefonnummer des Campingplatzes mitgeschickt, weil er vermeiden wollte, dass die brisanten Informationen auf dem Rechner der Familie Hummel landeten. Außerdem gab es ja vielleicht die eine oder andere Nachfrage. Und die gab es tatsächlich …

»Nit natürliche Todesursach isch auch deiner Meinung nach eindeutig?«, fragte Winterhalter, während seine Frau sich schon wieder ein bisschen weniger schämte und misstrauisch bemerkte, dass es offenbar tatsächlich um die Tote am Strand ging.

Die Tote im Urlaub.

In ihrem Urlaub.

Die Tote, die ihren Mann eigentlich gar nichts anzugehen hatte.

»Jo, die Leiche’flecke hab ich auch g’sehe, klar«, meinte Winterhalter.

»Wie? Einstiche? In de rechte Ellenbeuge? Nei, hab ich nit g’sehe. Es war ja fast keine Zeit. Und des musste unauffällig vonstattegehe. Dem einheimische Arzt war des natürlich nit so recht … Aber du hasch des auf den Bildern beim Heranzoomen erkannt? Reschpekt! Ich vergrößer des Foto au noch mol. Ich hab hier aber halt nit die technische Mittel wie du«, hörte Frau Winterhalter ihren Mann sagen. Sie sah sich verstohlen um, ob das Telefongespräch noch weitere Zeugen hatte. Sie kam auf drei – und alle drei schienen interessiert. Die Behauptung, es wäre nur um eine Tierschlachtung auf dem heimischen Bauernhof gegangen, konnten sie sich nun wohl sparen …

»War die Dote vielleicht vorher beim Arzt und hät dort ä Spritze gekriegt?«, fragte Winterhalter den Gerichtsmediziner.

»Aha«, machte er kurz darauf. »Wär än schlechter Arzt g’wese. Verstehe. Hm.«

Frau Winterhalters Miene verfinsterte sich weiter. Ihr Mann war drauf und dran, diesen Urlaub vollends zu ruinieren. Das nun folgende Wort trug nicht gerade zur Entspannung bei:

»Rauschgift?«, sagte Winterhalter. Die Rezeptionsmitarbeiter schienen dabei aufzuschrecken. Winterhalter war so gebannt, dass er kaum bemerkte, wie viele Ohren ihm zuhörten. »Interessant. Du bisch relativ sicher, dass aufgrund der Farbe der Leiche’flecke Drogen infrage kommen? Hm.«

Winterhalter blickte in die entgeisterten Gesichter der Angestellten und bemühte sich, in gedämpftem Ton weiterzu- reden. Aber im bungalowähnlichen Rezeptionsgebäude mit seinen kahlen Wänden hallte es wie im opulenten Büro von Frau Bergmann, der Kripochefin.

»Wie – noch was?«, staunte Winterhalter dann. »Schleifspure im Wade’bereich? Wie hasch du die entdeckt? … Supervergrößerung? Die technische Möglichkeite hab ich mit meiner einfache Kamera natürlich nit … Interessant. Du bisch echt än Fuchs … Mindestens zehn Stunden tot g’wese? Hab ich auch vermutet. Jo, teilweise Leichenstarre – wie ich dir g’schrieben hatte. Gut, dann werd ich mol schaue, wie ich hier weiter vorgeh. Dacht ich mir doch, dass mein Riecher mich nit täuscht. Danke, ich schuld dir än Speck …«

Aber der Gerichtsmediziner hatte noch eine Überraschung für Winterhalter:

»Was? Die Dote heißt gar nit so?«

Der Kommissar bekam nun vollends entsetzte Blicke der Rezeptionsmitarbeiter zugeworfen. »Der Riesle isch wirklich des Allerletzschte«, murmelte er dann.

»Vertritt mich eigentlich d’ Schwarzwaldmarie in Villingen? Die kummt mit dem Thomsen auch nit klar, oder?«

Offenbar kam aus dem Hörer eine Bestätigung, denn Winterhalter lächelte.

Aber nicht mehr lange.

»Jetzt reicht’s«, entschied nämlich seine Frau, woraufhin der Kommissar wusste, was die Stunde geschlagen hatte, und sich umgehend verabschiedete.